Amos Oz - Allein das Meer

Es gibt 7 Antworten in diesem Thema, welches 2.304 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Ninette.

  • Hallo,


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    „Allein das Meer“ ist ein Roman, der die literarische Form des Romans sprengt oder erweitert, ein Roman in freirhytmisierenden Gedichten und kurzen Prosatexten. Einige Gedichte reimen:


    Zitat von "Amos Oz"

    Er knipst die Nachtischlampe an und winkt
    dem Sohn, der Frau auf der Kommode zu. Versinkt
    dann in Gedanken. Und tappt in die Küche, trinkt.


    Der da in die Küche tappt ist Herr Albert Damon in der Amirin Straße, der allein ist, weil seine Frau Nadia an Eierstockkrebs verstarb und sein einziger Sohn Rico nichts besseres zu tun hat, als in Tibet Berge zu erklimmen. Doch Vorwurf kam vom Vater. Rico ließe ihn allein, obwohl seine Mutter im Sterben liegt. Doch, jeder hat seine eigene Art zu trauen. In Tibet schreit er nach seiner Mutter. Amos Oz versteht es, seine Verse den Stimmungen anzupassen. Wenn man die Verse „Rico schreit“ vorliest, braucht man sich nicht wundern, wenn die eigene Stimme immer lauter wird, wie es mir passiert ist:


    Zitat von "Amos Oz"

    ..es kriecht die zu zerstückeln Leber Pankreas und Niere
    sickert in die Milz zerreißt dich kriecht vom Eierstock
    zum Bauch es saugt und kaut an deinem Zwerchfell
    schlägt Giftzähne dir in die Lungen...


    In den drei Strophen wird bewusst kein Satzzeichen gesetzt, Rico schreit seinen Schmerz in einem Atemzug hinaus. In den Bergen will er zu sich selbst finden. Für Albert Damon ist es sehr schlimm des Nachts allein. Er würde seine FRau gerne zudecken, ihr die Haare streicheln, ist aber allein, versucht seine Einsamkeit mit Bettina Carmel zu verschmerzen, die ihm in einem Fall von doppelter Besteuerung Rat gibt. Sie ist Wirtschaftsprüferin, er Steuerberater, aber in den Intimitäten der Liebe kommen sie sich nicht näher. Sie bremsen sich ab, jeder hat mit sich selbst zu tun, jeder hat seine eigenen Probleme zu bewältigen. So knüpfen sich im Roman mehrere Leben zusammen. Dita Inbar, Ricos Freundin, schläft mit dem widerlichen Giggy Ben-Gal, der sie hinterher fragt, „wie gut es für sie gewesen sei, auf einer Skala zwischen Null und Hundert.“ Dann ist da noch Dubi Dombrov, ein unangenehmer Typ von einer Filmgesellschaft, der Ditas Drehbuch verfilmen möchte, dabei aber nur Dita selbst im Kopf hat. Im Drehbuch liest er über Nirit und projeziert seine feuchten Träume auf Dita. Er entpuppt sich als Betrüger, deshalb sucht Dita Unterschlupf bei Albert.


    Aufgrund seiner Konzeption aus Lyrik und kurzen Prosastücken ist dieser Roman schon einzigartig. Ich habe den Eindruck, Amos Oz will alte traditionelle Formen in unsere Zeit transportieren, alte Formen von Epen, rhapsodischen Gesängen. Es ist kein Zufall, dass einige Kapitel sich auf König David (AT) beziehen und der Beginn vom Psalm 42 zitiert wird, desweiteren dreimal Texte aus lateinischer Liturgie als Kapitelüberschriften gewählt werden: Stabat mater, De profundis, Dies irae. Im liturgischen Text „Stabat mater“ beklagt die Schmerzensmutter den Gekreuzigten, im gleichnamigen Kapitel bei Oz ist Mutter Nadia um ihren Sohn Rico besorgt. Die liturgischen Überschriften verknüpfen also nur an Traditionellem und Amos Oz schafft den Text neu, sodass er sich in den Roman verwebt. „Allein das Meer“ besingt das jahrtausende alte Lied von Sehnsucht, Trauer, Einsamkeit und Tod noch einmal neu für unsere Zeit. Auch wenn Dita mit Giggy schläft, sehnt sie sich nach Rico, auch wenn Rico fernab in Tibet bei einer Hure ist, so fühlt er sich seiner Familie nah, seiner Mutter, die Amos Oz aus dem Totenreich sprechen lässt, und seinem Vater, der Dita in seinem Hause wohnen lässt.


    Ich habe Rezensionen gelesen, die beklagen, dass sich kein Übersetzer gefunden hat, der den Roman aus dem Hebräischen gefunden habe. Die deutsche Übersetzung entstand nach der englischen Vorlage, deshalb die deutsche Übertragung von Frank Heibert nicht immer geglückt sei. Ich habe keine problematischen Stellen entdecken können, mir wäre der übersetzerische Umweg nie aufgefallen. Im Gegenteil. Ich hatte meine Freude an dieser herrlichen Lyrik, die immer in passender Stimmung zum Romaninhalt herüberflog und hätte mir niemals träumen lassen, dass ich mich so der alten epischen Form hingeben könnte. Ich erinnere mich an meine Lektüre der Ilias, die mich sehr angestrengt hat, auch wenn es die Übersetzung von Schadewaldt war. Amos Oz schreibt eben in zeitgemäßer Sprache, die sich leichter inhaliert, trotzdem jedes Wort gut überlegt treffend zum Kontext. Offen gestanden, hier war mir der Inhalt eher sekundär, ich hatte meine Freude an dem lyrischen Gesang. Ich empfehle ein Experiment: Man schlage irgendeine Seite auf und beginne zu lesen. Überraschung, man wird auf schöne Stellen stoßen. Also, jetzt versuche ich es. Und:


    Seite 86:



    Albert Damon lebt in der Kleinstadt Bat Jam nicht weit von Tel Aviv. Nicht weit ist auch das Meer. Man hört das Meeresrauschen. Amos Oz erzählt von einem „Duett“: Lautstark rauscht ein Fluß, der Fluß des Lebens. Im Hintergrund noch ein anderer Fluß, man hört nur das leise Murmeln dieses zweiten Flusses. Ruhe und das pralle Leben, zwei Pole.


    Zitat von "Amos Oz"

    Wie der Hirsch nach frischem Wasser lechzt, so lechzt auch meine Seele.....
    .......................................................................................
    ..........................................Nun kehr zurück zu deiner Ruhe,
    meine Seele......


    Liebe Grüße
    mombour

    Einmal editiert, zuletzt von mombour ()

  • Wow, welch unglaubliche Rezension. Ich bin echt sprachlos.
    Ich lese gerade in einem Seminar in der Uni "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" und wir zerpflücken es in literaturwissenschaftliche Einzelteile.
    Um auf die Problematik des Übersetzens einzugehen...vermutlich fallen einem diese Unstimmigkeiten gar nicht auf, wenn man den Originaltext nicht kennt (also die Sprache nicht spricht). Im Zuge unseres Seminars hat unsere Professorin, die hebräisch spricht, ein paar Stellen vorgelesen und die Wörter übersetzt. Es ist manchmal einfach nicht möglich etwas wortgetreu zu übersetzen und gleichzeitig den Sinn wieder zu geben.
    Das wird vermutlich ein noch größeres Problem, wenn um zwei Ecken übersetzt wird.
    Leider gehen dann manchmal Dinge verloren, die in der Originalsprache so besonders sind, aber das ist ein unlösbares Problem, da wir nun mal nicht alle Sprachen sprechen können.


    Vielen Dank für diese schöne Rezi, die mich dazu bringt das Buch auf meinen Wunschzettel zu schreiben (zumal ich von Amos Oz total begeistert bin).

    &quot;Bücher sind Spiegel: Man sieht in ihnen nur, was man schon in sich hat&quot;<br />Carlos Ruiz Zafón<br />:lesen:


  • Wow, welch unglaubliche Rezension. Ich bin echt sprachlos.


    ups, warscheinlich ist die Buchbegeisterung auf die Rezension übergesprungen. Ich weiß nicht.



    Ich lese gerade in einem Seminar in der Uni "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" und wir zerpflücken es in literaturwissenschaftliche Einzelteile.


    Da wäre ich gerne dabei. :smile:


    Zum Stichwort "Übersetzungen" fällt mir ein Zitat von Robert Merle ein:


    Zitat von "Robert Merle aus "Hinter Glas""

    Und dabei könnte ich, wenn ich statt der neun Jahre Latein Russisch gelernt hätte, Tolstoi jetzt im Original lesen. Das wäre wohl was anderes, als Tacitus zu stottern.

    :breitgrins:


    Liebe Grüße
    mombour

  • Gerade bei Lyrik ist die Übersetzungsproblematik am größten, sie gilt nicht umsonst als unübersetzbar. Ein Gedicht transportiert meist mehr als Inhalt, es ist immer ein Spiel mit der Sprache. Aus diesem Grund empfiehlt sich, Lyrik in der Originalsprache zu lesen, und da man, wie Ninette schon sagte, nicht alle Sprachen kann, klappt das oft nur über Umwege, über ein eventuelles Vorlesenlassen. Und man sollte sich immer das Schriftbild ansehen, also das Gedicht als Bild, in Vergleich mit der Übersetzung. Da kann man selbst wenn man die Sprache nicht beherrscht, deduzieren ob die Übersetzung viel länger ist als das Original etc.


    Aufgrund dieser ganzen Ansprüche an mich selbst lese ich Lyrik meist sehr selten :rollen:


    Und Übersetzung über eine Drittsprache ist normalerweise ein absolutes "No - Go". :zwinker: Ich verstehe es bei sehr seltenen Sprachen, für die einfach kein Übersetzer gefunden werden kann, aber für Hebräisch? Da sollte es doch Übersetzer geben?


    Das sind natürlich keine Kritikpunkte an deiner Rezension, mombour, die sich wunderbar liest und wenn sie mir auch nicht direkt Lust auf Amos Oz macht, dann zumindest darauf, endlich wieder ein Gedicht zu lesen!


    PS: Den Merle versteh' ich so gut! Hätte ich statt der 6 Jahre Latein irgendeine andere Sprache gelernt, das wäre tausendmal zielführender gewesen. :zwinker:

    Auch ungelebtes Leben<br />geht zu Ende<br />- Erich Fried


  • Ich habe Rezensionen gelesen, die beklagen, dass sich kein Übersetzer gefunden hat, der den Roman aus dem Hebräischen gefunden habe. Die deutsche Übersetzung entstand nach der englischen Vorlage, deshalb die deutsche Übertragung von Frank Heibert nicht immer geglückt sei. Ich habe keine problematischen Stellen entdecken können, mir wäre der übersetzerische Umweg nie aufgefallen.



    Hallo mombour,


    deine Rezension weckt Interesse am Buch und liefert Auszüge, die sprachlich durchaus geglückt sind. Ob sie eine adäquate Übersetzung bieten, kann ich natürlich nicht beurteilen.


    Welcher Rezensent konnte denn aufgrund seiner ausgefeilten Kenntnisse der hebräischen Sprache BEGRÜNDET schreiben, die Übersetzung sei nicht immer geglückt? Das sind mitunter schon grotesk anmutende Allgemeinplätze. Interessant sind solche Äußerungen für mich nur, wenn Belege die Behauptungen ersetzen. Wie oft liest man Kritiken an Übersetzungen, die intransparent sind?


    Ist es nicht durchaus möglich, dass vielleicht die Übersetzung nach der englischen Vorlage, sollte diese exzellent sein, eine bessere deutsche Sprachversion bietet, als die Übersetzung aus der Originalsprache es getan hätte?


    Grüße, mohan :winken:

  • Yklamyley
    Da stimme ich völlig zu. Bei Lyrik ist die Übersetzungsproblematik wirklich am größten.
    Wir haben (auch in der Uni) mal verschiedene Übersetzungen von einem Shakespeare Sonett angeschaut. Ich glaube es waren vier und nur eine kam dem Original so nah, dass man sagen kann, dass sie gut war. Sie war nicht ganz eng am Text, aber am Sinn und am Klang, also der Silbenanzahl und allem.
    Es ist sehr schwer und ich würde Lyrik, wenn möglich, auch im Original lesen.


    Ich denke übrigens auch, dass ein Hebräischübersetzer nicht so schwer zu finden sein sollte. (Ich kanns leider nur stümperhaft :breitgrins:)


    @mombour
    Komm doch vorbei. :zwinker:
    Ich finde es total toll das Seminar. Letzte Woche haben wir über die Großeltern diskutiert und darüber, dass Amos Oz Dinge so genau beschreibt, dass man denkt, man wäre dabei gewesen.

    &quot;Bücher sind Spiegel: Man sieht in ihnen nur, was man schon in sich hat&quot;<br />Carlos Ruiz Zafón<br />:lesen:


  • Für die Englischleser: Die Übersetzung vom Hebräischen ins Englische soll wirklich gut sein. Aber, nun ja, ich war mit der deutschen Übersetzung auch glücklich. :zwinker:
    (bei ungarischen Gedichten kenne ich das so, die werden oft ins deutsche nachgedichtet, nicht übersetzt :breitgrins: )


    "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" möchte ich im nächsten Jahr lesen. Vorher aber noch "Mein Michael".


    Liebe Grüße
    mombour


  • "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" möchte ich im nächsten Jahr lesen. Vorher aber noch "Mein Michael".


    Liebe Grüße
    mombour


    Ich kann es dir wärmstens ans Herz legen. Oz beschreibt seine Familie so liebevoll, dass man das Gefühl hat, man kennt diese verschrobenen, liebenswerten Menschen alle. :winken:

    &quot;Bücher sind Spiegel: Man sieht in ihnen nur, was man schon in sich hat&quot;<br />Carlos Ruiz Zafón<br />:lesen: