Siri Hustvedt - Was ich liebte (LR 2009)

Es gibt 26 Antworten in diesem Thema, welches 9.611 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Breña.

  • Hallo zusammen,


    dies ist nur eine kleine Zwischenmeldung, ich darf aus Zeitgründen gar nicht hier sein. :zwinker: Aber ihr müsst doch wissen, dass ich noch mitlese!
    Inzwischen bin ich auf Seite 303 angelangt ("...mit kindlichen Buchstaben seine Unterschrift gekritzelt."), habe mitgelitten, mir Notizen gemacht und Sonntag, während einer ruhigen Schicht, etwas in amerikanischer Kunstgeschichte gestöbert. Daran möchte ich euch natürlich teilhaben lassen und mir eure Kommentare durchlesen, jetzt muss ich aber fix zur Arbeit. :rollen:


    Sonnige Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • ENDE



    Teddy Giles und sein 'Werk' wirken unglaublich abstoßend und angsteinflößend.


    Ja, das geht mir auch so. Er kennt keine Grenzen. Seine Welt besteht nur aus ihm selbst. Besonders unheimlich fand ich die Szene im Hotel als er Leo über die Haare streicht.... Und dann diese fürchterliche Sache mit "Ich"!



    Mark ist mindestens so unheimlich wie Teddy, vielleicht durch sein täuschend offenes und sympathisches Auftreten sogar noch mehr: seine Lügen, der unverständliche Biss, die Bankkarte. ... Mich würde interessieren, ob sein Verhalten, wie es hier dargestellt wird, irgendeinem bekannten Krankheitsbild entspricht.


    Mark ist wirlich der Alptraum jeder Eltern. Ich finde ihn auch unglaublich unheimlich. Dieser Wechsel von Persönlichkeiten, vom kleinen unschuldigen Jungen, bis hin zur Tunte... Gruselig.
    Bei Mark habe ich an einige Persönlichkeitsstörungen denken müssen. V.A. dadurch, dass er schon als kleiner Junge so gelogen hat, als er Matt das Messer gestohlen hat. Das war einfach nicht normal, damit war für mich jede Erklärung durch eine schlimme Pubertät gestrichen.
    Mich erinnert sein Wesen an eine antisoziale Persönlichkeitsstörung. Diese umfassen ein breites Spektrum an Verhaltensweisen wie Lügen, Streiten, Aggression, Weglaufen, Schulschwänzen, Streunen und Aufsässigkeit gegenüber anderen. Desweiteren kommt mir auch noch Schizophrenie in den Sinn. Dadurch, dass er mit diesen verschiedenen Stimmen spricht und eine Stimme nur in ihm ist und er sie nicht zum Vorschein kommen lässt, da sie so schrecklich wäre... Dafür spricht ja auch, dass das sein Onkel ebenfalls schizophren ist und Schizophrenie erblich ist.
    In mir keimte dann gleich der Verdacht (nachdem die Geschichte mit dem Messer raus kam), dass Mark Matt ins Wasser gestoßen hat, damit er im Mittelpunkt steht und nicht Matt immer bei seinem eigenen Vater und bei Leo die Nr. 1 ist.


    "Es gibt nichts Gewöhnliches/Normales auf der Welt."


    Das finde ich eine sehr richtige Aussage. Die Normalität liegt im Auge des Betrchters. Das "Normale" gibt es meines Erachtens nicht. Jeder erlebt die Welt anders.



    Bills "Hundertundeine Tür" hat mich deutlich weniger angesprochen als die Beschreibungen der vorangegangenen Werkreihen.


    Die Kunstbeschreibungen, die ich in Teil 1 so sehr genossen habe, habe ich in Teil 2 & 3 dann doch sehr vermisst. Ebenso die Buchbeschreibungen von Violet. Ich hätte gerne noch ein wenig mehr Kunst und Psychologie bzw. Medizingeschichte in Buch gehabt.



    Bills Tod kam für mich unvorbereiteter als Matts (der war durch die ausführliche Abschiedsszene in Teil 1 irgendwie schon vorbereitet), nicht so lähmend und alptraumartig, aber fast noch trauriger.


