Saša Stanišić - Vor dem Fest

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  • Saša Stanišić - Vor dem Fest


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    Inhalt: (Klappentext)


    Es ist die Nacht vor dem Fest im uckermärkischen Fürstenfelde. Das Dorf schläft. Bis auf den Fährmann – der ist tot. Und Frau Kranz, die nachtblinde Malerin, die ihr Dorf zum ersten Mal bei Nacht zeigen will. Ein Glöckner und sein Lehrling wollen die Glocken läuten, das Problem ist bloß: die Glocken sind weg. Eine Füchsin sucht nach Eiern für ihre Jungen, und Herr Schramm, ein ehemaliger Oberst der NVA, findet mehr Gründe gegen das Leben als gegen das Rauchen.


    Niemand will den Einbruch ins Haus der Heimat beobachtet haben. Das Dorfarchiv steht aber offen. Doch nicht das, was gestohlen wurde, sondern das, was entkommen ist, treibt die Schlaflosen um. Alte Geschichten, Sagen und Märchen ziehen mit den Menschen um die Häuser. Sie fügen sich zum Roman einer langen Nacht, zu einem Mosaik des Dorflebens, in dem Alteingesessene und Zugezogene, Verstorbene und Lebende, Handwerker, Rentner und edle Räuber in Fußballtrikots aufeinandertreffen. Sie alle möchten etwas zu Ende bringen, in der Nacht vor dem Fest.

    ___________________________


    Meine ersten Leseeindrücke:


    In kurzen Kapiteln jeweils aus der Sicht von wechselnden Protagonisten werden uns das Dorf und ebenjene Protagonisten vorgestellt. Dabei wechseln sich aktuelle Geschehnisse und Rückblicke in die Vergangengeit des Dorfes ab. Im Dorf liegt momentan einiges im Argen, es floriert nicht gerade, die Jugend zieht weg und es gibt keine Arbeit. Es steht ein Fest bevor, das zunächst rätselhaft erscheint, aber offenbar mit der Geschichte des Dorfes zu tun hat. In diesem Zusammenhang ist die Rede von einer rätselhaften Anna, von der ich zunächst gar keine rechte Vorstellung hatte.


    Zwischendurch tauchen immer wieder kurze Kapitel aus der Sicht einer Fähe auf (ich war immer versucht, "Fähre" zu lesen, da das Buch mit dem Tod des Fährmanns beginnt und dieser auch später immer wieder erwähnt wird), und ich bin auf deren Rolle gespannt. Da sie auf dem Cover abgebildet ist, wird das wohl keine geringe Rolle sein.


    Der Stil ist sehr gewöhnungsbedürftig, meist kurz, knapp, sparsam und nur andeutend und voll von Wortneuschöpfungen und Wortspielereien, unerwarteten Verknüpfungen, die ich teils amüsant und originell fand, die mich zum anderen Teil aber ratlos zurückließen, mit manchen Worten konnte ich nichts anfangen.


    Die Geschichte ist vielversprechend, das Dorf in der Uckermark interessiert mich, und die Atmosphäre, die eingefangen wird, gefällt mir. Trotzdem habe ich das Buch auf S. 94 vorerst abgebrochen, da mir aus persönlichen Gründen momentan die Konzentration zum Weiterlesen fehlt und ich nicht mehr folgen konnte.

    Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden (R. Luxemburg)

    Was A über B sagt, sagt mehr über A aus als über B.


  • Trotzdem habe ich das Buch auf S. 94 vorerst abgebrochen, da mir aus persönlichen Gründen momentan die Konzentration zum Weiterlesen fehlt und ich nicht mehr folgen konnte.


    Schade, es würde mich reizen, mehr von diesem Buch zu erfahren. Von allen auf der Liste fand ich dieses am interessantesten. Aber natürlich geht das Persönliche vor! :winken:

    //Grösser ist doof//

  • Nachdem ich meine Leseflaute halbwegs überwunden habe, habe ich das Buch einfach nochmal von vorne begonnen. Dabei habe ich festgestellt, daß mir bei unaufmerksamem Lesen doch einige Details entgangen sind. Durch die Vielzahl der Personen und die kurzen Kapitel wird das Ganze doch ein wenig unübersichtlich.



