Huhu Breña!
Ich hoffe, der große Mittelteil, der sich ja wieder verstärkt mit Agnes zu befassen scheint, wird mehr in Romanform geschrieben sein... Obwohl ich das Buch bisher nicht schlecht finde, fehlt mir etwas. Die Aneinanderreihung von Gedanken in den ersten beiden Teilen ist zwar interessant, aber nicht vollkommen rund.
Das kann ich gut nachvollziehen, da ich aber schon ein wenig weiter gelesen habe, muss ich deine Romanhoffnungen leider zerstören. Zwar beschäftigen sich einige etwas längere Teile mit Agnes, aber nie ohne die allfälligen philosophischen Reflexionen und Durchbrechungen der Fiktion. Kundera verlangt eine Menge rationales Engagement von seinen Lesern und versagt ihnen sehr weitgehend das emotionale - da muss man sich erstmal dran gewöhnen. Ich bin wirklich froh darüber, mit dir gemeinsam zu lesen; das macht es mir bedeutend interessanter. :smile:
Sehr gut gefiel mir, dass auch hier Bezug auf das Kameraobjektiv als allgegenwärtige Öffentlichkeit genommen wird, dass es als "sein eigenes, nichtmaterialisiertes Wesen" (S. 70) schon immer existierte.
Jo; das ist eine von diesen Beobachtungen, die zwar nicht ganz neu sind, aber schön formuliert und wichtig genug, um immer nochmal drüber nachzudenken.
Kundera gebe ich insofern Recht, dass sich die Geste danach verselbstständigte und nun in ihrer Ausführung durch die Menschen transportiert wird.
Tsts. Wie kann sich denn etwas verselbstständigen, was gar nicht lebt? Das geht doch höchstens als witzige Metapher, wenn ich zum Beispiel behaupte, die Toastscheibe, die mir zum dritten Mal vom Teller fällt, habe sich verselbstständigt. Romanunabhängig betrachtet benutzen zwar viele Menschen die gleichen Gesten (nicht dieselben, wie ich finde), aber je nach Situation, Gegenüber, Benutzer etc. gibt es doch immer Bedeutungs- und Wirkungsunterschiede. Das, was Kundera erfindet (!) - eine Geste, die bei allen Frauen, die sie benutzen, genau dieselbe Wirkung hat - ist doch ziemlich unrealistisch.
Der dritte Teil ist der längste dieses Buches und anders als in den anderen Teilen haben die Kapitel hier auch Titel statt der Nummern.
Nett ist es, wie die einzelnen Elemente der Handlung miteinander verknüpft werden und wie durch kleine Anspielungen Fäden gesponnen werden. Alles, was der Erzähler morgens halbbewusst im Radio hört, scheint in der Agnes-Handlung Bedeutung zu gewinnen. So ist der Abgeordnete Bertrand Bertrand, dem die Radiosender fast einen kompletten Morgen widmen, der Vater des neuen Freundes von Laura, Agnes' Schwester. Der Freund selbst, Bernard Bertrand, ist Radiosprecher und dem Erzähler ebenfalls schon häufiger in den Morgenstunden 'begegnet'.
Auch zur Goethe-Handlung gibt es (neben den ständigen Philosophien über Individualität und Unsterblichkeit natürlich) kleine Verbindungen: "Voilá un homme", sagt Napoleon, als er Goethe kennenlernt, und denkt Laura, als sie Paul, ihrem zukünftigen Schwager, vorgestellt wird, den sie von nun an heimlich liebt. Über den Journalismus gibt es einen Bezug zu Hemingway, der sich im Jenseits mit Goethe angefreundet hat.
Wieder verbindet eine Geste die Figuren über die Jahrhunderte: Bettinas "Geste der Unsterblichkeit" fliegt wie aus dem Nichts Laura an und verrät ihren stärksten Antrieb. Schön übrigens die Formulierung über Laura: Sie litt unter geistiger Weitsichtigkeit: Die barmherzigen Werke, die ihr die Unsterblichkeit sichern sollen, haben eine weit entfernte afrikanische Bevölkerung zum Ziel, während sie das Elend vor ihrer Nase übersieht. Und auch Agnes' Bemerkung über die Selbstmordpläne ihrer Schwester ist erhellend: Wenn sie es täte, dann nicht, um zu verschwinden, sondern, um zu bleiben - im Gedächtnis der anderen.
Die Ausführungen über die Abhängigkeit der Politiker von den Journalisten, der Journalisten von Werbefachleuten und Imagologen haben mich ein wenig gelangweilt - what's new? Ganz nett und treffend formuliert (wenn auch ebenfalls nicht neu) ist allenfalls das Bonmot des Grizzly: Nichts verlangt nämlich eine größere Anstrengung des Denkens als die Argumentation, die die Herrschaft des Nicht-Denkens rechtfertigt.
Die Figuren sind nach wie vor allesamt schwer zu ertragen und dienen natürlich der Philosophie des Romans: Jede Beziehung, jedes Gefühl einem anderen gegenüber hat eine bestimmte (wenn auch nicht unbedingt bewusste) Zielrichtung: Es dient der Konstruktion des eigenen Ich. Nun ist das natürlich eine nicht völlig abwegige Deutung des Menschen und seiner Beziehungen, eine, die die Mehrzahl der gegenwärtigen Hirnforscher wahrscheinlich unterschreiben würde. Aber selbst vorausgesetzt, es wäre so (was ich nicht glaube): Wie hilfreich wäre diese Erkenntnis denn dann? Bei den Figuren des Romans, die zur Erkenntnis gelangen, führt das zur Scheu vor den Menschen, zur Flucht, zum Wunsch nach Alleinsein und Sich-Auflösen. Okay: Vielleicht stimmt es - aber ich will's nicht wissen; mir gefällt es anders besser.
Liebe Grüße
ink-heart