Jean-Philippe Blondel - Ein Winter in Paris

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  • Jean-Philippe Blondel - Ein Winter in Paris


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    Gebundene Ausgabe: 188 Seiten

    Verlag: Deuticke Verlag (24. September 2018)

    ISBN-13: 978-3552063778

    Originaltitel: Un hiver à Paris

    Übersetzung: Anne Braun

    Preis: 19,00 €

    auch als E-Book erhältlich


    Ein starker Roman muss nicht dick sein


    Inhalt:

    Victor zieht aus der Provinz nach Paris. Dort besucht er die Vorbereitungsklasse des Lycée D. für den „Concours“, die Aufnahmeprüfung für die französischen Elite-Universitäten. Als Außenseiter wird er von seinen Kommilitonen ignoriert. Kaum einer räumt ihm eine Chance ein, den Concours zu bestehen - auch er selbst nicht. Vereinsamt und unter dem enormen Druck, den die Lehrer machen, bringt er schließlich das erste Vorbereitungsjahr hinter sich. Nach den Ferien kommt Mathieu an die Schule - wie Victor ein Außenseiter. Es ergibt sich eine lockere Freundschaft zwischen den beiden jungen Männern, aus der vielleicht mehr hätte werden können. Ja wenn sich Mathieu nicht mitten in einer Unterrichtsstunde das Leben genommen hätte. Als Freund des Opfers steht Victor plötzlich im Rampenlicht. Er wollte dies nicht, aber trotzdem genießt er die Zuwendung der anderen. Auch zu Mathieus Vater entwickelt sich eine gewisse Beziehung.


    Meine Meinung:

    Mit „Ein Winter in Paris“ hat Jean-Philippe Blondel einen starken Roman geschaffen und zeigt damit, dass auch recht dünne Bücher eine tiefgreifende Geschichte erzählen können. Auf sehr einfühlsame Weise nähern wir Leser uns dem Protagonisten Victor, der seine Geschichte in der Ich-Form erzählt. Dank dieser Perspektive kann man tief in sein Inneres sehen, seine Einsamkeit spüren, seine Selbstzweifel nachvollziehen, seine Wünsche und Hoffnungen erkennen.


    Dieser Roman kommt auf leisen Sohlen daher und entwickelt dabei einen eigenartigen Sog. Die Atmosphäre an der Schule, die fast unmenschlich agierenden Lehrer und die verunsicherten Schüler erschienen mir äußerst plastisch. Mir war beim Lesen so, als würde ich alles selbst erleben und nicht nur aus der Ferne beobachten.


    Dabei beschränkt Blondel sich auf das Wesentliche. Ausschweifende Beschreibungen sucht man vergeblich. Gerade dadurch wirkt der Roman so dicht und eindringlich.


    Fazit:

    Ich kann diesen kleinen, aber feinen Roman nur empfehlen. Es ist eine berührende Geschichte über einen heranwachsenden jungen Mann, der seinen Platz im Leben sucht.


    ★★★★☆

  • Ein Brief Patrick Lestaing's katapultiert den Englischlehrer Victor, (49), zurück in die 80er Jahre - in seine Vergangenheit als Student am renommierten Lycée D. in Paris:


    Als Sohn eher bildungsferner Eltern kämpft der aus der Provinz kommende 19jährige Victor sich mit viel Fleiß durch das erste, sehr harte Jahr am Lycée - von den zumeist elitären Kommilitonen ignoriert. Ein Außenseiter, von dem man annimmt, dass er ohnehin das Handtuch schmeißen wird, auch die Lehrer urteilen die Arbeiten der Studenten demütigend ab - und bringen so manchen dazu, aufzugeben. Doch Victor gehört zu den wenigen Auserwählten, die weiterkommen: Durch das harte Studium nimmt er jedoch wahr, dass er sich immer mehr den Eltern entfremdet und ihre Besorgnis kaum noch erträgt, eine bisher nicht gekannte Einsamkeit macht sich in ihm breit, die durch den Lerndruck noch verstärkt wird. An seinem Geburtstag rebelliert er erstmals gegen das System: Er kommt zu spät und beschließt spontan, Mathieu, mit dem er ab und an eine Zigarette raucht und der - wie er ein Außenseiter aus der Klasse unter ihm ist, der versucht, im luftleeren Raum des Lycées irgendwie durchzuhalten - zum Essen einzuladen.


    Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, da Mathieu - nach einem Schrei der Wut - über das Geländer in den Tod springt, was Victor, der seine Stimme erkennt und als erster nach draußen eilt, erst später realisieren sollte....


