Christina Dalcher - Vox

Es gibt 4 Antworten in diesem Thema, welches 968 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Kiba.

  • Kaufen* bei

    Amazon
    Bücher.de
    Buch24.de

    * Werbe/Affiliate-Links



    Titel: Vox
    Autorin:
    Christina Dalcher


    Allgemein:

    400 S.; S. Fischer; 2018


    Inhalt:

    USA, 21. Jahrhundert: 100 Wörter Pro Tag, kontrolliert durch einen Zähler den jede Person weiblichen Geschlechts, egal wie alt ums Handgelenk tragen muss. Wer die Zahl übertritt muss mit harten Strafen rechnen. Keine Frau darf mehr arbeiten, es sei denn im Haushalt. Der Zugang die Bildung wird ihnen verwehrt. Dr. Jean McClellan, Linguistin, anerkannte Ärztin verliert ihre Arbeit und findet sich als Hausfrau am Herd wieder. Wärend ihre Mann Patrick einen wichtigen Job hat, ausgerechnet für den neuen Präsidenten. Doch dies sorg auch dafür, das sie immer mal Zugang zu wichtigen Informationen hat, da ihrem Mann manchmal etwas herausrutscht. Doch sie ist auch wütend, auf ihren Mann, der nie etwas tut oder sagt, das sie Ordnung verändern könnte, obwohl er sie durchaus kritisch sieht. Auf ihren Sohn Steven der neuerdings der Meinung ist, das Frauen nur die Aufgabe haben Ehefrau und Mutter zu sein und dies der natürlichen Ordnung entspricht. Auf sich selbst weil sie sich nie politisch engagiert hat und die Warnungen ihrer Studienfreundin Jackie ignoriert hat, als sie noch die Möglichkeit hatte aktiv etwas zu tun. Doch dann hat sie plötzlich die Chance genau dies wieder zu ändern, der Bruder des Präsidenten hat einen Unfall und leidet seit dem an einer Hirnkrankheit die es ihm nicht erlaubt, verstehbare Sätze zu formulieren. Jean findet per Zufall heraus das noch zwei weitere Teams beteiligt sind und beginnt sich zu fragen,was genau die Regierung vor hat und wie sie die Pläne verhindern kann...


    Meine Meinung:

    Das Sprache eine wichtige Bedeutung hat, das ist kein neuer Aspekt in Dystopien. Im Gegenteil z.B. weiß schon George Orwell in 1984 das Sprache ein Mittel sein kann, um deutlich zu machen, wie sich eine Gesellschaft verändert hat.


    Christina Dalcher stellt sich nun die Frage was eigentlich bedeutet, wenn ganze Bevölkerungsgruppen ihre Sprache verlieren sollen - weil es ihnen verboten ist, sie überhaupt zu Nutzen. Frauen wird es verboten mehr als 100 Wörter pro Tag zu sprechen, so die Ausgangslage des Romans. Allerdings befinden wir uns hier nicht etwa in einer bereits an diese Tatsache gewöhnten Gesellschaft,:rolleyes: sondern in einer Umbruchssituation. Die Erwachsenen Frauen sind gut ausgebildet und waren es gewohnt zu arbeiten, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten und wären niemals auf die Idee gekommen, das der Zustand wie er im Roman herrscht, überhaupt jemals im Amerika des 21.Jahrhunderts wieder möglich wäre.


    Inhaltlich ein interessantes Buch, das aber auch die Ängste wiederspiegelt, wie sie von Trumpgegnern und auch den Kritikern an radikalen christlichen Gruppierungen (deren politische Macht in den USA nicht zu unterschätzen ist) geäußert werden. So gibt es deutliche Parallelen zu den jetzigen Zuständen in den USA und ich die Figur des Carl - dem wichtigsten religiösen Führer mit Einfluss - rekruiert auf verschiedene evangelikale Führungsfiguren. Gleichzeitig versucht die Autorin auch aufzuzeigen, wie schnell diese Entwicklungen von statten gingen.


    Dieser Punkt ist ihr meiner Meinung nach sehr gut gelungen. Die schleichenden Entwicklungen, die viele Aktivisten*innen erst bemerkt haben, als sie plötzlich vor den vollendeten Tatsachen standen. So möchte die Erzählerin ihren Reisepass verlängern und muss feststellen, das es Frauen schlichtweg nicht mehr gestattet ist das Land zu verlassen. Oder auch die Auswirkungen die der Wortzähler auf das Leben hat. Die Angst vor der Bestrafung (in Form eines Stromschlages der bis hin zum Tod führen kann), aber auch der öffentlichen Demitütigung ist dabei nur die Spitze des Eisberges. Sonia, die Tochter der Erzählerin ist gar stolz darauf an einem Tag die wenigste Wortanzahl der Klasse gesprochen zu haben.


    Die Sprache auf ein Minimum zu reduzieren ist dabei nur Ausdruck des ganzen Weltbildes, das die radikalen Gruppen im Roman vertreten. Dabei steht die Vorstellung im Mittelpunkt das Gott den Mann erschaffen hat und die Frau aufgrund der Tatsache, das sie aus seiner Rippe geschaffen ist, unter ihm steht und ihm dienen muss. Sie braucht keine Schuldbildung, da sie für den Haushalt und die Kinder zuständig ist - für nicht mehr und nicht weniger. Die Ehe ist der Mittelpunkt der Gesellschaft, Sex vor der Ehe oder Ehebruch werden mit Arbeitslager bestraft. Homosexualität (und alles dazwischen, drüber und drunter) gilt als Heilbar, auch hier droht das Arbeitslager, sofern diese Menschen nicht heteronorm heiraten und bald Kinder vorweisen können, um zu beweisen das sie nicht nur um sich zu retten geheiratet haben. Nicht umsonst heißt der Roman Vox - lat. Stimme.


    Die Schwäche des Romans liegt einerseits in der Art und Weise wie die Handlung aufgebaut wird.Ständig erfährt man in Rückblenden, was vor den Entwicklungen passiert ist und wie es dazu kam. Ich persönlich hätte es interessanter gefunden eine bereits an die Zustände gewöhnte Gesellschaft zu erleben, in der aber manchen deutlich klar ist, das sich etwas ändern muss.Andererseits zeigt der Roman so natürlich, das man gerade in Umbruchsituationen eventuell noch am ehesten etwas zum Besseren verändern kann und eventuell noch Dinge wieder umkehren kann, bevor es zu spät ist. Bevor sie so selbtverständlich geworden sind, das sie nicht mehr umkehrbar sind - weil niemand sie mehr hinterfragt. Trotzdem, die Rückblenden fand ich etwas ermüdend.

    Zweitens war die eingebaute Liebesgeschichte einfach völlig überflüssig für den Roman. Die Handlung hätte absolut ohne sie funktioniert, zu Mal sie auch für die Beziehung zwischen Jean und ihrem Mann aufgrund der weiteren Entwicklungen ebenfalls unnötig wurde. Das fand ich schade, weil hier meiner Meinung viel Potential verschenkt wurde. Ich fand, das die Autorin das Konzept mit Sprache und den wenigen Worten noch etwas stärker hätte ausbauen können. Auch das Spannungsfeld in ihrer Familie hätte ruhig noch mehr Tiefe haben können. Vor allem ihr Sohn Steven handelte ehrlich gesagt ziemlich Stereotyp und man merkte das Konstrukt dahinter. Ich gebe zu, das mir hier aber auch andere Entwicklungen nicht so gut gefallen haben. Das liegt daran, das plötzlich immer mehr Gegner auftauchen, das ist zwar schön und gut, aber wirkt an vielen Stellen arg herbeigewünscht.


    Immer wenn es mal sperrig wird, wenn Probleme auftauchen, werden sie schön praktisch gelöst. Dummerweise aber so, das ich die Konstruktion immer wieder durchschauen konnte. Die Autorin gibt selbst an den Roman innerhalb von nur wenigen Wochen geschrieben zu haben - um ehrlich zusein merkt man das. Vieles bleibt mir persönlich zu oberflächlich.

    Auch wenn der Roman andererseits wirklich wichtige Themen anspricht. Etwa das auch Feministinnen keinesfalls eine homogene Strömung darstellen und das gerade schwarze Feministinnen sich diskriminiert fühlen, das viele Menschen erst etwas unternehmen wenn es bereits zu spät ist (etwa direkt nach einer Wahl zu protstieren, statt schon vorher aktiv zu werden) oder eben auch die Frage, welche Macht eigentlich der aktiven Rechten und evangelikalen Gruppen in den USA gegeben werden. Explizit sind die Entwicklungen nur auf die USA bezogen. Einer USA die recht deutlich das USA nach der Wahl Trumps meint. Wer sich noch nicht so sehr mit diesen Fragestellungen beschäftigt hat, wird sicher neue Denkanstöße erhalten, wer das schon vorher getan hat, wird sich vielleicht auch ein bisschen langweilen und vielleicht noch bestätigt in seiner Meinung fühlen. Da ich aber in erster Linie lese um mich zu unterhalten, fand ich das zum Teil eben ermüdend mit einer leicht durchschaubaren Handlung.Das finde ich deshalb Schade, weil VOX eben eine interessante Idee hat und gerade durch den Fokus auf die Macht von Sprache und welche Bedeutung sie auch dafür hat, auch kulturwissenschaftliche Theorien einbindet.

    An einigen Stellen konnte ich trotz meiner Kritikpunkte nicht aufhören zu lesen. Mein Hauptinteresse lag dabei auf der reinen Tatsache, was dieses Nichtsprechen mit den Frauen anstellt. Ich habe mich auch immer wieder selbst gefragt, wie ich zu den verschiedenen Punkten stehe, die der Roman kritisch hinterfragt. Ich finde es ist eine unglaublich erschreckende Vorstellung Sprache nicht mehr zu benutzen. Das geht ja schon bei der Äußerung von Gefühlen los. Jean kann ihrer eigenen Tochter kaum noch richtig Sagen, das sie sie liebt. Selbst Handzeichen sind nicht möglich, da hier auch die Nonverbalte Kommunikation mit einbezogen ist, etwa Handzeichen.


    Kurz gesagt:

    VOX erscheint mir vor allem als Roman, der jetzt die Sparte "wir brauchen jetzt Aufgrund der hohen Nachfrage ganz schnell feministische Romane" bedient, dabei aber meiner Meinung nach sein volles Potential nicht ausschöpft. Trotzdem behandelt er wichtige Themen und kann sicher auch zum Nachdenken anregen. Ich persönlich fand ihn insgesamt aber eher mittelmäßig.


    Von mir gibt es:

    3ratten :marypipeshalbeprivatmaus:


    vielen Dank für das Lesexemplar an S. Fischer

  • viele Rezensenten bemängeln auch, dass hier eine ganze Religion verantwortlich gemacht und als das ultimative böse dargestellt wird und eine sexistische Diskriminierung gegen das männliche Geschlecht stattfindet a la 'das ist kein richtiger Mann, weil er seine Frau nicht schlägt' usw. Kannst Du dazu auch was sagen? das würde mich nämlich brennend interessieren.

    ~~ noli timere messorem ~~

  • TheNightingale

    Die sexistische Diskriminierung gegenüber den Männern findet in der Handlung tatsächlich dadurch statt, das Männern hier zugeschrieben wird = durch die neue Regierungsform! - das sie die "Männer" im Haushalt sein müssen. Also eine als traditionelle und biologisch vorgegebene Rolle einnehmen sollen, ebenso wie die Frauen. Laut den neuen gesetzlichen Regelungen im Regime. Nicht durch die Autorin!


    Zur Frage nach Religion: Ja hier wird explizit eine christliche Strömung die sehr konservativ ist in den Fokus genommen. Das liegt sicher daran, das gerade Evangelikal christliche Strömungen in den USA - und der Roman ist sehr auf die USA und die Situation momentan zugeschnitten - ziemlich an politischer Macht gewonnen haben. Vor allem in den letzten 2 Jahrzehnten. Daher ist die Situation im Roman nicht gar so unrealistisch, wie das eventuell Lesern/erinnen vorkommen kann, die nur die Religionskritik sehen. Diese spezielle Wählergruppe ist eine sehr wichtige, vor allem für die Republikaner von denen sie traditionell (bis interessanterweise bei der Wahl von Obama) gewählt werden. Ich würde nicht sagen das nur Religion verantwortlich gemacht wird.

    Sie versucht auf jeden Fall heraus zu arbeiten, das es verschiedene Gründe gibt weshalb das Szenario überhaupt entstehen konnte. Z.B auch die Gleichgültigkeit gegenüber Wahlen und deren Auswirkungen, überhaupt auch einer Politikverdrossenheit.


    Für mich persönlich ist es einfach erstens die konservative Möglichkeit die die Autorin selbst kennt und zweitens eben die welche explizit in den USA realistischer wäre als eine andre. Auch wenn ich finde das sie hier z.B die rechten Gruppen nicht in den Blick nimmt, die z.B Trumps Wahlkampf massiv unterstützt haben.

    Mein Eindruck ist, das sie eventuell versucht hat das Szenario so zu gestalten, das sich bestimmte Lesende nicht verprellt fühlen und sie annahm das die stark konservativ religiösen Menschen ihr Buch eh nicht lesen würden.

  • Vox von Christina Dalcher


    Dr. Jean McClellan ist außer sich, als sie die neue Verordnung der amerikanischen Regierung selbst zu spüren bekommt. 100 Worte darf jede Frau nur noch sprechen pro Tag. Für jedes weitere Wort setzt es Bestrafungen mittels einer Handgelenksschelle – Ein Stromschlag für jedes zusätzliche Wort. Jean kann ihren Beruf als Wissenschaftlerin nicht mehr ausüben und sie sieht, wie ihre kleine Tochter Sonia mehr und mehr in der gewünschten Linie der Regierung geht. Und das ist erst der Anfang, Jean begehrt auf.


    Allein bei der Lektüre des Klappentextes standen mir die Haare zu Berge (Zugegeben, meine Ausflüge in dieses Sub-Genre sind selten. Ich habe weder „The Handmaides Tale“ noch ähnliche Bücher in meinem Regal stehen, deshalb ist die Grundgeschichte für mich auch noch relativ neu).

    Schon der Beginn des Buches hat sich sehr gut lesen lassen. Man spürt, dass die Autorin fundiertes Linguistisches Hintergrundwissen besitzt, welches sie in diesem Roman erschreckend gut verarbeitet hat. Jean als Protagonistin ist ein bisschen stereotypisch aufgebaut. Eine Wissenschaftlerin, auf Vernunft fokussiert, beobachtet mit Schrecken was im Amerika des 21. Jahrhunderts um sie herum geschieht, nur weil Menschen wie sie (Sie wird im Buch als Prototyp herangezogen) zum falschen Zeitpunkt ihre politische Stimme nicht genutzt haben, die Füße still gehalten und geschwiegen haben, als es an der Zeit war, Farbe zu bekennen. Jean kann glaubhaft ihren Schrecken und ihre Wut vermitteln, sodass der Leser die Emotionen, die sie überschwemmen, spürt.

    Natürlich muss es eine Liebesgeschichte geben. Sonst wäre es ja langweilig. Wobei ich finde, dass in „Vox“ das richtige Maß getroffen wurde. Keine schwülstigen Ergüsse, sondern eher ein paar sarkastische Einwürfe von Jeans Seite.

    Insofern richtet der Leser seine Aufmerksamkeit auf die Aphasie-Forschungen, die in diesem Roman fiktiv angestellt werden, und auf den politischen Hintergrund – und der ist wahrhaft erschreckend, wenn man darüber nachdenkt. Dalcher hat die Entmündigung am Beispiel der Frauen durchdekliniert. Redeverbot, Bildungsverbot, Meinungsverbot. Doch diesen Szenarioschlüssel kann man an jede beliebige Gruppierung anlegen. Farbige, LGTB+, Flüchtlinge und so fort. Und wenn man sich die aktuelle Politik betrachtet, kann man Tendenzen zur Radikalisierung erkennen – und genau dieser Punkt ist einfach nur erschreckend – und macht das Buch so real.


    Über das Ende kann man sich streiten. Ich hatte ein wenig das Gefühl, dass hier ein Happy-End herbeigeführt werden musste, um den Ernst des Buches zu entschärfen. Gut und schön, damit kann ich für meinen Teil leben, auch wenn das Heldentum der Geschichte praktisch aufgeteilt wurde. Dafür hatte das Buch kaum Längen und ich tauchte gerne in Jeans sprach- und zeichenlose Welt ab. Die Emotionen, die sie hegte, konnte ich gut nachvollziehen.


    Ein Schreckensszenario, das auf leisen Sohlen daherkommt. Politisch und in das tiefste Innere von Familienbanden eingreifend. Und das ist der eigentliche Punkt für meine sehr gute Bewertung. In diesem Buch ist es erschreckend einfach, das herrschende System auf den Kopf zu stellen und eine totalitäre Struktur zu etablieren, die auf Überwachung und Unterdrückung fußt. Deshalb vergebe ich für „Vox“ 5 Sterne.

    Home is people, not a place (Robin Hobb, Live Ship Trader)