Michael Buselmeier – Wunsiedel

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    Der Inhalt, auf die kürzest mögliche Form gebracht: Der Erzähler des Jahres 2008 blickt anlässlich einer Reise nach Wunsiedel zurück auf einen dreimonatigen Aufenthalt in der oberfränkischen Stadt, wohin er sich im Sommer 1964 als junger ehrgeiziger Schauspielanfänger von den Versprechungen des Intendanten der dortigen Freiluft-Festspiele locken ließ. In den ausgedehnten Rückblenden wird ein völliges Scheitern an unrealistischen eigenen Ambitionen geschildert, zu dem sich zusätzlich noch der Verlust der in Heidelberg zurückgelassenen, untreu werdenden Freundin ereignet.


    „Wunsiedel“ ist ein Buch, das konsequent wider den Zeitgeist geschrieben ist, denn es behandelt ein Thema, das unzeitgeistiger nicht sein kann: Reue - über vertane Lebenszeit, über fatale Fehleinschätzungen. Zu diesen Fehleinschätzungen gehört die krachend fehlgeschlagene Hoffnung, auf dem real existierenden Theater irgend etwas sinn- und qualitätsorientiertes ausrichten zu können; das naive Vertrauen des angehenden ambitionierten Schauspielers in die Zusicherung eines Provinzintendanten, in ihn als „Nervenschauspieler“ große Hoffnung zu setzen – tatsächlich ging es dem Intendanten, wie sich zeigen wird, um etwas ganz anderes. Eine weitere Fehleinschätzung: die Persönlichkeit eines Schauspielers im bedeutend allgemeinen; eine weitere die Wahl der seelisch labilen und alsbald untreu werdenden Freundin…


    Die Erzähltechnik verschränkt die Erlebnisse des Erzählers mit seiner aktuellen Reflexion während seines Wiedersehens mit der Stadt, läuft also auf zwei eng verknüpften Ebenen ab. Das und das Thema des Buches bedingen einen eher stillen, ruhigen Erzählton, dem es an sarkastischen Einwürfen nicht fehlt. Trotzdem ist der Text nicht ohne Widerhaken, und ich benötigte relativ lange, in den Rhythmus der formal eher konventionellen Erzählung zu finden. Die nötige Distanz, die die Larmoyanz des Helden ebenso vermeidet, wie eine unangemessene Ironie, schafft Buselmeier durch die Schaffung eines zeitlichen Abstandes von 44 Jahren, in denen sich mancher Nebel lichtet.


    Auffallend und für das Textverständnis wesentlich sind die zahlreichen literarischen Bezüge, vor allem auf die Romane des in Wunsiedel geborenen Jean Paul. Längere Passagen beziehen sich ausdrücklich darauf, es sind charakteristische Zitate enthalten; aber auch unterschwellig ist der in Wunsiedel geborene Dichter allgegenwärtig. Der Erzähler selbst trägt den Namen „Schoppe“, als sei er geradewegs dem „Titan“ entlaufen. In einem Brief der fernen Freundin erteilt sie dem fremdelnden Helden einen Rat, welche Haltung er in der ihn abstoßenden Umgebung einnehmen solle, der sich liest wie ein Lebensmotto Jean Pauls selbst. Die wild wuchernde Ästhetik, der Humor und die und Phantasie Jean Pauls erweisen sich dabei als bleibender Zufluchtsort der wunden Heldenseele.


    Dieses Buch setzt viel voraus; hauptsächlich ist es die Kenntnis der wesentlichen Schriften von Jean Paul, ohne die die Haltung des Erzähler selbst nicht wirklich zu verstehen ist. Daneben ist es, man muss es so deutlich sagen, die Reife, rückblickende Reue über biografische Details nachvollziehen und nachempfinden zu können. Pop geht anders.


    Interessant ist die unterschiedliche Rezeption des Romans in der professionellen Kritik. Manche loben einen leichten Sommerroman, den subtilen Humor. Andere erkennen darin, ähnlich meiner Einschätzung, mehr einen ernsten Rückblick auf ungute Erfahrungen, die zu nichts Nutze waren – so Jan Wiele in der FAZ. Eigenartig: ihm waren sogar nebensächliche Details aufgefallen, über die ich auch stolperte – Bäume mit reif leuchtenden Äpfeln und Birnen Anfang Juni. Aber vielleicht ist es ja ein Zeichen für Qualität eines Textes, wenn solche Dinge darin überhaupt auffallen – und nicht etwa klapprige Sätze, fadenscheinige Fabeln, schräge Metaphern, fataler Humor…

    Einmal editiert, zuletzt von Gronauer ()

  • Vielen Dank für diese schöne, ausführliche Rezension.
    Auf meiner Wunschliste rückt das Buch somit ein Stückchen höher.


    Liebe Grüße

    Ein Haus ohne Bücher ist arm, auch wenn schöne Teppiche seinen Boden und kostbare Tapeten und Bilder die Wände bedecken.<br />(Hermann Hesse)

  • Danke für die Rezi. Interessiert mich sehr.


    Gruß, Thomas

  • @klassikfreund
    Hast Du inzwischen mal hineingeschaut?


    Ich lese "Wunsiedel" momentan und muss sagen das es mir sehr gefällt. Das Erinnern und die Verbindung zur Gegenwart, das passt hier sehr gut zusammen. Zu dem gefällt mir persönlich auch die Bedeutungsebene des Ortes Wunsiedel. Obwohl der Roman eher unspektakulär daherkommt, lese ich gerne weiter!

  • Ich habe den Roman nun doch abgebrochen. Nicht weil ich ihn schlecht fand, ich hatte nur das Gefühl ihm momentan nicht die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Daher werde ich warten bis die Zeit dafür besser zu sein scheint.

  • Meine Meinung
    Moritz Schoppe kehrt zurück an den Ort, der ihm den wohl schlimmsten Sommer seines Lebens beschert hat. Dabei habe ich nicht den Eindruck, als ob er heute wirklich glücklich ist. Das mag daran liegen, dass er mit Bedauern von der Zeit in Wunsiedel erzählt und so die Grundstimmung schon traurig ist.


    Über den Moritz von heute kann ich nur wenig sagen. Er erzählt nur wenig über sich, sondern blickt hauptsächlich zurück und bezieht alles, was er im neuen Wunsiedel erlebt auf die Zeit damals.


    Den jungen Moritz hätte ich manchmal schütteln können. Er scheint sich in seiner Traurigkeit wohl zu fühlen, er zelebriert sie geradezu. Anstatt die Freiheit die das Muttersöhnchen wohl zum ersten Mal erlebt, zu genießen und auszunutzen. verkriecht er sich in seinem Zimmer. Zu seinen Kollegen hat er nur wenig Kontakt, ich habe sogar den Eindruck als ob sie unter seiner Würde sind. Schließlich hat er große Ambitionen für die großen Bühnen der Welt. Dass diese Arroganz ihm mehr als einmal den Weg versperrt, sieht er durchaus. Aber er will nicht wahrhaben, dass der Fehler bei ihm liegt.


    Der junge Moritz erinnert mich übrigens sehr an einen Freund, der ihm von den Gedanken und dem Verhalten sehr ähnlich war. Leider haben wir uns aus den Augen verloren aber ich bin sicher, dass er auch dem Moritz von heute ähnelt :zwinker:


    Ich hätte nicht gedacht, dass mir Wunsiedel so gut gefallen würde. Es beschäftigt mich immer noch, auch wenn die Lektüre schon einige Tage her ist. Das macht für mich ein gutes Buch aus.
    4ratten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.