Elizabeth Gaskell – Frauen und Töchter
(Wives and Daughters: An Everyday Story, 1865)
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England in den 1830er Jahren. Landarzt Gibson, ein Witwer im besten Alter, hat ein Problem: Einer seiner beiden Gehilfen, die bei ihm im Haus leben, hat sich in Gibsons sechzehnjährige Tochter Molly verliebt. Da Gibson viel unterwegs ist, muss eine angemessene Anstandsperson her. Die beste Lösung scheint eine neue Ehe zu sein. Eine passende Kandidatin wäre Mrs Kirkpatrick, die frühere Gouvernante einer Adelsfamilie von einem nahe gelegenen Gut. Mrs Kirkpatrick, die ebenfalls eine Tochter in Mollys Alter versorgen muss, kommt dieses Arrangement mit dem angesehenen Arzt sehr gelegen. Nun könnten alle zufrieden sein, doch keiner hat mit dem Wirbel gerechnet, der bald auf die Familie zukommt.
Die Frauen stehen eindeutig im Mittelpunkt der Handlung und glänzen durch ihre facettenreichen Charaktereigenschaften. Dagegen werden die Männer fast ein bisschen zu sehr zu Statisten degradiert. Manche von ihnen hätten durchaus mehr Beachtung verdient. Das Stammpersonal ist überschaubar und wird mit der gebührenden Ausführlichkeit eingeführt, so dass sich von jeder Familie ein lebendiges Bild einprägt, bevor zur nächsten übergegangen wird. Die wichtigsten Personen werden anschaulich porträtiert und erleben eine nachvollziehbare Entwicklung. Als herausstechende Charaktere brillieren Mrs Gibson, die ihre Meinung so häufig ändert und anpasst wie ein Chamäleon seine Farbe, und dadurch immer wieder für ein Schmunzeln sorgt, sowie ihre Tochter Cynthia, die ohne über Folgen nachzudenken instinktiv zu kokettieren beginnt, sobald sich ein attraktiver Mann in ihrer Nähe befindet. Der Roman lebt besonders durch diese beiden. Die durchgehend präsente Molly erscheint daneben eher zurückhaltend, ist aber das wichtige Bindeglied zwischen den Bürgerlichen und den Adeligen. Es gäbe noch viel zu bemerken über die individuellen Persönlichkeiten, die außer den genannten eine Rolle spielen, aber das hieße, zu viel über den Inhalt zu verraten.
Elizabeth Gaskell schildert die hohen Erwartungen, die an den adeligen Nachwuchs gestellt werden, sehr realistisch. Finanzelle Probleme waren auch diesen Familien nicht fremd. Schon allein deshalb war der Nachwuchs angehalten, nicht unter dem Stand zu heiraten. Aber auch unabhängig davon war es in erster Linie wichtig, welchen Namen und welches Vermögen die Zukünftige mitbrachte. Zumindest für den Erstgeborenen als Erben durfte Liebe unter Umständen keine Rolle spielen. So wird die Arzttochter Molly als Ehefrau für einen adeligen Sohn nicht in Betracht gezogen, obwohl sie von der Familie des jungen Mannes innig geliebt wird.
Tempo und Zurückhaltung in der Handlung verteilen sich gut. Natürlich tragen die familiären Ereignisse mit den lebendigen Dialogen einen großen Teil zur Spannung bei, aber auch die ruhigen Momente mit malerischen Landschaftsbeschreibungen und atmosphärischen Stimmungen lassen keine Langeweile aufkommen. Feiner Humor und ein bisschen Ironie tun ein Übriges. Die Übersetzung gefällt mir; sie gibt diese betagte Geschichte fast modern wieder, bleibt aber sprachlich im angemessenen Rahmen für ein Buch von 1865.
„Frauen und Töchter“ ist rundum gelungen; ein Buch, bei dem man auf Seite 400 erfreut ist, erst bei der Hälfte angelangt zu sein. Wegen des unerwartet frühen Todes der Autorin mit nur 55 Jahren blieb es unvollendet, wobei die wichtigsten Ereignisse schon in finale Bahnen gelenkt wurden. Das passende Ende darf sich jeder selbst gestalten.