Stefan Brijs - Der Engelmacher

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    Wolfheim, gelegen im Dreiländereck, ganz in der Nähe von Aachen: Nach zwanzig Jahren Abwesenheit kehrt Dr. Victor Hoppe in seinen Geburtsort zurück. Misstrauen schlägt ihm entgegen. Die Dorfbewohner wundern sich vor allem über die drei Babys, die er dabei hat: Es sind offensichtlich Drillinge, die Jungen gleichen sich wie ein Ei dem anderen, und alle sind von einer Hasenscharte entstellt – eine Fehlbildung, die bereits Victor von seinem Vater geerbt hatte und die ihm seinerzeit das Leben schwer machte. Denn die Einheimischen sind abergläubisch. Auch jetzt machen Gerüchte die Runde. Und tatsächlich drängen sich Fragen auf: Wo ist die Mutter? Was will Victor nach all den Jahren in Wolfheim? Warum versteckt er die Kinder? Doch als der Doktor einem Jungen aus dem Dorf das Leben rettet, ändert sich die Lage dramatisch und seine Popularität steigt. Man beginnt sich mit ihm zu arrangieren, auch wenn er nach wie vor wunderlich erscheint. Man fasst sogar Zutrauen zu ihm. Bis die Kinderfrau der Drillinge, eine ehemalige Lehrerin aus dem Dorf, eines plötzlichen Todes stirbt …



    "Gott gibt und Gott nimmt, Victor. Aber nicht immer. Manchmal müssen wir es selbst tun." Dieser Ausspruch verfolgt Victor sein Leben lang
    .
    Viktor wird nach seiner Geburt von den Eltern in eine Anstalt für Geisteskranke gegeben, da die Mutter ihn wegen seiner Hasenscharte ablehnt und in ihm das Böse sieht. Nachdem man ihn als debil eingestuft hat, ist auch der Vater bereit dazu.
    Die nächsten Jahre verbringt Viktor in dem von Nonnen geführten Haus. Erst als eine junge Novizin sich seiner annimmt, kann er sich etwas öffnen. Bis dahin hat er weder ein Wort gesprochen, noch irgendeine Reaktion gezeigt. Leider ist der Junge nicht bereit, diese Fortschritte mit anderen zu teilen. Zwar bringt ihn seine hohe Intelligenz, seine rasche Auffassungsgabe doch wieder nach Hause, doch Viktor, der Züge des Asperger-Syndroms zeigt, bleibt weiter verschlossen. Sein Vater schickt ihn bald auf ein Internat, wo er sich uneingeschränkt seinen Studien hingibt. Auch diese Anstalt ist von der Kirche geführt. Viktor sieht sich bald als Gegenspieler von Gott, denn er will wie Jesus Gutes tun und nicht Böses wie er es im Alten Testament von Gott gelesen und gehört hat.


    So wird Viktor ein bedeutender Arzt und kehrt nach Jahren in sein Elternhaus zurück. Bei sich hat er seine Drillinge, die wie er und sein Vater eine Hasenscharte haben. Anfangs lehnen ihn die Dörfler ab, besonders da noch der alte Priester im Ort ist. Doch dann kommt es zur Wende. Viktor rettet ein Leben und wird fortan, wenn auch noch widerwillig, akzeptiert.


    Nachdem er zahlreiche Hilfsangebote zurückgewiesen hat, stellt er ein Kindermädchen für die mutterlosen Jungen ein. Trotz allem bleiben die Kinder abgeschirmt. Was ist nicht in Ordnung mit ihnen, fragen sich die Menschen. Bald bildet man sich darüber eine Meinung und fühlt sich dem Doktor verbunden, der inzwischen seine Praxis im Dorf eröffnet hat.


    Was aber verbirgt sich wirklich hinter den Drillingen und ihrem Vater?




    Der Engelmacher hat eine Faszination auf mich ausgeübt, die ich nur schwer beschreiben kann. In manchen Abschnitten fiel mir das Vorankommen direkt schwer, da mich die Handlung abgestoßen hat und ich fragte mich, ob man die Geschichte nicht auch weniger brutal hätte schreiben können. Nachdem ich das Buch beendet hatte, war ich damit ausgesöhnt. Manches wirkt einfach besser nach, wenn man es drastisch darstellt. Und das ist Stefan Brijs nun wirklich gelungen. Bis zum Ende!


    Im Mittelpunkt steht Viktor Hoppe. Von seiner Geburt an begleitet man ihn durch seine einzelnen Lebensstationen. Viktor ist entstellt, doch hochintelligent. Durch ein wahrscheinliches Asperger-Syndrom nimmt er noch zusätzlich eine Sonderstellung ein. Ihm fehlt jegliche Empathie.
    Seine frühe Prägung durch die Religion, die von anfänglicher Besessenheit bis zur späteren teilweisen Ablehnung dieses Weltbildes reicht, formt Viktors Geist in einer Weise, die verständlich beschrieben wird.


    Was Viktor denkt und tut, erscheint ihm folgerichtig. Allerdings sind die Hintergründe für seine Entscheidungen oft nur für ihn logisch nachvollziehbar. Nach dem Studium des AT kam er zu dem Schluss, dass Gott das Böse ist. Nicht Viktor, wie seine Mutter und auch der Priester glaubten. Denn Viktor sieht sein Vorbild in einer anderen Gestalt. Und so beschließt er Gottes Fehler zu berichtigen.


    Anfangs ist nicht klar, was mit den Drillingen los ist. Wo ihre Mutter ist. Warum sie abgeschirmt werden. Je mehr man dahinter blickt, desto abstoßender und gleichzeitig faszinierender wird die Geschichte.


    Viktor ist Wissenschaftler und geht in seiner Arbeit vollkommen auf. Es treibt ihn immer weiter voran. Er sieht für sich keine Grenzen. Das Unmögliche wurde nur nicht richtig angegangen. Er lässt sich nicht dazwischen reden. Und so forscht und experimentiert er schrankenlos. Stefan Brijs gelingt es die Grundlagen dieser Forschung in die Geschichte einzubauen ohne den Leser damit zu überfordern. Als Leser fragt man sich jedoch, muss es nicht irgendwo Grenzen geben. Ist nicht irgendwo endgültig Schluss und man darf der Natur nicht weiter ins Handwerk pfuschen?
    Gut, einiges, was Viktor so treibt ist heute nichts undenkbares mehr, denn die Geschichte spielt in den 80er Jahren. Daher sind uns Begriffe wie Retorte oder klonen nicht mehr fremd. Die Embryologie ruft trotz allem in den meisten Menschen ein ungutes Gefühl hervor. Wenn es zum Wohle des Kindes ist, denkt man ganz anders darüber, als über undurchschaubare Forschung am Embryonen. Doch was ist ethisch vertretbar?


    Sicher ist die Geschichte Viktors etwas überzogen dargestellt, auch die Bewohner des Dorfes kamen mir etwas "veraltet" vor, doch abgesehen von Viktors Wesen, ist es denkbar, dass ein Mensch so fanatisch in seiner Arbeit aufgeht, dass es ihm nur noch um das Machbare oder den Ruhm dafür geht. Wer weiß, was in den Laboren weltweit für Forschungen getrieben werden.


    Ein beklemmender Thriller, der viel Diskussionspotential bietet.



    5ratten

  • Ich war zunächst etwas verdutzt, "Der Engelmacher" in der Rubrik "Krimis und Thriller" wiederzufinden, denn meiner Ansicht nach könnte diese Zuordnung falsche Erwartungen wecken.
    Auch der Klappentext ist etwas irreführend, denn neben dem Handlungsstrang um Dr.Victor Hoppes Rückkehr nach Wolfheim sind immer wieder Rückblicke in die Vergangenheit eingeflochten, die Victors freud- und lieblose Kindheit näher beleuchten.
    Hineingeboren in ein religiöses, restriktives Umfeld wird Victor infolge von seinen äußeren Auffälligkeiten (Gaumenspalte, rötliche Haare) und seiner Weigerung zu sprechen für debil und "vom Bösen besessen" erklärt. Von den eigenen Eltern wird er in eine von Klarissen geführte Heilanstalt abgeschoben, wo er täglich neuen Demütigungen ausgesetzt ist.
    Erst eine junge Schwester erkennt Victors Fähigkeiten - heute würde bei ihm wohl Asperger-Autismus diagnostiziert werden - und übt anhand der Bibel heimlich Lesen und Schreiben mit ihm, wobei er schnell für sein Alter erstaunliche Fortschritte macht. Schwester Marthes Bemühungen werden allerdings von der Vorsteherin der Anstalt entdeckt und unterbunden, weshalb Schwester Marthe Kontakt mit Victors Vater aufnimmt und ihm klarmacht, dass Victor keineswegs geistesschwach ist. Tatsächlich holt Victors Vater den Jungen zurück zu sich, allerdings ist es der Beginn einer ambivalenten, von Schuldgefühlen geprägten Beziehung.


    Durch Victors ganzes Leben zieht sich ein erschreckendes, verzerrtes Gottesbild: Gott/Vater als jemand, der ihm das Leben schwer macht und ihn davon abhalten will, seiner Bestimmung zu folgen und Gutes zu tun. Victor identifiziert sich komplett mit Jesus bzw. Jesus, wie er ihn sieht: Unverstanden von den Menschen, denen er Gutes tun will und verraten und verlassen vom eigenen Vater.
    Victor Hoppe ist unfähig, in Beziehung zu seinen Mitmenschen zu treten und Zwischentöne akzeptieren zu können; in seinem leben gibt es lediglich die Unterscheidung in "Gut" und "Böse". Sein Drang, "Gutes zu tun" und gegen die Allmacht Gottes anzutreten führt en erwachsenen Victor schließlich dazu, mit Embryonen - anfänglich von Mäusen, bald aber auch von Menschen - zu experimentieren.


    Im Jahr 1989 kehrt er schließlich in seinen Geburtsort zurück, um die ehemalige Arztpraxis seines verstorbenen Vaters zu übernehmen. Im Schlepptau hat er drei Babys, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen und durch Haarfarbe und Gaumenspalte ihrem Vater gleichen. Das offensichtliche Fehlen einer Mutter sowie das zurückgezogene Leben des Doktors führen schnell zu allerhand Spekulationen im Dorf. Eine ehemalige Lehrerin wird als Kindermädchen eingestellt und bekommt näheren Einblick in den ungewöhnlichen Haushalt. Je näher sie jedoch dem Geheimnis um die Drillinge kommt, desto gefährlicher wird es für sie selbst....


    "Der Engelmacher" ist ein Buch, dessen Spannung sich langsam aufbaut. Der Leser erfährt nach und nach Bruchstücke aus Victor Hoppes Leben mit den Drillingen, aus seiner Kindheit und seinen medizinischen Experimenten, dennoch dauert es recht lange, bis man sich überhaupt ein Bild vom Geschehen machen kann und eine Idee entwickelt, was es mit den seltsamen Kindern auf sich haben könnte. Wie die neugierigen, etwas beschränkt erscheinenden Dorfbewohner verfolgt man gespannt die spärlichen Informationen über den Doktor, der einem als Leser fremd bleibt, obwohl gerade seine verpfuschte Kindheit mich sehr berührt hat.


    Fazit:
    Stefan Brijs' Roman war für mich weniger ein Krimi oder Thriller als vielmehr das faszinierende Psychogramm eines Mannes, der immer stärker den eigenen Wahnideen verfällt und andere Menschen lediglich als Versuchsobjekte ansieht sowie seine medizinische Tätigkeit als Kampf gegen das, was er als "das Böse" identifiziert hat: Gott, den allmächtigen Übervater.
    "Der Engelmacher" zeigt auf beklemmende Weise die Auswirkungen von Fanatismus jeglicher Art: Der religiöse Fanatismus, der dafür verantwortlich ist, dass Victor als Kleinkind in einer Heilanstalt landet sowie Victos eigener fanatischer (Aber-)Glaube. Couragierte Menschen, die dagegen angehen wie Schwester Marthe oder die Kinderfrau der Drillinge bezahlen diesen Einsatz schwer.
    Wer hier keinen "typischen" Krimi erwartet, wird mit einem Buch belohnt, das beim Lesen trotz seiner distanzierten Erzählweise zunehmend erschüttert und noch länger nachwirkt. Anfangs zog mich die etwas morbide und schauerliche Stimmung um Dr.Hoppe und die seltsamen Drillinge in den Bann, später fand ich es faszinierend, dass der Leser hier unweigerlich mit seinen eigenen Vorstellungen über das, was "Gut" und "Böse" ist konfrontiert wird. Dazu gehört für mich zum Beispiel auch die Frage, wie es moralisch zu bewerten ist, wenn gute Absichten zu schlimmen Ergebnissen führen. Auf jeden Fall ein Buch, das viel Diskussionsstoff birgt!
    Ich vergebe
    4ratten


  • Ich war zunächst etwas verdutzt, "Der Engelmacher" in der Rubrik "Krimis und Thriller" wiederzufinden, denn meiner Ansicht nach könnte diese Zuordnung falsche Erwartungen wecken.


    Wo würdest du es einordnen?

    LG, Dani


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  • Wenn nicht schon ein Thread vorhanden gewesen wäre, hätte ich es vermutlich unter "Gegenwartsliteratur" einsortiert. Abgesehen davon, dass es - wie schon im Klappentext enthüllt - einen ungeklärten Todesfall gibt, geht es stärker um moralische Fragen wie "Wie weit darf die Medizin gehen? Sollte alles, was technisch machbar ist, auch erlaubt sein?" .
    Der Todesfall hat auch seine Rolle in der Geschichte, ist aber nur ein Puzzlestück unter vielen anderen. Für mich stand der Doktor mit seiner Biografie stärker im Vordergrund als alles andere. :winken:

  • Ein typischer Krimi/Thriller ist "Der Engelmacher" in meinen Augen auch nicht, aber er wurde als Thriller beworben und auch in der Buchhandlung, in der ich das Buch kaufte, in dieser Abteilung geführt. Daher habe ich damals meinen Beitrag hier eingestellt.

  • Das würde auch zum Klappentext passen. Anhand der Beschreibung dort hatte ich mir eigentlich ein ganz anderes Buch vorgestellt, aber ich fand es trotzdem fesselnd und stellenweise sogar ein bisschen schaurig.