    Das ging mir gar nicht so. Bills Tod war für mich irgendwie gar nicht überraschend. Es war als hätte ich damit gerechnet, dass noch irgendwer in diesem Buch stirbt. Bei Matt war ich überhaupt nicht darauf vorbereitet. Die Abschiedsszene empfand ich als normale Liebesbezeugung zwischen Eltern und Kind, die sich zum ersten Mal für längere Zeit trennen. Für mich ist der Tod eines Kindes, das Schlimmste, das einem Menschen passieren kann. V.A. ist es für Leo und Erica das einzige Kind, der einzige Lebensinhalt außer ihrer Arbeit. Der Tod eines Partners hingegen ist zwar schrecklich, aber er gehört irgendwo zum Leben dazu. Es geht weiter. Aber bei einem Kind ist das etwas anderes.


    Mich wundert sehr, dass Leo Violet seine Liebe gesteht. Aber nur kurz davor seine Erregung und Vorfreude auf Erica beschreibt. Die Beziehung zwischen Leo und Violet ist sehr schwer zu charakterisieren. Einerseits ist da eine sehr enge Freundschaft, die durch diese vielen Schicksalsschläge zusammen gewachsen ist und auf der anderen Seite Leos sexuelle Fantasien. Aber ich denke nicht, dass das Liebe ist...


    Schade fand ich auch, dass Erica im weiteren Verlauf der Geschichte so außen vor blieb. Sie tritt nur am Rande in Erscheinung und alles konzentriert sich auf das Dreiergespann Leo, Bill und Violet.


    Wie es wohl mit Mark weitergehen wird? Im Gefängnis, in der Psychiatrie, auf dem Sozialamt? Es wird nichts Gutes daraus werden... Da frage ich mich, warum Matt und nicht Mark sterben musste...


    Was ich sehr interessant fand, ist (ich lese ein ausrangiertes Büchereiexemplar) die Einordnung des Buches in die Sparte "Frauen". :gruebel: Ich finde ja überhaupt nicht, dass dies ein typischer Frauenroman ist. Ich finde ein Mann findet an diesem Buch genauso viel Gefallen wie eine Frau. Es ist ja nicht mal aus der Sicht einer Frau beschrieben! Ich kann das nicht nachvollziehen...


    So jetzt mach ich mich mal an meine Rezension!


    lg
    bane

  • bane77
    Wow, du bist schon fertig! Ich dümpel gerade auf S. 356 ("Es ist nicht immer leicht, den Schauspieler von seinem Spiel zu trennen.") herum, deswegen lese ich mir deinen Kommentar erst später durch. :winken: Leider habe ich derzeit kaum mehr als eine halbe Stunde am Stück, in der ich lesen kann, deswegen komme ich wieder etwas langsamer vorwärts.


    Breña
    Ich bin gespannt auf deine Ausführungen. :smile:


    Bills Tod hat mich doch etwas geschockt, dass das so plötzlich passiert, hätte ich nicht gedacht. Leider steht nirgends, wie es denn genau zu seinem Herzstillstand (?) gekommen ist. Aber für Leo scheint es nicht wichtig zu sein, deswegen erwähnt er es wohl nicht. Bills Lebenstil ist aber alles andere als gesund gewesen. Diese Nachricht auf dem Anrufbeantworter ist ziemlich mysteriös, ob die noch irgendeine Bedeutung bekommt?


    Violet finde ich bisher die stärkste Figur im Roman. Vor allem wie sie mit ihrer Trauer umgeht ist beeindruckend. Bei Leo habe ich das Gefühl, dass er nur sehr schlecht aus sich heraus kann, seine Rolle ist hier wirklich die des Beobachters. Und Erica lässt sich ja gar nicht mehr blicken...


    Von Mark bin ich immer mehr enttäuscht. Genau wie Leo habe ich gedacht, dass er sich wirklich ändern wird, aber Pustekuchen. :rollen: Und Teddy Giles ist mir auch unheimlich. Der Kerl scheint nur aus Lügen zu bestehen.

  • Hallo ihr!


    so, jetzt habe ich endlich ein wenig mehr Zeit und kann meinen Senf abgeben, inzwischen habe ich bis zum Ende von Teil 2 gelesen.


