Clarissa Linden - Unsere Hälfte des Himmels

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    Clarissa Linden - Unsere Hälfte des Himmels


    Inhalt:


    Als die unglücklich verheiratete Lieselotte vom Unfall ihrer Mutter erfährt, macht sie sich sofort auf den Weg von Kassel nach Frankfurt, um ihr beizustehen. Aber was erzählt man einem Komapatienten in den langen Stunden am Krankenbett? Lieselotte macht sich auf die Spurensuche, um ihre Mutter mit Erinnerungen aus ihrem Leben zu unterhalten. Dabei stellt sie fest, dass sie ihre Mutter kaum kennt und dass es in ihrer Vergangenheit ganz schön turbulent zuging; ihre Mutter war eine der ersten Frauen, die fliegen lernten - und endlich kommt sie auch ihrem angeblich im Krieg gefallenen Vater auf die Spur...


    Im zweiten Erzählstrang versetzt uns die Autorin in das Jahr 1935 und erzählt die Geschichte aus der Perspektive von Lieselottes Mutter Amelie, die als junges Mädchen nur das Fliegen im Kopf hat und mit ihrer Freundin Johanna gemeinsam in Berlin eine Karriere als Berufspilotin beginnen will. Ist dies an sich schon ein wahnwitziger Plan, weil Frauen erst die ersten Schritte auf dem Weg zur Emanzipation machen, so kommt ihnen der neue, von den Nationalsozialisten geprägte Zeitgeist völlig unpassend in die Quere, und mit was Amelie auf keinen Fall gerechnet hat: die Liebe ebenfalls.


    Meine Meinung:


    Das Erzählkonstrukt, eine Geschichte auf zwei Zeitebenen zu präsentieren und zwischen den beiden hin und her zu wechseln, ist beleibe nicht neu, funktioniert aber hier bestens und sehr ausgewogen. Clarissa Linden erzählt ihre Geschichte unaufgeregt und verzichtet auf übertriebene dramaturgische Effekte, was mir sehr gut gefallen hat. Sind doch alleine durch die Handlung bereits genug Emotionen mit im Spiel, weil viele große Lebensfragen aufgerührt werden und die Protagonisten vom Schicksal gezeichnet werden.


    Der Hauptaugenmerk liegt auf der Rolle der Frauen, in beiden Strängen. Amelie und Johanne wagen sich mit der Fliegerei an ein Feld, das im Jahr 1935 vor allem den Männern vorbehalten war. Es gibt zwar einige Pionierinnen der Luftfahrt, die auch als große Vorbilder für die beiden dienen. Aber mit der Machtergreifung durch Hitler und die NSDAP wird die aufkeimende Emanzipation der Frauen im Keim erstickt und die beiden müssen sich des öfteren anhören, dass sie lieber heiraten und kleine Arier zur Welt bringen sollen. Was natürlich für beide nicht in Frage kommt, schließlich haben sie sich als Berufspilotinnen zur Ausbildung bei den Bücker-Werken in Berlin beworben.


    Dieser gemeinsame Plan schweißt die Frauen zusammen, so dass in dieser Freundschaft kein Platz für etwas anderes übrig zu sein scheint und die Beziehung der beiden lange Zeit die Handlung prägt. Solange, bis dann ein Mann die Bühne betritt - ab da wird es insofern interessant, dass ein Schatten über der intensiven Mädchenfreundschaft liegt, Entscheidungen getroffen werden müssen und Lebensträume sich verschieben, was eine gehörige Portion Konfliktpotential mit sich bringt. Sehr schön lässt die Autorin uns dabei in das Innenleben ihrer Protagonisten blicken und ihre Entwicklung transparent werden. Noch dazu kommen die Einflüsse des dritten Reiches, die im Laufe der Zeit nicht nur ferne Politik sind, sondern in das Schicksal der einzelnen Figuren eingreifen.


    Im Kontrast dazu steht im anderen Strang Lieselotte in den 1970er Jahren, die zwar vom Dritten Reich und vom Krieg kaum etwas mitbekommen hat, dennoch aber keine emanzipierte Frau ist, sondern unglücklich verheiratet mit Eduard, der sie als Putzfrau und Vorzeigeobjekt, nicht aber als eigenständige Persönlichkeit mit eigenen Wünschen und Vorstellungen sieht. Als LeserIn kann man sehr schön mitverfolgen, wie der Unfall ihrer Mutter sie aus ihrer Lethargie reißt und sie zu einem Umdenken und letztendlich zu einer Neugestaltung ihres Lebens zwingt. Ihre Spurensuche, die raffiniert mit dem anderen Strang verknüpft ist, lässt Amelies Leben im Nachhinein erahnen und bringt Antworten auf Lieselottes viele Fragen.


    Außerdem steht ihr noch Marga zur Seite, eine unkonventionelle, quirlige Nachbarin, die Lieselotte immer dann den nötigen Schubs gibt, wenn sie zaudert. Diese Figur hab ich sehr gerne gemocht, steht sie uns Frauen der heutigen Zeit doch sehr viel näher als die verhärmte Lieselotte, die mir anfangs in ihrer Lebensunfähigkeit doch sehr fremd war. Aber selbstverständlich macht auch Lieselotte eine Entwicklung durch und gewinnt im Laufe der Handlung an Stärke und Profil. Das Ende hat mir sehr gut gefallen; es ist ein versöhnliches Ende, ohne zu sehr weichgespült zu sein, für mich gerade richtig.


    "Unsere Hälfte des Himmels" ist ein Buch, dass mich sehr beschäftigt und auf verschiedene Arten zum Nachdenken gebracht hat. Es ist vor allem ein Buch für und über Frauen, da es sich intensiv mit Frauenthemen beschäftigt. Es ist ein Buch über Freundschaft und über das, was Freundschaft nicht sein sollte. Es ist ein Buch über den Traum vom Fliegen und über die Emanzipation, über eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, eine tragische Liebe und über das Ende einer Ehe. Es ist auf vielerlei Arten emotional, aber an keinem Punkt kitschig - ich hab es sehr gerne gelesen und hoffe, dass es noch viele LeserInnen findet.


    5ratten

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Wow, das hört sich wirklich toll an. Du hattest also recht, dass es was für mich sein könnte ;)

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Da kann ich mich Valentine nur anschließen: das hört sich richtig toll an! Danke für Deine schöne Rezension, Miramis.
    Jetzt freue ich mich noch mehr auf die Lektüre... :klatschen:

    Liebe Grüße

    Tabea

  • In ihrem Roman "Unsere Hälfte des Himmels" nimmt und die Autorin Clarissa Linden mit auf eine abenteurliche und aufregende Reise in die Vergangenheit.


    Wir befinden uns im Deutschland der 30er Jahre. Hier lernen wir Johanna und Amelie, zwei unzertrennliche Freundinnen, kennen. Die beiden haben einen großen gemeinsamen Traum. Sie wollen den Himmel erobern und Pilotinnen werden. Doch es scheint unmöglich, diese Sehnsucht im Deutschland der Narzizeit, zu verwirklichen. Aber trotzdem halten Amelie und Johanna an ihrem Traum fest. Doch dann verliebt sich Amelie in Johannas Fluglehrer - eine Liebe, die in einem folgenschweren Verrat gipfelt.
    Dann machen wir einen Zeitsprung: Wir befinden uns in Deutschland 40 Jahre später. Amelie hat einen schwern Unfall. Ihre Tochter Lieselotte, zu der sie keine besonders enge Beziehung pflegt, eilt an ihr Krankenbett. Und plötzllich wird Lieselotte mit Amelies Vergangenheit konfrontiert. Und sie versteht langsam, welcher Mensch Amelie wirklich ist und wahr. Und das Schicksal ihrer Mutter nimmt Einfluss ihr weiteres Leben.


    Ich bin von Anfang bis zum Ende total begeistert von der Geschichte. Der Schreibstil der Autorin ist einfach spitzenmäßig. Wenn ich die Augen schließe, befinde ich mich in den 30er Jahren. Sehe Amelie vor mir. Ihr wird nicht alles in den Schoß gelegt, sie muss sich vielen erkämpfen und erarbeiten. Und dann Johanna, die auf mich etwas egoistisch wirkt und immer ihren Kopf durchsetzen will. Begeistert bin ich von ihrem Willen, diesen Traum vom Fliegen zu leben. Ich sehr Amelie wie sie mit einem Segelflugzeug die Kreise zieht. Frei wie ein Vogel. Doch leider sind in dieser Zeit Frauen selten Pilotinnen. Es war eine schwierige Zeit und dann schlägt ja auch noch das Schicksal grausam zu. Und dann bin ich in Deutschland im Jahr 1971 in Frankfurt. Der tragische Unfall von Amelie, der einen großen Einfluss auf das zukünftige Leben ihrer Tochter Lieselotte hat. Ich sehe Lieselotte mit ihrem Ehemann Eduard, dem ich gern mal die Meinung gesagt hätte - aber das war ja zu damaligen Zeit eher selten - solche triste Abende. Und dann dieser Kommandeton von Eduard. Einfach schrecklich. Aber wer diese Zeit erlebt hat, kennt vielleicht solche Begebenheiten. Die Autorin hat ja alles so wunderbar beschrieben, dass ich die Bilder von meinem inneren Auge habe. Ich bewundere auch Lieselotte für ihren Mut, sich auf diese Reise in Vergangenheit zu begeben. Toll fand ich auch die Verändung von Lieselotte.


    Eine wunderbare Geschichte. Für mich ein Lesehighlight, mit dem ich abenteurliche, unterhaltsame und spannende Lesestunden verbracht habe.
    Das tolle Cover passt wunderbar. Begeistert war ich auch von der Personenbeschreibung zu Beginn des Buches und von den interessanten Informationen am Ende. Selbstverständlich vergebe ich gerne 5 Sterne.

  • FliegerIN, grüß mir die Sonne
    ... grüß mir die Sterne und grüß mir den Mond!


    So durfte es in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft nicht mehr heißen, in denen die Frauen nur für die Familie da sein sollten.


    Das bekommen Amelie, Johanna und ihre Freundinnen, die seit Jahren dem Segelflug in Frankfurt am Main frönen, zu spüren, wobei Johanna und Amelie sich dennoch um einen Ausbildungsplatz im von ihnen erstrebten Berufsfeld bemühen und durchaus noch darauf Chancen haben.


    Doch unerwarteterweise wird etwas anderes für Amelie wichtiger, als die Liebe in ihr Leben tritt. Wird sich ein Keil zwischen die beiden Freundinnen schieben?


    1971, über dreißig Jahre später: Amelies Tochter Liselotte sorgt sich um ihre Mutter, die ins Koma gefallen ist. Wird sie jemals daraus erwachen und Liselotte eine Antwort auf die vielen Fragen zu ihrer Herkunft geben können? Und wird Liselotte es schaffen, sich von ihrem spießigen Mann Eduard zu lösen, der sie nur als Heimchen am Herd zu brauchen scheint?


    Die junge Nachbarin ihrer Mutter, die Studentin Marga wird eine unerwartete Hilfe für Liselotte bei dem Versuch, das Tor zur Vergangenheit zu öffnen.


    Ein Buch über die Rolle der Frau im Laufe des 20.Jahrhunderts, die uns Frauen des 21. Jahrhunderts zeigt, dass unsere Ahninnen es um einiges schwerer hatten als wir und nicht wenige Hürden zu nehmen hatten. Für meinen Geschmack enthält dieser Roman, der insgesamt durchaus mitreißend und spannend ist, ein paar Klischees zu viel. Doch ist es wahrlich interessant, die Geschichte der Fliegerinnen und einige (erfundene) Einzelschicksale zu verfolgen. Ein Buch über Frauen, die ihren eigenen Weg gehen wollten!
    4ratten

  • Im Frankfurt der siebziger Jahre liegt Lieselottes Mutter Amelie nach einem Unfall im Koma.
    Lieselotte fährt zu ihrer Mutter, um ihr nahe zu sein und sie durch Geschichten und Erinnerungen wieder zum Aufwachen zu bringen.
    Allerdings standen sich Lieselotte und Amelie nie sonderlich nahe und Lieselotte weiß wenig über die junge Amelie. Sie selbst hat sich immer irgendwie nicht ausreichend geliebt gefühlt und fragte sich stets, warum ihre Mutter immer irgendwie unnahbar war und einen kaltherzigen Eindruck machte.
    Bei der Suche nach Hinweisen auf Amelies Vergangenheit stößt Lieselotte auf eine ganz andere Amelie... Und Lieselotte selbst findet endlich den Mut, nicht nur ihre Mutter neu kennenzulernen, sondern auch sich selbst.


    Auf diese Weise erfährt der Leser einerseits etwas über die Frauen in den siebziger Jahren und begleitet Lieselotte auf der Reise in ein neues, eigenständiges Leben.
    Auf der anderen Seite lernt man die junge Amelie kennen und mit ihr ihre beste Freundin Johanna. Die beiden jungen Frauen versuchen im Deutschland der dreißiger Jahre, ihren großen Traum vom Fliegen zu verwirklichen. Das ist ihr ein und alles. Beide haben sich geschworen, miteinander diesen Lebenstraum wahr werden zu lassen. Doch dann verliebt sich Amelie in den Fluglehrer Felix und das Drama nimmt seinen Lauf.


    Beide Erzählungen sind äußerst geschickt miteinander verbunden und so spannend geschrieben, dass ich mich jeweils in dem aktuellen Teil verloren habe und vollkommen in die Geschichte abtauchen konnte.
    Die Einbindung der geschichtlichen Hintergründe und die Hommage an die fliegenden Frauen war so toll geschrieben und das Thema so spannend, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte. Das war mal wieder ein Roman, der mich richtig beeindruckt hat. Die Leistungen, die die Frauen in den dreißiger Jahren vollbracht haben, was sie alles auf sich nehmen mussten, um ihre Träume leben zu können...
    Wundervoll, dass ihnen mit dieser Geschichte auch ein kleines Denkmal gesetzt wurde!

  • 1971 fällt Amelie nach einem schweren Unfall ins Koma. Lieselotte, ihre Tochter, kommt nach Frankfurt am Main, um sich um ihre Mutter zu kümmern. Doch was als pflichtschuldiger Akt der Unterstützung gedacht ist, entwickelt sich zu einer Reise in die Vergangenheit der Mutter und der Suche nach einem eigenen, selbstbestimmten Leben.
    Gute 30 Jahre früher träumen die beiden Freundinnen Amelie und Johanna davon, ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu leben. Und zwar als Pilotinnen - ein sehr gewagter Wunsch in der damaligen Zeit, in der die Rolle der Frau ganz anders definiert wird...


    Obwohl Lieselotte in den Siebzigern lebt, hat sich nicht viel am klassischen Rollenverhältnis geändert. Sie führt ein Leben als Hausfrau und kann nicht von sich behaupten, dass sie dieses oder ihre Ehe als ausfüllend empfindet; doch sie hat sich gefügt. Als sie dann zwischen Krankenhausbesuchen und der Wohnung ihrer Mutter erkennen muss, dass sie Amelie nicht wirklich gekannt hat, beginnt sie sich auf die Suche nach deren Geheimnis zu machen. Ob sie nach all den Jahren verstehen kann, warum sie sich beide nie sonderlich nahe standen, und auch endlich etwas über ihren Vater erfahren wird?


    Amelie und Johanna sind auf dem beschwerlichen Weg, sich ihren Lebenstraum zu erfüllen - denn das haben sie sich geschoren, trotz aller Widrigkeiten. Ist die noch junge Fliegerei nur den Männern vorbestimmt, gibt es doch eine Handvoll Frauen, die sich durchsetzten konnten und den beiden Freundinnen als Vorbilder dienen. Doch die Ideologie der Nationalsozialisten macht die ersehnte Zukunft in mehrerlei Hinsicht fast unmöglich.


    Sowohl Tochter als auch Mutter müssen sich abnabeln: Amelie von ihrer alles überstrahlenden Freundin Johanna, die sie gerne auf Linie hält, und Lieselotte muss erkennen, dass sie ihre lieblose Ehe und ihr Hausfrauen-Dasein in Kassel dringend abschütteln sollte, möchte sie ein glückliches Leben führen. Zum Glück hat Lieselotte in Marga eine Freundin gefunden, die ihr ab und an den nötigen Schubs gibt.
    So müssen letztlich beide Frauen lernen, über sich hinaus zu wachsen - gegen alle Rückschläge, Zweifel und Widerstände.


    Sicher, dieser Kniff, eine Geschichte nahezu gleichwertig auf zwei Ebenen spielen zu lassen, die sich nach und nach ergänzen, ist nicht neu - aber Clarissa Linden beherrscht ihn wirklich gut. Beide Stränge erzählen atmosphärisch dicht und gekonnt recherchiert von den jeweiligen Lebensumständen der beiden Hauptfiguren. Dabei ist besonders erschreckend, wie wenig sich das Thema Emanzipation in über 30 Jahren verändert hat. Daher fand ich es toll, dass die sich stärker entwickelnde Bewegung in den 70ern eine Rolle in diesem Roman bekommt. Aber auch die Beschreibung einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung ist der Autorin in meinen Augen geglückt - vor allem in Anbetracht dessen, dass man immer mehr begreift, was eigentlich Auslöser all dessen war.


    Alles in allem ein spannender und berührender Roman, der sich zwei Frauen und ihrer Entwicklung widmet und dabei wichtige Themen aufgreift: die Frauenbewegung und ihre Errungenschaften, den schwierigen Versuch, gegen den Widerstand des Großteils einer Gesellschaft zu agieren und seinen Traum zu leben und - last but not least - die beste Freundschaft zwischen Menschen, die dennoch so fragil sein kann...


    5ratten

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Das klingt wirklich toll! Ich habe von der Autorin schon unter anderem Namen gelesen, aber das hier muss ich wohl unbedingt auch bald mal anpacken!

    LG, Dani


    **kein Forums-Support per PN - bei Fragen/Problemen bitte im Hilfebereich melden**

  • Als ihre Mutter Amelie nach einem Unfall bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert wird, lässt Lieselotte alles stehen und liegen und fährt nach Frankfurt. Zwar hat sie ihrer kühlen, zurückhaltenden Mutter nie besonders nahegestanden, doch der Gedanke, dass sie sie verlieren könnte, bedrückt sie doch sehr. Umso mehr, als Amelie nie preisgegeben hat, wer Lieselottes Vater war. Alles, was sie ihr jemals erzählt hat, war, dass er im Krieg gefallen sei.


    Ob Amelie jemals das Bewusstsein wiedererlangen wird, steht in den Sternen. Lieselotte quartiert sich vorübergehend in der Wohnung ihrer Mutter ein, um, in der Nähe sein zu können. Wenn sie ganz ehrlich zu sich ist, muss sie zugeben, dass sie froh ist, einmal aus der erstickenden Enge ihrer Hausfrauenehe herauszukommen und sich ausnahmsweise einmal nicht nach den Forderungen und Launen ihres Mannes richten zu müssen. Und so beginnt sie nicht nur, in Bildern und Briefen ihrer Mutter nach Spuren ihrer Vergangenheit zu suchen, sondern auch mit einer Suche nach sich selbst und dem, was sie wirklich will.


    Über Amelies früheres Leben fördert sie schließlich Erstaunliches zutage: Ihre Mutter war einst eine begeisterte Segelfliegerin, die zu einer „Himmelsstürmerinnen“ genannten Clique junger Pilotinnen gehörte. Auch ihre beste Freundin Hanni war Fliegerin, und Lieselotte hofft, sie ausfindig machen und von ihr Auskunft über ihren Vater erhalten zu können.


    Diese Spurensuche in der Familiengeschichte ist nach dem bewährten Zwei-Zeitebenen-Schema aufgebaut und spielt hier wie dort in bewegten Zeiten. Als Amelie an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht und die Chance, ihren Traum, auch beruflich Fliegerin zu werden, zum Greifen nahe scheint, sind die Nazis seit zwei Jahren an der Macht und haben bereits ein Klima von Führerkult und Denunziantentum geschaffen, dessen Auswirkungen auch schon in ihrem Umfeld spürbar wurden. Obwohl Amelie selbst überhaupt kein politischer Mensch ist, findet sie sich schließlich selbst zwischen allen Fronten wieder und muss schließlich einige schwere Entscheidungen treffen.


    Lieselotte, Mitte 30, beobachtet Anfang der 70er Jahre von ferne mit einem vagen Sympathiegefühl die Demonstrationen gegen den Paragraphen 218 und die erstarkende Frauenbewegung, all das, was ihr Mann verächtlich als „Emanzentum“ betitelt. Gerne wäre sie auch wie diese unerschrockenen Frauen, die ihre Rechte einfordern und sich von den Männern nichts mehr vorschreiben lassen wollen.


    Klappentext und Titel täuschen ein wenig darüber hinweg, dass die Fliegerei gar nicht so sehr im Vordergrund steht, wie man vermuten könnte. Genausogut könnten Amelie und ihre Freundinnen stattdessen passionierte Tennisspielerinnen, Wissenschaftlerinnen oder Rennfahrerinnen sein – abseits vom Namedropping der bekanntesten Pilotinnen jener Zeit, Flugzeugtypen und ein paar kleinen Flugszenen erfährt man im Roman nicht allzu viel über die Materie (ein bisschen mehr gibt es im Anhang zu lesen). Schön sind die Zitate aus dem Mund verschiedener Fliegerinnen, die jedem Kapitel vorangestellt sind.


    Vielmehr steht eigentlich Lieselottes persönliche Entwicklungsgeschichte im Vordergrund. Sie macht während ihres Aufenthaltes in Frankfurt nicht nur einige neue Bekanntschaften, die ihr guttun, sondern lernt auch, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und für sich einzustehen. Wie das in schließlich endet, wirkt vielleicht ein bisschen überstürzt, aber durchaus folgerichtig.


    Das Geheimnis um die Vaterschaft an sich löst sich schon ziemlich früh. Weswegen Amelie jedoch seine Identität so konsequent verschwiegen hat und wie Lieselotte dem Ganzen auf die Schliche kommen wird, nimmt noch einmal einige hundert Seiten in Anspruch und löst sich dann in etwas dick aufgetragenem Drama auf. Das fand ich nicht so ganz überzeugend, wie mir auch die Freundschaft zwischen Amelie und Hanni etwas zu symbiotisch und exklusiv vorkam.


    Vor allem zu Beginn fallen zudem ein paar kleine Ungereimtheiten ins Auge wie wechselnde Augenfarben oder andere Widersprüchlichkeiten, das gibt sich zum Glück später. Was ich auch nervig fand, waren die in Anführungszeichen gesetzten Markennamen. Die Erwähnung zeittypischer Marken wie Pril oder Grundig passen perfekt zum gut gemachten Zeitkolorit, aber wozu die Gänsefüßchen?


    Alles in allem ein unterhaltsamer zeitgeschichtlicher Roman mit kleinen Schwächen, in dem das Titelthema leider ein wenig zu kurz kommt.


    3ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen