Rezension
Inhalt:
Murakami vereint hier zwei Erzählstränge, die zunächst so gar nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, auf brillante Weise: Ein junger, namenloser Protagonist arbeitet für eine ominöse Datenverarbeitungsfirma, die allerdings die zu speichernden Daten in den Köpfen ihrer Mitarbeiter verarbeitet. Er wird zu seinem nächsten Auftrag in ein mysteriöses Hochhaus gelockt, in dem es scheinbar keine Geräusche gibt, dafür aber ein wunderschönes, fülliges Mädchen und ihren spleenigen Großvater, eine Untergrundwelt, die man durch einen Schrank betritt und einen unterirdischen Wasserfall – in dieser Wunderwelt gibt es einen Auftrag für den jungen Mann, der bald höchst brisante Ausmaße annimmt.
Parallel wird ebenfalls ein junger, namenloser Mann in einer noch merkwürdigeren Welt vorgestellt. Er lebt in einer Stadt, die komplett von Mauern umschlossen ist, und nur die dort lebenden Einhörner dürfen die Stadt verlassen. Jeder hier hat eine Aufgabe, die er bedingungslos erfüllt, und so wird der Mann zum Traumleser ernannt, der aus Schädeln alte Träume liest. Er weiß nicht, wie er hierher gekommen ist, aber er macht sich an seine Aufgabe und entdeckt, dass schlichtweg alles in dieser Stadt mit ihm in Zusammenhang steht…
Murakami zu lesen ist ein Erlebnis. Er hat zwar auch Romane geschrieben, die fast gänzlich ohne Absurditäten und Wunderwelten auskommen (z.B. „Gefährliche Geliebte“), aber eben für seine von Verrücktheiten strotzenden Romane muss man ihn lieben. Er schafft es, das Sonderbare völlig glaubhaft in das real Mögliche einzubetten und schreibt Geschichten, bei denen sich so mancher Fantasy-Autor noch etwas abschauen könnte. Es ist, als betrete man eine Parallelwelt, in der all das Beschriebene durchaus möglich ist und irgendwann sogar plausibel klingt. Denn er verknüpft die Geschehnisse gut, so dass selbst die Vorgänge in „Hard-Boiled Wonderland“ nachvollziehbar bleiben. Der Zusammenhang der beiden Erzählstränge ist der eigentliche Kern des Romans, weswegen ich ihn hier nicht verraten kann. Es sei aber gesagt, dass es sich lohnt, mit Murakami auf die Reise zu gehen. Nicht nur seine wundersamen Geschichten, sondern gerade die Art und Weise, wie er sie schreibt, sind ein Genuss. Er vergisst nie das Augenzwinkern, mit dem man seiner Story folgen muss, sondern lässt immer wieder Ironie anklingen und seine Protagonisten über den Wahnsinn um sie herum lachen. Trotzdem schafft er es, ernste Themen anzusprechen, in diesem Fall vor allem das Bewusstsein und Unbewusstsein und deren Mächte. Seine Plots sind keine flache Aufzählung, sondern haben Substanz, und gerade die gut durchdachten Hintergründe und Theorien setzen dem Ganzen das Sahnehäubchen auf.
Der Autor ist Japaner und schreibt auf Japanisch, so dass mir nur Übersetzungen seiner Romane bleiben. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass mir die englischen Übersetzungen mehr Spaß machen als die deutschen, weswegen ich Murakami bevorzugt auf Englisch lese. Der feine Sinn für Humor scheint mir hier besser eingefangen.
Ein Wort der Warnung noch: man muss sich natürlich auf den Wahnsinn Murakamis einlassen und ihn genießen können. Ich kann mir trotz aller Lobpreisung vorstellen, dass „Hard-Boiled Wonderland“ kein Buch für alle Geschmäcker ist, ebenso wenig wie „Kafka am Strand“ oder „Tanz mit dem Schafsmann“. Wer vielleicht erstmal einen etwas gemäßigteren Eindruck des Autors bekommen will, dem empfehle ich „Sputnik Sweetheart“ – auch wenn er hier nicht alles zeigt, was er kann, ist das vielleicht ein guter Einstieg.
„Hard-Boiled Wonderland“ aber war wie zu erwarten ein weiteres Highlight und bekommt anstandslos fünf Ratten.