    Schon der erste Satz des zweiten Teils zielt wie ein Faustschlag mitten in den Magen und trifft. Auch wenn das Ereignis vorbereitet wurde, hat mich die Beschreibung der Folgen sehr mitgenommen. Ich muss gestehen, dieses Buch zieht mich in seinen Bann wie lange kein anderes. Leo verfällt nach Matts Unfall in eine schreckliche Passivität; er geht ohne Anteilnahme durch's Leben, agiert nur noch als Betrachter und sammelt Erinnerungen. Dies ist für mich teils nachvollziehbar, aber am liebsten hätte ich ihn geschüttelt und wieder ins Leben zurückgeholt. Ericas Rückzug aus dem gewohnten Umfeld wirkt wie ein Neustart, auch wenn dieser Weg für die Beziehung von ihr und Leo sicherlich das Aus bedeutet. Zumindest erfährt der Leser nun mehr über Leo selbst, da er selbstreflektierter schreibt, auch wenn die Handlungen und Gedanken der anderen für ihn im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. Bills Tod traf mich mehr als Matts Unfall, obwohl er sehr distanziert, fast drögge behandelt wird (bisher). Aber vielleicht kommt nun der Punkt, an dem Leo aus seiner Starre erwacht?


    Mark hat sich tatsächlich zu einem wahren Problemfall entwickelt, bei ihm hatte ich von Anfang an ein schlechtes Gefühl. Die Blindheit der Erwachsenen gegenüber Matts Fehlverhalten bis zu dem Punkt, an dem man nichts mehr schönreden kann, hat mich schon angenervt. Auch hier hätte ich jeden einzelnen am liebsten geschüttelt... Zum Beispiel bei Leo - einerseits sein Wunsch nach Normalität bei Mark und sein wiederkehrendes Vertrauen ihm gegenüber, andererseits seine Überlegung, Mark sei keine Person, aber was sei er dann?


    Die Auseinandersetzungen mit Kunst treten immer mehr in den Hintergrund, was angesichts der Entwicklung nachvollziehbar ist, was ich aber trotzdem schade finde. Ich fand es interessant, die Sicht auf die Kunst von der Seite des Künstlers aus bzw. aus seinem Leben heraus nachzuverfolgen. Zum Schmunzeln brachte mich Bills Kommentar zu Leos Aufsatz, er selbst habe in seinem eigenen Werk nicht so viel gesehen wie dieser. Ein Seitenhieb auf Kunsthistoriker und ihre hahnebüchenen Theorien im Allgemeinen, aber auch ein Hinweis darauf, wieviel unterbewusst in Kunst einfließen kann. Bills letztes Werk, die Installation aus Türen, kommt etwas zu kurz, finde ich. Bei den vorherigen Werken war man auch bei der Entstehung mehr eingebunden und die Beschreibung nahm mehr Raum ein. Die Türen treten deutlich hinter der Problematik mit Mark zurück, und insgesamt sind die Installationen und ihre Aussage für mich weniger ansprechend.


    Mit Teddy Giles Kunstaktionen habe ich mich gedanklich nicht näher befasst. Ja, sowas fand und findet statt, Provokation ist eben alles. :rollen: Wichtig finde ich in diesem Zusammenhang Leos Ausspruch, dass man alles zu Kunst erklären könne. "Was zählt, ist die Perspektive, nicht der Inhalt." Für uns wohl inzwischen ein banaler Gedanke. Gut gefallen hat mir übrigens auch, dass Leo sich für ein neues Buch ausgerechnet mit Goyas Druckgrafiken beschäftigt, das spiegelt die allgemeine Stimmung gut wider.



    Gleich am Anfang eine Frage: Violet entwickelt da eine Theorie, mit der sie die seltsame Begegnung mit Monsieur Renasse und auch die Beziehung zwischen sich, Mark und Lucille erklärt. Im Englischen heißt der Schlüsselbegriff ganz simpel 'mixing'. Was sagt die deutsche Übersetzung? Ich selbst fände 'Verschmelzung' am passendsten, bin aber nicht ganz sicher.


    Auf die Schnelle finde ich die entsprechende Stelle leider nicht, ich sehe aber in Ruhe nochmal nach, falls dich das noch interessiert.



    Da muss ich dir recht geben! Ich hätte nicht gedacht, dass auf der Geburtstagsfeier für einen 13-jährigen so viele Erwachsene sind.


    Ist nicht auch die Rede von Matts Bar Mizwah? Die fällt mit dem 13. Geburtstag zusammen und wäre eine Erklärung für die groß angelegten Feierlichkeiten.



    Mein komisches Gefühl bezüglich Mark hat sich bestätigt. Er lügt, stiehlt und stellt sonst noch was an und leugnet bis er keinen Ausweg mehr sieht. Und kaum besteht Hoffnung auf Besserung, macht er alles wieder kaputt. Ich weiß, es klingt heftig, aber Mark ist für mich eindeutig verhaltensgestört. Mich würde interessieren, wie es dazu kommen konnte, oder ob es wirklich an seinem Charakter liegt.



    Im Gespräch über seine Vergehen, wirkt er manchmal wie eine gespaltene Persönlichkeit auf Leo. Mich würde interessieren, ob sein Verhalten, wie es hier dargestellt wird, irgendeinem bekannten Krankheitsbild entspricht.


    Was mir zwischenzeitlich im Kopf herumspukte ist das Borderline-Syndrom. Allerdings hätte Hustvedt das sicher aufgegriffen, also scheint es eher mit Marks Drogenkonsum zusammenhzuhängen. Bis zu einem bestimmten Punkt kann man sich sein verkorkstes Verhalten aber bestimmt auch durch seine Familienverhältnisse erklären, schließlich hat er seine Eltern während der Trennung nicht von ihren besten Seiten erlebt.



    Breña
    Ich bin gespannt auf deine Ausführungen. :smile:


    Versprich dir nicht zu viel. :zwinker: Ich liefe das später nach, jetzt gehe ich wieder raus und geniesse die Sonne! :breitgrins:


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Hallo Ihr Lieben,


    mich hat es gestern abend gepackt und ich habe das Buch bis zum Ende gelesen.


    Mark scheint wirklich an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung zu leiden, jedenfalls erwähnt Hustvedt in ihrem Nachwort entsprechende Bücher. Gott sei Dank fallen Leo und Violet am Ende nicht mehr auf Marks Lügen herein. Manchmal musste ich über Leos Naivität bezüglich Mark etwas den Kopf schütteln, aber bei Menschen, die einem nahestehen, ist man diesbezüglich wohl etwas blind.


    Leos Liebesgeständnis an Violet hat mich ziemlich überrascht. Ich bin auch nicht sehr überzeugt davon, dass es echte Liebe ist. Schade, dass Erica nicht mehr auftaucht - immerhin sind sie und Leo immer noch verheiratet, so wie ich das verstanden habe. Da hätte ich gerne gewusst, wie es aus- bzw. weitergeht.


    Insgesamt muss ich bane77 zustimmen, mir haben die ersten Teile mit den Beschreibungen von Bills Kunstwerken und Violets Büchern auch besser gefallen. Irgendwie passte der dritte Teil nicht so richtig rein.



    Was ich sehr interessant fand, ist (ich lese ein ausrangiertes Büchereiexemplar) die Einordnung des Buches in die Sparte "Frauen". :gruebel: Ich finde ja überhaupt nicht, dass dies ein typischer Frauenroman ist. Ich finde ein Mann findet an diesem Buch genauso viel Gefallen wie eine Frau. Es ist ja nicht mal aus der Sicht einer Frau beschrieben! Ich kann das nicht nachvollziehen...


    Das finde ich auch sehr komisch. Bei der Sparte "Frauen" denke ich eher an Bücher von Hera Lind und co. und da gehört dieses Buch nun definitiv nicht hin!



    Ist nicht auch die Rede von Matts Bar Mizwah? Die fällt mit dem 13. Geburtstag zusammen und wäre eine Erklärung für die groß angelegten Feierlichkeiten.


    Meinst du jetzt Matt oder Mark? Es ist doch die Rede von Marks Geburtstag, oder?


    Versprich dir nicht zu viel. :zwinker: Ich liefe das später nach, jetzt gehe ich wieder raus und geniesse die Sonne! :breitgrins:


    Och da ich mich mit Kunst nicht so wirklich auskenne, kannst du mir auch einfach irgend etwas erzählen, ich freue mich drüber. :breitgrins:


    Mal schauen, ob ich noch eine Rezi zum Buch schreibe. Wahrscheinlich eher nicht aufgrund fehlender Zeit. Als Bewertung würde es aber auf jeden Fall 4 bis 4,5 Ratten bekommen.


    Liebe Grüße
    Cuddles :winken:

  • Hallo, ihr Lieben!


    Ich bin jetzt durch, und auch wenn ich das Buch durchgehend gut fand, bin ich gar nicht böse drum, denn es war wirklich anstrengend und ich hatte immer wieder das Gefühl, dass es auch irgendwie Kräfte (nicht nur Lesekräfte) bindet.


    Interessant fand ich Leos Reflexionen über Wahrnehmung zu Beginn des dritten Teils. Er denkt darüber nach, wie der Betrachter selbst aus dem Bild verschwindet - und das ist ja auch auf die Erzählsituation übertragbar. Als er in einem der Hotels vergeblich auf Mark wartet, redet er sogar in der dritten Person von sich, spaltet sich sozusagen in Beobachter und Beobachteten. An dieser Stelle hat das auf mich berührend gewirkt, weil hier die Distanz und Reflexion Leos einzige Möglichkeit sind, sich vor der Verzweiflung zu schützen.


    Leo gibt die reine Beobachterrolle in diesem Teil auf. Um Violet kümmert er sich nach Bills Tod zunächst essenstechnisch, dann auch, indem er ihre Sorgen um Mark teilt. Leo wird auf fast schon absurde Weise („quixotic“ ist das Wort, das meine Ausgabe benutzt) aktiv, weil er das Gefühl hat, etwas wiedergutmachen zu müssen. Die Jagd von einem Hotel ins andere hat einige Krimielemente und wirkt sehr herausgehoben aus den anderen, reflektierenden Passagen.


    Nicht nur in der Beziehung zwischen Leo und Violet scheint Bill, zumindest für eine lange Zeit, immer noch anwesend zu sein. „He meant the world to me“, sagt Leo und macht damit Bills Bedeutung für sich klar. Dass er sich in gewisser Weise mit ihm identifiziert, wird an einigen Stellen deutlich: Als er Giles wegen des Kunstwerks zur Rede stellt und plötzlich im Plural („wir“) redet, als Mark im Krankenhaus ist und Leo die Interaktionen seiner beiden Mütter beobachtet, auch seine Auseinandersetzung mit Bills Werk, die noch einmal zeigt, wie hellsichtig Bill zumindest in seiner Kunst war.



    Auf die Schnelle finde ich die entsprechende Stelle leider nicht, ich sehe aber in Ruhe nochmal nach, falls dich das noch interessiert.


    Das wäre prima, weil ich die Theorie nach wie vor ziemlich wichtig finde, nicht nur für die Beziehung zwischen Leo und Bill, sondern auch für viele andere Beziehungen; sogar von Giles behauptet Lazlo, er sei auf Bill fixiert.


    Der Focus liegt zunächst auch weiterhin auf Teddy Giles und auf Mark, dessen Persönlichkeit die "Künstlernaturen" intuitiv viel besser zu erfassen scheinen als die meisten anderen: Dans Gedicht über Mark, Bills "Wechselbalg", Matts "Ghosty boy" mit dem Taschenmesser.


    Was Giles zusätzlich zu seinen Perversitäten zu einer durch und durch unangenehmen Figur macht, ist sein wenig subtiler Blick auf die Gesellschaft: Er behauptet, dass heute alles, von den Nachrichten bis zur Kunst, wie Shopping für die kurze Aufmerksamkeitsspanne behandelt werde - und das Schlimmste ist, dass er womöglich gar nicht so unrecht hat.


    Das Spiel, das Mark und Giles mit Leo treiben, ist gruselig. Die Verkleidungen, das Jonglieren mit Fakten, die inszenierte Verfolgungsjagd - in jeder Hinsicht verschwimmen hier fast alptraumartig die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, vielleicht sogar für die beiden selbst.


    Der Fund des Taschenmessers zeigt deutlich, dass die Persönlichkeitsstrukturen und Handlungsmuster, die bei Mark so beängstigend sind, auch schon vor Matts Tod existiert haben. Das Sterben seiner Haustiere, das im Nachhinein eine ganz andere Bedeutung bekommt, zeigt, dass er schon früh auch mit Gewalt „gespielt“ hat. Das Gemälde, das Giles für eines seiner Werke benutzt und das Mark in direkten Zusammenhang mit einem Mord setzt, wirkt beklemmend und unheilverkündend, auch wenn Giles selbst die Ansicht verficht, dass Kunstwerke keine Aussage haben. Und der Mord an ‚Me’ (über die vielen zusätzlichen Bedeutungen dieses Namens könnte man auch eine Menge spekulieren) ist tatsächlich geschehen, ohne dass Mark in seiner Beziehung zu Giles Konsequenzen daraus gezogen hätte.


    Mark scheint keine „Substanz“ zu haben, ist so, wie es von ihm erwartet wird, aber nur äußerlich und ohne emotionale Beteiligung. Viele Parallelen mit Lucille werden deutlich, die ebenso manipulativ ist wie Mark, ohne Wahrnehmung der Gefühle anderer und ohne eigene tiefere Gefühle zu sein scheint. Wie Cuddles schon schreibt, nennt der Roman ASP (antisocial personality - wie genau dieser Begriff auch immer definiert sein mag) als eine Bezeichnung für Marks Persönlichkeitsstörung, und in diese Richtung gehen auch die wissenschaftlichen Werke, die Hustvedt im Anhang nennt. Violets neues Werk beschäftigt sich unter anderem auch hiermit, also wieder mit einer zeittypischen Krankheit. Auf ihre Weise tut sie das gleiche wie Bill: Sie versucht in ihrer Arbeit sich selbst und ihrem Leben auf die Spur zu kommen.


    Violet meint auch, den „Wendepunkt“ in Marks Entwicklung ausgemacht zu haben, als er aufgrund seines schwierigen Verhaltens als Sechsjähriger zwischen seinen Eltern hin- und hergeschickt wird. „Was war das, was ich liebte?“, fragt sie sich jetzt, wo sie sie Hass und Angst Mark gegenüber fühlt, und muss sich eingestehen, dass auch sie seine „falsche“ Außenseite geliebt hat.


    Diese Frage, „Was ist das, was ich liebte?“, die ja auch der Titel aufnimmt, rückt hier noch einmal ins Zentrum, nicht nur in Violets Liebe zu Mark, sondern auch in ihrer Liebe zu Bill, an dem sie immer etwas Unerreichbares gespürt hat, das sie aber gerade an ihn gebunden hat, in Leos Liebe zu Violet, zu Bill, zu Matt und zu Mark. Dass diese Liebe immer erst in der Vergangenheitsform Klarheit zu erlangen scheint, macht einen großen Teil der Melancholie dieses Romans aus.


    Der Erzähler Leo wirkt zum Schluss abgeklärt, resigniert, die Erinnerungen scheinen den größten Schmerz verloren zu haben. Mich hat die Atmosphäre unheimlich an die in Viscontis „Gewalt und Leidenschaft“ mit Burt Lancaster erinnert: Das Leben ist zwar über den alten Mann hereingebrochen, aber dann weitergezogen, und alles ist genauso still wie vorher ... - Wenn ich’s mir recht überlege, gibt es da sogar noch eine Menge mehr Parallelen. Ich glaube, den Film muss ich demnächst nochmal sehen.


    Vielen Dank an euch für die interessante Leserunde, die mich dazu gebracht hat, sehr viel genauer hinzusehen, als es trotz des tollen Buches wahrscheinlich sonst der Fall gewesen wäre! :winken:

  • Hallo ihr Lieben,


    ich bin euch noch etwas "schuldig"! Es tut mir leid, dass die Links so spät kommen, aber besonders der April war kein guter Monat und ich hatte bisher einfach nicht die Zeit und Ruhe einen vernünftigen Beitrag zu posten. Ich hoffe, ihr könnt auch mit diesem zeitlichen Abstand noch die Bezüge herstellen. (Wenn ich jetzt auf diese lächerlichen fünf Zeilen schaue frage ich mich ernsthaft weshalb ich das so lang vor mir hergeschoben habe. :rollen:)



    Bills Sammeln von Objekten auf der Straße und deren Verarbeitung bzw. das Verarbeiten von persönlichen Stücken seines Vaters folgt deutlich einem amerikanischen Vorbild: Robert Rauschenberg und seinen Combines aus den 50er und 60er Jahren. Hier noch ein Artikel, der sich unter anderem mit seinem Verhältnis zu den Beat Autoren beschäftigt.
    Es mag etwas weit hergeholt sein, aber auch Leos Sammeln von Erinnerungsstücken in seiner Schublade passt für mich in dieses Schema. Allerdings in einer sehr persönlichen/ nicht-öffentlichen Form und mit größtmöglicher Wandelbarkeit.


    Auch was die Kästen angeht gibt es ein sehr eindeutiges Vorbild: Joseph Cornell und seine Boxes. "Using things we can see, Cornell made boxes about things we cannot see: ideas, memories, fantasies, and dreams." heißt es auf seiner Website. Zahlreiche Abbildungen findet man hier.


    Wiki-Stichworte zum Selberweiterstöbern: Assemblage, Combine Painting, Spurensicherung, Individuelle Mythologie.



    Inhaltlich bin ich bereits zu sehr mit anderen Büchern beschäftigt, vielleicht folgt aber noch eine Rezi. Auf jeden Fall muss ich ein dickes Danke für diese interessante Leserunde loswerden. Es hat viel Spaß gemacht mit euch!


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges