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Kurz vorweg:
Ich rege mich auf. Manch einer könnte das als Spoileralarm sehen.
Zu Weihnachten bekam ich<em> Allein unter Deutschen</em> von Tuvia Tenenbom. Als ich den Klappentext las, erinnerte ich mich an einen Artikel im Sommer, in dem auf das Buch hingewiesen wurde, und ich das unbedingt lesen wollte. Ich wollte gleich anfangen zu lesen, wie früher als Kind, als ich zu Weihnachten massenweise Bücher bekommen habe und es kaum abwarten konnte, bis die Bescherung vorbei war, damit ich mich endlich hinter Opas Sessel legen und lesen konnte. Meine Mum machte mir einen Strich durch die Rechnung, auch dieses Mal musste ich warten, bis alle ihre Geschenke ausgepackt hatten. Höflichkeit und Beisammensein und so.
Ich fing an, aber irgendwie schleppte es sich ein wenig vor sich hin. Ich merkte es erst gar nicht, und als ich es merkte, wusste ich nicht, woran es lag. Erst, als ich jemandem ein Kapitel daraus vorlesen wollte, wurde mir klar, woran ich mich unbewusst störte: kurze Sätze, bestehend aus drei Worten. Subjekt, Objekt, Prädikat. Manchmal waren es auch nur zwei Worte, manchmal gab es dann immerhin einen Nebensatz. Ich bin mir durchaus bewusst, dass kurze, knappe Sätze ein Stilmittel der Satire sein können. Aber in diesem Übermaß fand ich es einfach störend.
Bevor es weiter geht eine kurze Zusammenfassung, worum es überhaupt geht. Tuvia Tenenbom ist der Sohn zweier KZ-Überlebender, lebte in Tel Aviv und nun in New York, ist Theaterproduzent und Journalist. 2010 bekam er von Rowohlt den Auftrag, durch Deutschland zu reisen und einen Reisebericht zu verfassen.
Nun denn, ein Reisebericht durch Deutschland, der „den Deutschen den Spiegel vorhalten“ sollte. Seltsamerweise habe ich mich im Spiegelbild nicht wiedererkannt. Tenenbom reist von Norden nach Süden, von Ost nach West und kreuz und Quer durch’s ganze Land. Er trifft Helmut Schmidt, den er fortan nur noch Rabbi Schmidt nennt, trifft sich mit Nazis im Club 88, KZ-Gedenkstätten-Direktoren und jeder Menge Leute, die er einfach auf der Straße trifft.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann der Umschwung kam und ich mich seitenwiese nur noch über dieses Buch aufgeregt habe. Tenenboms „naiver Fragestil“ wird u.a. von N-TV (1) und der TAZ (2) mit Sacha Baron Cohen und seiner Figur Borat oder auch mit Michael Moore verglichen. Ich hatte allerdings regelmäßig das Gefühl, dass seine Interviews gekürzt waren, und einige Reaktionen nicht auf die Fragen passten. Zudem war ich überrascht, in welcher Häufigkeit Tenenbom Antisemitismus bzw. Menschen begegnet, die nur das Thema Juden, Israel, Nahost-Konflikt zu kennen scheinen. Wenn er nicht fragt, wird ihm eines der eben genannten Themen eben ungefragt um die Ohren gehauen. Am seltsamsten fand ich dabei eine Begegnung, die er auf S. 215 schildert. Nichtsahnend will er sich seinem McDonalds-Menü widmen, da wird er vom Nachbartisch angesprochen und aus heiterem Himmel über seine Lebensgeschichte und Kindheit im Dritten Reich aufklärt. Interessant. Ich lebe seit über 27 Jahren in Deutschland, und mir hat noch nie jemand in der U-Bahn als Smalltalk-Thema seine Erfahrungen mit der SS um die Ohren gehauen. Ich fragte mich häufiger, ob er bewusst oder unbewusst nicht nach Antisemitismus und/oder Drittes-Reich-Shoa-Nazi-Anspielungen suchte. Immerhin wundert er sich schon auf S. 16 über die Aschewolke von Islands Vulkan: „Ich dachte, das Thema Aschewolke über Europa hätte sich seit dem letzten Krieg erledigt…“ Endstation Rechts (3) meint dazu: „Kann man drüber lachen – kann man aber auch sein lassen.“
Die Welt (4) schreibt: „Tuvia Tenenbom ist kein Gerechter. Er ist nicht fair, nicht objektiv und schon gar nicht sachlich. Er ist gnadenlos gemein, hemmungslos subjektiv und, wenn es sein muss, so rabiat wie ein Pitbull-Terrier.“ Ist er. Absolut. Aber während sich Tenenbom immer wieder (zu Recht) über Verallgemeinerungen über Juden aufregt (die alte Leier vom „internationalen, jüdischen Bankenwesen“, dass Juden, die sich nicht kennen, sofort verstehen, dass jüdische Frauen in New York alle über die Maßen hübsch und im Diamantengeschäft seien, etc.pp.), verallgemeinert er selbst gnadenlos. Beispiele?
<blockquote>„Sie (die Deutschen )sind antisemitisch und rassistisch bis ins Mark, verdecken es aber mit Masken, Liebesbekundungen und öffentlichen Umarmungen des anderen … sie wollen cool aussehen. Sie lieben es, auf jede Frage mir einer ausführlichen Einleitung zu reagieren…Sie sind, kurz gesagt, so selbsttrügerisch und selbstgerecht wie kein zweites Volk auf der Welt.“ (S. 381f.)</blockquote>
Oder:
<blockquote>„ Ihre Maskeraden, ihre endlosen Diskussionen, ihre andauernden Predigten, ihren unausgesprochenen oder ausdrücklichen Judenhass, ihren Mangel an Rückgrat, ihre Akkuratesse, ihren versteckten Rassismus, ihr ständiges Bedürfnis, geliebt und beglückwünscht zu werden und ihre vorgebliche Rechtschaffenheit.“ (S. 327f.)</blockquote>
Oder:
<blockquote>„Vielleicht habe ich bisher her aber auch einfach Pech gehabt und die ‚falschen‘ Deutschen kennen gelernt, und in Wirklichkeit sind die Deutschen gut, vielleicht sogar sehr gut?“ (S. 249)</blockquote>
Von ein paar Individuen, was für abwegige Meinungen sie allesamt gehabt haben mögen, auf 80 Millionen zu schließen, ist naiv und nicht sehr journalistisch.
Ja, es stört mich, mit der breiten Masse über einen Kamm geschoren zu werden. Ja, es stört mich, wenn man mir unterstellt, dass ich antisemitisch und rassistisch bis ins Mark sei. Es stört mich, dass er sich über die Lebensentwürfe anderer Menschen lustig macht (S. 141 erzählt ihm eine Nonne, dass sie fünf Jahre auf den Schleier hingearbeitet hätte, was er für sich damit kommentiert, dass er sich dafür nicht fünf Jahre „abplagen“ würde, sondern einfach das nächste Geschäft aufsuchen würde). E stört mich, dass er suggeriert, nur er würde nach einem jüngsten Besuch in Dachau mehr Mitgefühl für die dort umgekommenen Menschen aufbringen als für die bombardierte Neue Pinakothek (S. 150). Oder dass er es komisch findet, dass man ihm in Dachau auf Englisch sagt, dass es leider nur Wasser ohne Kohlensäure gibt – <i>without gas</i> – weil er in Dachau das Wort Gas nahezu unangebracht findet. Ja, er ist sehr subjektiv. Aber eben auch verallgemeinernd, beleidigend und verletzend. Das hat nichts mit „Spiegel vorhalten“ zu tun.
Provokant ist dieses Buch, es provoziert eine Stellung von Leser, eine wie auch immer geartete Meinung. Man kann das gelesene nicht ignorieren. Dennoch schließe ich mich dem Fazit von Endstation Rechts an: Das Buch ist ab einem gewissen Punkt nicht mehr erhellend, sondern langweilig und stereotyp.
ich würde am liebsten ne tote Ratte geben, aber das geht ja schlecht...
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Fußnoten:
(1) http://www.n-tv.de/leute/buech…enbom-article9748331.html
(2) http://www.taz.de/!107438/
(3) http://endstation-rechts.de/index.php?option=com_k2&view=item&id=7886:schiefe-wahrnehmungen-von-einer-rundreise&Itemid=618" target=
(4) http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article112061213/Die-deutsche-Besessenheit.html" target="_blank