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Ich hätte mir keine bessere Zeit für diese Lektüre denken können, als die unsere: Die drückenden Probleme der heutigen Gesellschaft, obwohl sicherlich verschieden von denen, die die Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts plagten, erscheinen uns oftmals als unlösbar – Globalisierung, Überalterung und Radikalisierung, um nur die wenigen der zahlreichen „-ungs“ zu nennen, werden uns wohl noch tief in die erste Hälfte des neuen Jahrhunderts beschäftigen – und wahrscheinlich auch darüber hinaus.
Edward Bellamy (1850 – 1898) setzte sich in seinem Roman „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000“ (unter dem Titel „Looking Backward, 2000 – 1887“ im Jahr 1888 erschienen) mit ähnlich essentiellen Problemen auseinander. Das Buch schlug bei dem nordamerikanischen und europäischen Mittelstand des fin de siecle wie eine Bombe ein und führte schließlich zu der Gründung des Bellamy-Clubs, einer Mischung aus Fanclub und politischer Partei, die nur knapp den Sprung in die Politik der damaligen USA verfehlte.
Der Autor wählte bewusst die Form einer Science Fiction-Utopie aus. Wie zahlreiche andere Bücher dieser Gattung war sein Werk dazu gedacht, auf die krassen sozialen und politischen Missstände seiner Zeit hinzuweisen und der damaligen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, in dem sie die eigene Hässlichkeit deutlich erkennen konnte. Heutzutage mutet Bellamys Stil und die gewählte Form recht angestaubt an. Viele Lösungen, die er vorgeschlagen hatte, waren bereits für die deutsche Übersetzerin (niemand anderer als Clara Zetkin) völlig absurd. Dennoch beinhaltet das Buch, meiner Meinung nach, genügend interessante und innovative Ideen, um auch heute ernst genommen zu werden.
Zum Inhalt: Julian West, ein junger Bostoner, hätte eigentlich keinen Grund zum Klagen – er ist dreißig Jahre jung, reich und mit einer schönen und ebenfalls vermögenden Frau verlobt. Wenn da nicht die zahlreichen Streiks wären, die seine Heimatstadt just zu dem Zeitpunkt erschüttern, als er verzweifelt versucht, den Bau seines neuen Hauses voranzutreiben. Ungeduldig zählt West die verstreichende Zeit, die ihn von dem Moment trennt, an dem er seine Angebetete, nun als seine Frau, in die neue Behausung geleiten wird. Seit jeher an einer besonders lästigen Form der Insomnia leidend, schuf sich der junge Mann ein unterirdisches Schlafzimmer, in dem er, von der Außenwelt abgeschottet, auf etwas Ruhe hoffen konnte. Auch an diesem Abend wird er von einem auf Hypnose spezialisierten Arzt in den Schlaf versetzt.
Nach dem Erwachen stellt West entsetzt fest, dass er sich nicht mehr im Keller seines Hauses befindet. Bald stellt sich heraus, dass er in dem Haus der Familie Leete im Boston des Jahres 2000 zu sich kam. Mr. Leete, ein emeritierter Arzt, berichtet ihm, wie er seinen mesmerisierten Körper in einem Gewölbe gefunden hatte, das rein zufällig während der Bauarbeiten in seinem Garten entdeckt wurde. Anscheinend brannte Wests Haus in jener verhängnisvollen Nacht bis auf die Grundmauern nieder, so dass man ihn für tot erklärt hatte. Fasziniert und entsetzt zugleich, lernt er im Laufe einiger Tage in langen Gesprächen mit dem Doktor, seiner Frau und der Tochter Edith die Realien des Jahres 2000 kennen. Vieles davon lässt uns aus heutiger Perspektive nur noch schmunzeln, einiges lässt den Leser vielleicht grausig erschaudern: Die perfekte Zukunftswelt Bellamys wird von einer zentralisierten und militärisch-straff verwalteten „Arbeiterarmee“ bevölkert – die Armut wurde besiegt, es gibt keine Kriege und keine Klassenunterschiede mehr, die wichtigsten Nationen der Welt sind einer lockeren Union beigetreten.
Es gibt jedoch Passagen, die ich als sehr gelungen erachte. So zum Beispiel die Beschreibung des ersten Spazierganges des „Zeitreisenden“ durch die Straßen von Boston:
“Das Bild des alten Boston stand so frisch und lebendig vor meinem Geiste, daß der Anblick der neuen Stadt es nicht zu verdrängen vermochte. Das alte Boston kämpfte mit dem neuen Boston, und bald erschien es mir das eine, bald das andere als die unwirkliche Stadt, die nur in meiner Einbildung bestand. Alles, was ich erblickte, war verwischt wie eine Reihe übereinander photographierter Gesichter.“
Geschickt gelingt es hier dem Autor, die Klippen einer direkten Beschreibung der Stadt umzugehen, bei der er in unseren Augen nur verlieren könnte, indem er sich konsequent auf die Empfindungen seines Zeitgenossen konzentriert.
Es ist freilich kaum möglich, solche Griffe anzuwenden, wenn es um die konkrete Beschreibung der utopischen Gesellschaft geht. Bellamy vermeidet glücklicherweise allzu viele Äußerungen, die den heutigen Leser nur noch stören würden, gänzlich vermeiden kann er sie allerdings kaum. Recht genau lässt er in einer Art Kammerspiel, an dem nur Julian West und Familie Leete teilnehmen, die wichtigsten Bereiche des Alltagslebens der fernen Zukunft darlegen: Gesellschaftsstruktur, Soziales, Ausbildung, Arbeitsalltag, Freizeitbeschäftigungen, Handel und Finanzen werden in mehreren Dialogen angesprochen. Stets ist der Besucher aus dem 19. Jahrhundert von dem neuen Wissen begeistert. Im letzten Drittel des Buches bringt Bellamy seine Thesen auf den Punkt:
“Eine Gesellschaftsordnung, die auf den falsch verstandenen Interessen der Selbstsucht des einzelnen beruhte und an die gesellschaftsfeindlichen und tierischen Instinkte der menschlichen Natur appellierte, ist durch Einrichtungen ersetzt worden, die auf die wahren Interessen einer vernünftigen Selbstlosigkeit der einzelnen begründet sind und die sich an die sozialen und edlen Triebe der Menschen wenden.“
„Wenn es so einfach wäre!“, seufzt da der moderne Leser. Aber auch, wenn ich Bellamys naive Herangehensweise ablehne, so muss ich ebenfalls aus der Perspektive der inzwischen vergangenen Zeit einige seiner Postulate anerkennend zur Kenntnis nehmen. Besonders hat sich Bellamy beim Thema „Die Rolle der Frau“ hervorgetan. Jahre bevor in den USA auch nur das Wahlrecht für die Frauen eingeführt wurde, schrieb er über sein „USA-Utopia“:
“Heutzutage äußert keine Frau mehr das Verlangen, lieber ein Mann zu sein, keine Eltern den Wunsch, einen Knaben zu bekommen und nicht ein Mädchen. Unsere Mädchen betätigen ebensoviel Ehrgeiz für ihre Laufbahn wie unsere jungen Männer. Die Ehe bedeutet für sie keine Abschließung, keine Einkerkerung, sie trennt sie in keiner Weise von den großen Interessen der Gesellschaft und dem Leben und Treiben der Welt.“
Sätze, die auch heute, global gesehen, visionär und weit von ihrer Erfüllung entfernt zu sein scheinen.
Prophetisch äußert sich Bellamy auch im Kleinen: Er beschreibt unter anderem einige technische Neuentwicklungen, wie zum Beispiel den vernetzten Haushalt, die Kreditkarte sowie… den Radiowecker. Ob beabsichtigt oder nicht, schreibt er Bemerkenswertes über die Freizeitgestaltung der Zukunft:
“Das Verlangen des römischen Volkes nach „Brot und Spielen“ erkennt man gegenwärtig als vernünftig an. Wenn Brot die erste notwendige Bedingung für unsere Existenz ist, so ist Erholung die nächstfolgende, und die Nation sorgt dafür, daß der einen wie der anderen Rechnung getragen wird.“
Das Buch kulminiert in der Aufdeckung eines Geheimnisses um die Familie Leete und bietet unerwartet eine letzte Überraschung, die ich jedoch dem geneigten Leser durch ihre Beschreibung nicht nehmen möchte. Das große Thema dieser Utopie ist die menschliche Solidarität als die einzige Möglichkeit zur Behebung der festgefahrenen sozialen Schieflage der Gesellschaft. Daher wendet sich Bellamy schließlich an seine Zeitgenossen und lässt Julian West in einem verzweifelten Monolog den Finger in die Wunden legen:
“Wißt ihr nicht, daß dicht an euren Türen ungezählte Massen von Männern und Frauen, Fleisch von eurem Fleisch und Bein von eurem Bein, ein Leben führen, das von der Wiege bis zum Grabe nur ein langer Todeskampf ist? Horcht! Ihre Wohnstätten sind ganz nahe. Wenn euer Lachen schweigt, so vernehmt ihr die furchtbaren anklagenden Stimmen: das Jammergeschrei der Kleinen, die am Hungertuch saugend verschmachten; die heiseren Flüche der Männer, die im Elend halb vegetieren und zugrunde gehen; das Feilschen eines Heeres von Weibern, die sich um Brot verkaufen. Womit habt ihr eure Ohren verstopft, daß ihr diese Stimmen nicht hört? In meinem Ohr übertönen sie alles, alles, ich höre nur sie.“
In meinen Augen der stärkste Teil eines Buches, das nach 118 Jahren vieles an Frische, jedoch nur wenig an Aktualität verloren hat.
Ich vergebe: