Ich denke mal, dass du auch bald mit dem Buch durch bist, deshalb verwende ich keine Spoiler.
Es dauert noch; ich begleite Marcel derzeit durch Venedig. Wieder etwas, das Proust selbst mit seiner Mutter machte. Er hat so viel aus seinem Leben in der "Recherche" untergebracht, dass man fast von einer Autobiografie sprechen könnte. Seine Schilderungen der Stadt waren wieder bemerkenswert schön. Es ist leicht, sich hineinzuversetzen. Jedesmal, wenn ich solche Beschreibungen lese, bedaure ich, dass sie so selten vorkommen. Wunderschön ist die Entdeckungsreise durch die kleinen Kanäle mit dem Blick für Kleinigkeiten und der Gabe, die Szenerie zum Leben zu erwecken. Seine Vergleiche mit Combray wecken in mir den Verdacht, dass er Heimweh hat, und wenn schon nicht nach dem Ort selbst, dann vielleicht nach der vergleichsweise unbeschwerten Zeit, die er dort erlebte.
Ein verstümmeltes Telegramm lässt in glauben, Albertine sei gar nicht tot und möchte wieder mit ihm Kontakt aufnehmen.
Darauf warte ich schon lange. Ich habe mich schon öfter darüber gewundert, dass er bei seinem Misstrauen noch nicht früher auf den Gedanken gekommen ist, sie könne noch leben. Ich glaube, das habe ich oben schon mal geschrieben. Bei dem Telegramm bin ich übrigens noch nicht angekommen.
Für mich ist die verlorene Zeit die, die durch das Vergessen verschwindet oder in der Erinnerung verändert wird. Denn ein Mensch blickt ja immer anders auf eine zurückliegende Zeit, je nachdem in welcher Verfassung er sich gerade befindet. Außerdem erinnert man sich ja nicht objektiv an alles so, wie es sich tatsächlich zugetragen hat. Eine Zeit, die vergangen ist, kann also nie mehr so auferstehen, wie sie tatsächlich war.
Ja, das hängt auch nach meiner Erfahrung von der persönlichen Einstellung eines Menschen ab. Wer so pessimistisch eingestellt ist, wie mir Marcel oft erscheint, muss ja fast diese Zeit als verloren betrachten. Da er verlassen wurde, konnte er selbst nicht aktiv werden, sondern musste das Handeln von Albertine hinnehmen. Das zieht sich wie ein roter Faden durch seine Empfindungen und führt dazu, dass er die Beziehung auch negativer einschätzt. So ergibt das für mich dann auch einen Sinn.
Wobei, wer ist die wirkliche Albertine? Denn Marcel kennt sie ja auch nur aus seiner Sicht, kennt also nur einen Bruchteil dieses Menschen.
Und muss dann auch noch solche Enthüllungen wie die von Andrée richtig einschätzen. Er hat es schon nicht leicht. Je länger er darüber grübelt, desto weniger blickt er durch.