    Der Stil ist sehr gewöhnungsbedürftig, meist kurz, knapp, sparsam und nur andeutend und voll von Wortneuschöpfungen und Wortspielereien, unerwarteten Verknüpfungen, die ich teils amüsant und originell fand, die mich zum anderen Teil aber ratlos zurückließen, mit manchen Worten konnte ich nichts anfangen.


    Wortneuschöpfungen ist Quatsch, wie kam ich darauf. Das einzige mir bisher unbekannte Wort ist beiern, die Erklärung dazu wird gegeben, aber ich hatte sie beim ersten Mal überlesen, und es ist keine Schöpfung von Saša Stanišić.


    Tatsache ist, daß der Stil manchmal sehr knapp gehalten ist. Insgesamt wirkt das Buch, als rede da jemand wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Gedankenfetzen werden unmittelbar mitgeteilt, es gibt kurze Sätze und Halbsätze bis hin zu Aufzählungen von Stichworten. Und es gibt unerwartete Gedankensprünge und Verknüpfungen, die manchmal sehr sprunghaft erscheinen, die jedoch einen guten Teil des Lesevergnügens ausmachen.


    Etwas ratlos bin ich noch bezüglich Anna, deren Verbrennung anfangs angekündigt wird, die aber eine ganz normale Dorfbewohnerin zu sein scheint. Auch verwirrend, daß der Autor ab und zu in die Wir-Form übergeht, noch ist mir nicht ganz klar, wer dieses Wir ist.

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  • Etwas ratlos bin ich noch bezüglich Anna, deren Verbrennung anfangs angekündigt wird, die aber eine ganz normale Dorfbewohnerin zu sein scheint. Auch verwirrend, daß der Autor ab und zu in die Wir-Form übergeht, noch ist mir nicht ganz klar, wer dieses Wir ist.


    Anna ist eine Figur, die quasi in allen Epochen der Dorfgeschichte auftaucht, sie bildet so eine Art Kontinuum in der Erzählung. Zugleich ist sie auch die Dorfheilige, deren Patroziniumsfest man begehen will. Sie bildet sozusagen eine Seite der kollektiven Identität des Dorfes. Die andere Seite ist das 'wir', das immer wieder mal im Roman spricht, wie ein Chor in einer antiken Tragödie. Damit ist m. E. gar keine bestimmte Gruppe von Personen gemeint, sondern einfach das, was im Dorf so gilt, wie man dort denkt, redet und handelt. Dahinter tritt dann das Individuum komplett zurück.


    Trotz allen Witzes und aller Heutigkeit hat das Buch an vielen Stellen einen sehr klassischen Ton, so beginnt der Roman ja mit dem Trauergesang über den Fährmann. Der Ton darin ist fast episch, in einer sehr musikalischen und rhythmisch gestalteten Prosa. Und es ist in der Tat eine Prosa, die man fast laut lesen muss. Sie funktioniert als gesprochene Sprache sehr gut. Ich habe das Buch nach dem Lesen auch noch einmal als Hörbuch gehört, was sie m. E. sehr gelohnt hat.


  • Anna ist eine Figur, die quasi in allen Epochen der Dorfgeschichte auftaucht, sie bildet so eine Art Kontinuum in der Erzählung. Zugleich ist sie auch die Dorfheilige, deren Patroziniumsfest man begehen will.


    Ja, inzwischen ist sie mir auch nochmals begegnet. Aber ich hoffe doch, daß es einen Unterschied gibt zwischen der Dorfheiligen, deren Fest man feiert, und der realen Anna, die man hoffentlich nicht verbrennen wird. (Das mit dem Verbrennen hat mich irgendwie aufgeschreckt.)


    Vielleicht geht dem Dorf im Laufe der Geschichte momentan die Puste aus, so wie Anna auf ihrem Lauf? Allerdings glaube ich, daß das Dorf nicht sterben wird und sich nicht unterkriegen lassen wird. Mittlerweile habe ich das Dorf und seine Bewohner liebgewonnen. Dazu muß ich erwähnen, daß ich selber aus dem Osten stamme und diesen Aspekt daher nachempfinden kann. Als "Wessi" liest man das Buch vielleicht etwas anders.



    Die andere Seite ist das 'wir', das immer wieder mal im Roman spricht, wie ein Chor in einer antiken Tragödie. Damit ist m. E. gar keine bestimmte Gruppe von Personen gemeint, sondern einfach das, was im Dorf so gilt, wie man dort denkt, redet und handelt.


    :pling: Danke, die antike Tragödie ist mir nicht so präsent und kam mir hier nicht in den Sinn.


    Danke auch für den Tip mit dem Hörbuch, tatsächlich hat die Onleihe meiner Bibliothek es und ich werde es ausleihen.


    Ich habe nun noch reichlich die Hälfte des Buches vor mir und es gefällt mir zunehmend. Es ist sprachlich gut durchdacht und präzise und sehr abwechslungsreich, ich stelle wiederkehrende Elemente fest wie diese zwei Leute (den langen dünnen und den kleinen dicken), die immer wieder auftauchen, auch ein Fuchs schleicht des öfteren durch die Geschichte. Stellenweise wirkt es sehr sagenhaft, auch weil so viel vom Teufel die Rede ist (ohne diesen immer so zu nennen). Langsam fügt sich alles zusammen. Den Dialog zwischen Frau Mahlke und Herrn Schramm fand ich klasse! :breitgrins: :klatschen:

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    Was A über B sagt, sagt mehr über A aus als über B.


  • [quote='Tomke','https://literaturschock.de/neuesforum/forum/index.php?thread/&postID=801414#post801414']


    Vielleicht geht dem Dorf im Laufe der Geschichte momentan die Puste aus, so wie Anna auf ihrem Lauf? Allerdings glaube ich, daß das Dorf nicht sterben wird und sich nicht unterkriegen lassen wird. Mittlerweile habe ich das Dorf und seine Bewohner liebgewonnen. Dazu muß ich erwähnen, daß ich selber aus dem Osten stamme und diesen Aspekt daher nachempfinden kann. Als "Wessi" liest man das Buch vielleicht etwas anders.


    Ich bin zwar ein 'Wessi', aber das geht mir genauso. Mir ist das Dorf richtig ans Herz gewachsen und ich will da unbedingt jetzt mal hin. Das liegt m. E. vor allem daran, wie Stanisic eine tiefe Sympathie für seine Figuren hat, eine genuine und tief empfindende Menschlichkeit. Dabei romantisiert er nicht und beschreibt sehr treffend auch negative Eigenschaften. Aber alles mit einem gewissen Verständnis, das macht das Buch so wertvoll für mich. Und seither weiß ich, dass ich Ditsches Eierbox unbedingt mal im Original sehen muss. :zwinker:


  • Ich bin zwar ein 'Wessi', aber das geht mir genauso. Mir ist das Dorf richtig ans Herz gewachsen und ich will da unbedingt jetzt mal hin. Das liegt m. E. vor allem daran, wie Stanisic eine tiefe Sympathie für seine Figuren hat, eine genuine und tief empfindende Menschlichkeit. Dabei romantisiert er nicht und beschreibt sehr treffend auch negative Eigenschaften. Aber alles mit einem gewissen Verständnis, das macht das Buch so wertvoll für mich. Und seither weiß ich, dass ich Ditsches Eierbox unbedingt mal im Original sehen muss. :zwinker:


    Ja, du triffst den Nagel auf den Kopf! :klatschen: Man spürt die tiefe Sympathie für das Dorf und seine Menschen, obwohl einige von denen rein sachlich gesehen nicht unbedingt liebenswert sind. Aber sie sind menschlich und der Autor schafft es, uns Lesern genau das nahezubringen.


    Welchen Ort willst du denn besuchen? Ich hielt Fürstenfelde ja eigentlich für fiktiv bzw. für eine Mischung aus verschiedenen Orten. Am Ende dankt der Autor ja einer Menge Ortschaften, die mit Fürsten- beginnen. :breitgrins:
    Einige von denen kenne ich flüchtig aus DDR-Zeiten.
    Vielleicht sollte man sich am ehesten Fürstenwerder anschauen.


    Und um hier endlich mal meine abschließende Meinung zu formulieren:


    Mir hat das Buch ausgesprochen gut gefallen. Dem Autor gelingt es ausgezeichnet, die Atmosphäre in dem uckermärkischen Dorf treffend einzufangen und die Befindlichkeiten, Sorgen, Nöte und Träume seiner Bewohner lebendig werden zu lassen - immer mit dem Hinblick auf die historische Verwurzelung, auf die Dorfgeschichte, in der es bestimmte Motive gibt, die sich über die Jahrhunderte immer wiederholen. Vieles konnte ich gut nachempfinden. Auch Humor kommt nicht zu kurz. Anfangs fiel es mir zwar etwas schwer, mich an die verschiedenen immer neuen Personen und Sichtweisen zu gewöhnen, und einiges kam mir rätselhaft vor, doch als ich nach Beendigung des Buches einige Kapitel vom Anfang und aus der Mitte noch einmal las, merkte ich besser, welche Kreise sich hier schlossen.


    Auch vom Sprachstil her hat das Buch mir gefallen. Worte, Wiederholungen, typische Formulierungen - Sprache wird hier präzise eingesetzt, um Menschen und Zustände zu charakterisieren. Um das genauer auszudrücken, fehlt mir leider das Vokabular - ich kann nur empfehlen, das Buch selber zu lesen. Umso erstaunlicher ist dieser Sprachstil, wenn man dann auf dem hinteren Klappentext liest, daß der Autor erst mit 14 Jahren nach Deutschland kam, Deutsch also wahrscheinlich nicht seine Muttersprache ist.


    Fazit: sehr erfrischend. Es hat sich absolut gelohnt, dieses Buch zu lesen.


    5ratten:tipp:

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    Einmal editiert, zuletzt von kaluma ()


  • Welchen Ort willst du denn besuchen? Ich hielt Fürstenfelde ja eigentlich für fiktiv bzw. für eine Mischung aus verschiedenen Orten. Am Ende dankt der Autor ja einer Menge Ortschaften, die mir Fürsten- beginnen. :breitgrins:
    Einige von denen kenne ich flüchtig aus DDR-Zeiten.
    Vielleicht sollte man sich am ehesten Fürstenwerder anschauen.


    Ja, Fürstenwerder ist das Vorbild für Fürstenfelde. Der Autor hat irgendwann einmal gestanden, dass dsa Nachwort eher eine Nebelkerze ist und gar nicht in den anderen Orten war. :smile:

  • Ich hänge bei diesem Buch gerade fest. Abbrechen will ich es nicht, auch wenn sich das Lesen wie Laufen im zähen Schlamm gestaltet. Aber nachdem ich gelesen habe, dass es kaluma ähnlich wie mir geht, mache ich tapfer weiter.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.


  • Ich hänge bei diesem Buch gerade fest. Abbrechen will ich es nicht, auch wenn sich das Lesen wie Laufen im zähen Schlamm gestaltet. Aber nachdem ich gelesen habe, dass es kaluma ähnlich wie mir geht, mache ich tapfer weiter.


    Halte durch, es lohnt sich. So war es zumindest bei mir. Dass ich zunächst damit Probleme hatte, lag vor allem an mir.
    Man muss sich schon auf das Buch einlassen und aufmerksam lesen, und nachdem ich das getan hatte, wurde es zu einem meiner Highlights des vergangenen Jahres. Deutlich besser als vieles andere, was so an zeitgenössischer Literatur im Gespräch ist/war... Besonders die Sprache habe ich in sehr guter Erinnerung.

