John Griesemer - Niemand denkt an Grönland

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    1959 tritt Corporal Rudy Spruance seinen Dienst auf einem abgelegenen US-Militärstützpunkt in Grönland an, auf dem die Soldaten offenbar nicht viel mehr zu tun haben als vor den allgegenwärtigen Mücken zu flüchten, Küchen- oder Wachdienst zu schieben und sich zu betrinken. Gänzlich erschließt sich Rudy der Sinn dieser gottverlassenen Militärbasis nicht. Er tut, was er tun muss, saugt sich auf Wunsch des Kommandeurs eine Standortzeitung aus den Fingern und verliebt sich ausgerechnet in die Geliebte seines Befehlshabers.


    Eines Tages erhält er Zutritt zum "Flügel", einem streng abgeriegelten Gebäudeteil, und kommt so dahinter, was wohl tatsächlich der Hauptzweck von Qangattarsa ist: ein geheimes Lazarett für Schwerstverwundete aus dem sechs Jahre zuvor zu Ende gegangenen Koreakrieg, die offiziell als vermisst gelten, böse verstümmelte menschliche Wracks, deren Existenz nach außen hin strikt abgeleugnet wird. Die meisten dämmern nur noch in einem undefinierbaren Geisteszustand vor sich hin, doch Rudy stellt bei einem seiner ersten Besuche fest, dass einer von ihnen sich noch verständlich machen kann und sich nur noch eines wünscht: die Welt auf Qangattarsa aufmerksam zu machen.


    Der Titel "Niemand denkt an Grönland" ist perfekt gewählt - für die meisten Menschen ist Grönland ein reichlich obskurer kalter Fleck Erde, an den man kaum einen Gedanken verschwendet, und genauso weit weg vom Alltag und Bewusstsein der normalen Bevölkerung ist dieser karge, heruntergekommene Militärstützpunkt und ganz besonders die totgeschwiegenen Bewohner des "Flügels".


    Man wird von der ersten Seite an unvermittelt hineingeworfen in diese eisige, fremde Welt, in der sich Rudy wie ein Fremdkörper fühlt und wo das zeitliche Empfinden insbesondere während des unerträglich kalten, dunklen Winters völlig verschwimmt. Fast wirkt Qangattarsa wie ein Ort auf einem anderen Planeten, so sehr bringt er die Soldaten an ihre äußersten Grenzen, geistig noch mehr als körperlich. Was das erzwungene Zusammenleben auf engem Raum unter widrigen Bedingungen mit den Menschen macht, wird hier sehr eindrucksvoll geschildert.


    Am beklemmendsten jedoch ist der Umgang mit den zerstörten Existenzen der Koreaveteranen. Man versteckt sie vor den Blicken der Welt, tut so, als gäbe es sie nicht, schweigt sie tot, behandelt sie kaum wie die Menschen, die sie trotz ihrer Versehrtheit doch immer noch sind. Wie viel davon auf Tatsachen beruht und was erfunden ist, vermag ich nicht zu beurteilen - so oder so habe ich die Geschichte dieser Männer jedoch als eindringliches Plädoyer gegen sinnlose Kriege und vor allem auch gegen den öffentlichen Umgang mit ihren Folgen gelesen.


    Ein trostloser Schauplatz, menschliche Abgründe und schwere Schicksale - ganz bestimmt kein Wohlfühlbuch, aber eines, das mich ziemlich fasziniert hat und noch lange nachklingen wird.


    Zum Schluss möchte ich auch noch die ausgezeichnete Übersetzung von Ingo Herzke hervorheben, die jederzeit den richtigen Ton trifft, was gerade bei diesem Buch sicher nicht einfach war.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Danke für die Besprechung, Valentine. Ich bin auch schon auf den Titel aufmerksam geworden, weil ich ja ein Grönland-Fan bin und außerdem John Grisemers "Rausch" sehr gerne gelesen habe. Allerdings klingt deine Besprechung nach durchaus schwerer Kost, und Grönland ist ja nicht eigentlich Inhalt, sondern nur als Versteck gemeint. Mal sehen … .

  • Grönland spielt schon eine gewisse Rolle, zumindest das kleine Fleckchen rund um den Stützpunkt.


    Schwere Kost ist es tatsächlich (ich brauchte jetzt erst mal was Lustiges hinterher, was mir selten passiert) - aber ich fand es auch sehr gut.

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    Leonard Cohen