    Blondel gelingt es ungeheuer sensibel, die Gefühlswelt, in der sich Victor nach dem Suizid von Mathieu befindet und die völlig durcheinandergeraten scheint, zu beschreiben: Alles war in Frage gestellt und Victor beginnt durch das Trauma dieses Verlusts - denn er hätte sich ohne Frage mit Mathieu anfreunden wollen - die Welt anders, neu zu begreifen: Sein eigenes Leben in den folgenden Wochen, den wir ihn als Leser begleiten, als das zu betrachten, was es ist: Kostbar.


    Victor entgeht nicht, dass sowohl Studenten als auch Lehrerschaft über das Ereignis des Selbstmordes das Renommée stellen und die eigenen Interessen, dass über den Vorfall hinweggegangen wird. Diese Stimmung bringt Blondel realistisch zum Ausdruck und man fragt sich, warum alle so schnell wie möglich wieder "zur Normalität" zurückfinden wollen, besonders, weil jedem klar ist, dass Mathieu dem rauen Klima, dem Lernstress und den täglichen Demütigungen seitens der Lehrer nicht mehr gewachsen war.


    Mit den Eltern Mathieu's tauchen sowohl der Vater als auch die Mutter auf, deren Bewältigung des ungeheuren Verlusts sehr unterschiedlich sind: Der Vater sucht Kontakt zu Victor und beide helfen einander, in dem sie über Mathieu sprechen, Antworten suchen. Dieser Romanteil gefiel mir besonders gut, da er zutiefst menschlich ist - und sich Menschen in Ausnahmesituationen sehr viel geben können, um ihren Weg besser weitergehen zu können. Für Victor war es nicht von Nachteil, endlich "sichtbar" zu werden, den umschwärmten, aber dennoch einsamen Paul Rialto zum Freund zu haben und dadurch überall offene Türen der Akzeptanz zu finden, da er "der Freund des Opfers" für die Mitstudenten war.


    Die tiefen Empfindungen und die außergewöhnliche Ehrlichkeit Victors, seine eigene Rolle in diesem Drama betreffend als auch in seiner Vorstellung, "wie alles hätte werden können" und Armelle sowie Mathieu betreffen, berühren zutiefst. Auch die Kochaktionen mit Patrick Lestaing, der für Victor zeitweise ein Vater wird, wie er nie zuvor einen hatte, erstaunen den Leser - und sind gleichzeitig tröstend.


    Auf der Verlagsseite habe ich ein Interview des Autors gelesen, das ich an dieser Stelle nur empfehlen kann.


    Einzig die Reaktion der Mutter Mathieu's, die die Treffen von Victor und ihrem Ex-Mann "krank" fand, konnte ich überhaupt nicht nachvollziehen. Sie waren wichtig, für jeden der beiden. Die Tatsache, dass auch ein Suizid nichts am Lycée D. änderte, erzürnt den Leser nicht zu unrecht; auch dies leider sehr realistisch.
    Die Abschlussprüfung Victor's verläuft für die Prüfer anders, als gedacht: Er ist umso entschlossener, welchen Weg er gehen wird, worin seine größte Leidenschaft besteht - was eine Frage Patrick L. an ihn gewesen war:


    "Er wollte Wörter wie ein Netz über den Abgrund spinnen" (Zitat S. 184) - und Schriftsteller werden.


    30 Jahre später - Victor ist inzwischen Ende 40, schreibt Patrick Lestaing ihm einen Brief, um sich mit ihm zu treffen. Er möchte dadurch "das entschwindende Gespinst der Erinnerungen zurückbringen" - und Victor stellt sich dieser Herausforderung!


    Fazit:


    Ich kann mich nur der Aussage von "Le Figaro" anschließen, der dieses literarische Kleinod - ein 'trouvaille' - so beschreibt:
    "Es gibt niemanden, der die Verwirrung der Gefühle auch nur annähernd so bescheiben kann wie Jean-Philippe Blondel".
    Von mir erhält dieses kleine, aber sehr lesenswerte und sprachlich feinfühlige Meisterwerk eine absolute Empfehlung, 5* und 100° auf der "Belletristik-Couch".


    5ratten:tipp:

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Meine Meinung zum Buch:

    Titel: Was Suizid mit den Hinterbliebenen macht...


    Nach dem unglaublich intensiven "6 Uhr 41" wollte ich gern mal wieder ein Buch des Autors lesen und so begann ich ohne große Vorkenntnis des Inhaltes mit der Lektüre.


    In der Geschichte geht es um den jungen Victor, der sich an der Uni abkämpft, um später ein besseres Leben als seine Eltern führen zu können. Der Provinz entflohen merkt er schnell, dass die Großstadt auch nicht das ist, was er erwartet hatte. Doch dann taucht Mathieu in seinem Leben auf, aber nur kurz, denn dieser wählt den Freitod. Was macht das mit Victor und allen anderen Hinterbliebenen? Gab es Gründe für die Tat? Das Leben muss weitergehen, aber geht das wirklich einfach so?


    In diesem Roman geht es mal nicht darum wie es zu dem Freitod eines Charakters gekommen ist, sondern was das Fehlen dieser Person mit den Hinterbliebenen macht. Suizid tut man nicht sich selbst an, sondern stets denen, die zurückbleiben.

    Victor steht im Fokus der Handlung. Mir hat gut gefallen, dass Blondel die Einsamkeit des jungen Mannes sehr gut rüberbringt und die beginnende Überforderung mit dem Studium. Muss man wirklich studiert haben, um ein gutes Leben führen zu können? Allein wurde er von seinen Kommilitonen kaum beachtet, doch als Freund eines Toten sieht dies schnell anders aus. Die Entwicklung zu einem besseren Leben durch den Tod eines anderen, das hatte schon etwas sehr befremdliches, aber auch gleichzeitig etwas faszinierendes.


    Doch auch den anderen Protagonisten im Buch setzt der Freitod von Mathieu sehr zu. So hat dessen Vater doch sehr zu kämpfen mit dem Verlust seines einzigen Sohnes und er denkt über sein Leben nach, welches nie wieder so sein wird wie zuvor. Auch spannend, wie es ihn und seine Frau wieder etwas näher zusammengebracht hat, was man im ersten Moment nicht wirklich glauben und wahrscheinlich nur Eltern auf Anhieb verstehen werden, denn ein Kind schweißt zusammen auf Lebenszeit.


    Die Darstellung der Uni habe ich als sehr realistisch empfunden und bei Lehrer Clauzet musste ich sofort an eine Hauptfigur aus dem Film "Die Brillante Mademoiselle Neïla" denken. Auch hat sicherlich jeder in seiner Schullaufbahn oder Unizeit einen solchen Tyrann erleben dürfen.


    Die Beschreibungen von Paris haben angenehme Bilder in meinem Kopf entstehen lassen. Da bekommt man direkt selbst Lust einmal hinzureisen.


    Das Buch hat mich mit diversen Fragen zurückgelassen, da es offen endet.


    Der Roman berührt und sorgt für Nachdenklichkeit. Emotional fühlte ich mich beim Lesen niedergedrückt und recht traurig, denn ein so junger Mensch, der noch dazu gesund ist, sollte nicht so früh sterben. Besonders eindrücklich war für mich die Szene als Victor das Blut seines Freundes um seine Schuhe rinnen sieht. Ich glaube diese werde ich so schnell nicht wieder vergessen können.


    Fazit: Trotz der geringen Seitenzahl ist man mit diesem Buch doch um einiges länger beschäftigt, da man beim Lesen immer wieder innehält und einen die Handlung auch nach Beenden des Buches nicht gleich los lässt. Wer gern tragische Geschichten liest, der wird daran seine Freude haben.


    Bewertung: 5ratten und :tipp:

    &WCF_AMPERSAND"Das Buch als Betriebssystem ist noch lange nicht am Ende&WCF_AMPERSAND" (H.M. Enzensberger)

  • Nach einem sehr einsamen Jahr an seiner neuen Schule, das nur aus Lernen bestand, beginnt Victor, sich langsam mit einem neuen Schüler anzufreunden. Wie Victor ist auch Mathieu eher ein Außenseiter. Allerdings kann Mathieu mit der neuen Situation an der Schule, dem Alleinsein, dem Druck der Lehrer nicht umgehen, denn während des Unterrichts stürzt er sich aus dem Fenster.

    Nach Mathieus Tod nehmen die übrigen Mitschüler Viktor plötzlich wahr, als einen Freund des Toten. Ob er dies wirklich war, ist vermutlich Definitionssache. Sehr nahe standen sie sich noch nicht, waren erst am Anfang einer Freundschaft; gleichzeitig waren beide eine feste Konstante im schulischen Alltag des Anderen und der engste Kontakt, den sie hatten.

    Viktor muss seinen Platz neu finden, mit dieser neuen Aufmerksamkeit zurecht kommen.

    Schließlich kontaktiert ihn auch der Vater von Mathieu, der mehr über seinen Sohn und dessen Leben in den Wochen vor seinem Tod erfahren möchte. Auch diese neue Bekanntschaft fordert viel von Viktor ab.


    Ein recht kurzes Buch, in dem viel steckt. Es war schwierig und anstrengend, Viktor und vor allem Mathieus Vater Patrick zu folgen. Wie gehen die Hinterbliebenen damit um, dass sich jemand umgebracht hat. Wie können sie die Gründe verstehen, wie finden sie wieder in ihr "normales" Leben zurück und was ändert sich für sie. Vor allem zu diesem letzten Punkt erfahren wir hier viel. Viktors Leben ändert sich sehr, er ist nicht mehr der Einzelgänger, aber zu welchem Preis.


    4ratten