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    Einmal editiert, zuletzt von kaluma ()

  • Meine Meinung
    Ich hatte die oben erwähnten Schwierigkeiten während der gesamten Lektüre. Die unterschiedlichen Geschichten der Dorfbewohner haben mich durchaus interessiert. Was mich gestört hat, war dass alles so langsam und umständlich abgelaufen ist, Manchmal hätte ich den einen oder anderen Dorfbewohner am liebsten angeschubst. Ich mag durchaus Geschichten, die ruhiger ablaufen. Hier war es aber schon fast Totenstille.
    2ratten :marypipeshalbeprivatmaus:

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  • Bei mir liegt das Buch auch noch angefangen, etwa auf Seite 100, herum und bisher kann ich mich absolut nicht dazu durchringen, dieses weiter zu lesen. Kirsten macht mir gerade auch nicht sonderlich viel Mut ... :zwinker: Meine Hauptschwierigkeit ist die Langsamkeit der Geschehnisse, wobei man eigentlich bisher noch nicht von irgendwelchen Geschehnissen reden kann...


    Da muss ich dir recht geben. Die gefällt mir auch sehr gut.


    Die Sprache hat mir auch sehr gefallen.

    Wer Bücher kauft, kauft Wertpapiere! - Erich Kästner<br /><br />SLW 2016 9/30

  • Meine Hauptschwierigkeit ist die Langsamkeit der Geschehnisse, wobei man eigentlich bisher noch nicht von irgendwelchen Geschehnissen reden kann...


    Du hast recht. Man hat den Eindruck dass nicht viel passiert, obwohl das nicht stimmt. Es passiert aber nicht viel und nichts Spektakuläres und das noch sehr gemächlich so dass dieser Eindruck entsteht.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Saša Stanišić: Vor dem Fest (2014)


    Der Roman erschien 2014 und wurde mit Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.


    Saša Stanišić, der aus Visegrad im ehemaligen Jugoslawien stammt, legt hier eine Art Dorfchronik aus der Uckermark vor. Ich erwähne das, weil sein Autorenkollege Maxim Biller kritisierte, dass Stanisic hier über Sachen schriebe, die nicht sein Eigenes wären; Er solle lieber über das schreiben, worin er eine authentische Stimme habe, über sein Migrantentum und die damit verbundenen Aspekte. Denn nur damit wäre der Langeweile der etablierten deutschen Literatur aufzuhelfen, die in Topoi erstarrt sei, welche Stanišić in seiner brandenburgischen Geschichte nun aber bediene. Trotz dieser Kritik fand der Roman ein sehr positives Echo.


    Zum Inhalt

    Das alljährliche Annenfest, über dessen Herkunft Ungewissheit herrscht, steht im fiktiven Fürstenfelde (einem Konglomerat verschiedener Ortschaften ähnlichen Namens) in der Uckermark an. Zahlreiche Dorfeinwohner verbringen den Nachmittag und die Nacht vor dem Fest mit zum Teil skurillen, zum Teil nicht erklärbaren Aktionen. Der Fährmann des an zwei Seen liegenden Ortes ist gerade verstorben und lässt die Gemeinschaft ein wenig orientierungslos zurück. Eine Dorfkneipe gibt es auch nicht mehr, deshalb trifft man sich in der Garage von Ulli, wo sich die Männer bei einem preiswerten Bier unter sich fühlen können. Lada, der gerne mal seinen Golf in einem der Seen versenkt und ansonsten das Mädchen für alles im Dorf ist, sein Kumpel, der stumme Suzi und Johann, der Sohn der depressiven Frau Schwermuth vom Heimatmuseum hängen am See ab. Johann soll am Morgen des Festes seine Glöcknerprüfung ablegen, aber die Glocken hängen nicht im Kirchstuhl, sie stehen am See, wie auch immer sie dahin gekommen sind. Da wäre noch der ehemalige Oberstleutnant Schramm, „mit Haltung und Haltungsschaden“, der seinem einsamen und sinnentleerten Leben vielleicht ein Ende setzen will, vor allem weil er keine Zigaretten bekommt. Aber nach einer Nacht voller Auseinandersetzungen mit dem Zigarettenautomaten und der Begegnung mit dem furchtlosen Mädchen Anna bleibt er doch am Leben. Die künstlerische Dorfchronistin Frau Kranz will in der Nacht am See ein Bild für die Auktion auf dem Fest malen, doch es wird erstaunlicherweise sehr grau und unscharf. Daneben spielen auch Tiere eine Rolle, eine Fähe, die ihre Jungen mit Eiern verwöhnen will, Ditzsches Hühner und Wölfe. Und auch die Vergangenheit reicht mit Zitaten aus der Dorfchronik und Wiedergängern in die Gegenwart. Schließlich findet das Fest statt, und auf einem großen Gemälde von Frau Kranz, wenn auch nicht dem in der Nacht entstandenen, finden sich Jung und Alt, Tot und Lebendig von Fürstenfelde zusammen.


    Zur Form

    Stanišić gestaltet diese höchst farbige Story in kurzen Kapiteln, manchmal sogar Einzelsätzen. Er spielt mit Stilen, zum Beispiel einem Spätbarock in den Dorfchronik-Kapiteln und Perspektiven. Die Hauptperspektive ist ein nicht näher definiertes Wir, welches das Geschehen kommentiert und unter dem man so eine Art kollektive und zeitenübergreifende Dorfseele verstehen könnte. Daneben herrscht die Er-Perspektive, meist mit Innensicht, einmal wechselt eine der Hauptpersonen auch in die Ich-Perspektive. Es gibt außerdem einen appellativen Abschnitt, der Verhaltensregeln aufstellt, vielleicht ironisch, im Wesentlichen aber wohl durchaus ernst gemeint, und ein handschriftlich überarbeitetes Typoskript über eine Dorflegende.


    Meine Meinung

    Vor allem aber ist dieser Roman, genau wie die anderen beiden von Stanišić, sehr witzig. Die Personen sind einerseits lebensprall, andererseits so überzeichnet, dass sich zahlreiche lächerliche Situationen ergeben, die aber die Personen nicht herabwürdigen, sondern noch menschlicher machen. Viele von ihnen sind schwermütig oder exzentrisch, weshalb vielleicht der Name von Johann und seiner Mutter das Motiv aufnimmt, aber sie ziehen ihr Leben trotzdem durch und erhalten in der Dorfgemeinschaft ihren – zum Teil etwas abseits liegenden - Platz. Ihr heroisch-lächerliches Leben wird gespiegelt von den tragisch-komischen Versuchen der Fähe, für ihre Fuchsjungen Eier zu stehlen, worüber sie ihre Gesundheit und ihre Jungen verliert. Der Leser wird durch die dauernden Perspektiv- und Zeitsprünge ziemlich gefordert: Dies ist kein Roman, den man über lange Zeit in Häppchen lesen sollte, denn dann verliert man schnell die Übersicht, und einige Notizen zum Inhalt helfen sehr bei der Orientierung.


    Dass der Autor aufgrund seines Migrationshintergrundes lieber die Finger von langweiligen, traditionell deutschen Stoffen lassen soll, wie Biller in der eingangs erwähnten Kritik fordert, kann ich nicht verstehen, denn in diese Dorfgeschichte spielen viele der universellen Versehrtheiten, die Flüchtlingsschicksale, aber auch andere Traumata hinterlassen können und über denen doch die zarte Möglichkeit eines Halt gebenden Miteinanders angedeutet wird, und das geht über ethnische oder generationsspezifische, ja sogar menschliche Grenzen hinweg.

    Ein sehr lesenswertes Buch, das überhaupt nichts von Heimatliteratur im engeren Sinne an sich hat, sondern ein Paradigma für etwas viel Umfassenderes ist.

  • Dass der Autor aufgrund seines Migrationshintergrundes lieber die Finger von langweiligen, traditionell deutschen Stoffen lassen soll, wie Biller in der eingangs erwähnten Kritik fordert, kann ich nicht verstehen

    Ich finde das Argument auch bescheuert. Als ob man als Migrant immer nur über Migration schreiben dürfte :vogelzeigen:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen