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Daniel Kehlmanns "Tyll" wurde 2017 veröffentlicht und versetzt die bekannteste deutsche Schelmenfigur Till Eulenspiegel - ursprünglich im 14. Jahrhundert angesiedelt und zu Beginn des 16. Jahrhunderts Held eines niederdeutschen Volksbuches - in den Dreißigjährigen Krieg.
Mit großen zeitlichen Sprüngen schildert Kehlmann Episoden aus Tylls Leben und seine Begegnungen mit meist historischen berühmten Persönlichkeiten, wobei er sich kaum auf die Inhalte des Volksbuches bezieht, sondern im Wesentlichen nur die bekannten Eigenschaften Tylls, das Dummstellen und die Entlarvung seiner Zuschauer und Gesprächspartner sowie auch seine anarchische und gelegentlich grausame Bindungs- und Empathielosigkeit in Szene setzt.
So direkt im ersten Kapitel, in dem Tyll eine Schar von Dorfbewohnern , die bisher vom Krieg verschont geblieben waren, zum Spaß aufeinanderhetzt, indem er ihnen im Reigen seiner Possen plötzlich befiehlt, ihre Schuhe auszuziehen und hochzuwerfen. Auf der Jagd nach den richtigen Schuhen brechen jahrelang verschleierte Feindseligkeiten untereinander wieder auf und die dörfliche Ruhe wird nachhaltig zerstört, worauf dann auch der echte Krieg dieses Dorf erreicht.
Tylls Vater wird Opfer eines Hexenprozesses und während dessen Ablauf erweisen sich die ihn führenden Jesuiten als viel abergläubischer und teuflischer als es Tylls freundlich-neugieriger und zeichengläubiger Vater je hätte sein können.
Überhaupt werden kirchliches und religiöses Geschäft in diesem Roman meist als kleinlich, planlos und egoistisch entlarvt und ihre Opfer sind immer die einfachen Menschen, die aber - siehe oben - ebenso von Egoismus, Rachsucht, Aberglauben angetrieben werden.
Wenige Menschen werden positiv dargestellt, vielleicht Tylls Seelenfreundin und jahrzehntelange Begleiterin Nele, vielleicht die gealterte Winterkönigin Liz und Paul Fleming, ein Barockdichter, von dem eines meiner Lieblingsgedichte stammt, bekommt auch einen freundlichen Auftritt auf den Leib geschrieben.
Ansonsten begegnen wir einer Welt voller Grausamkeiten, geprägt von Aberglauben, Unwissen und Angst, sodass man froh ist, fast vierhundert Jahre später zu leben. Aber dennoch ist man an manchen Stellen entsetzt-verblüfft über die Modernität. Ob Kehlmann beim Verfassen schon an Trump und seine Fake News gedacht hat, als er Tyll seine Gesprächspartner zur Verzweiflung bringen lässt, weil er die Wahrheit immer wieder ändert und verdreht?
Was mich trotz aller Qualitäten dieses Romans stört, ist, dass mir die Erzählidee nicht wirklich einleuchten will. Sind Tyll und der Dreißigjährige Krieg Allegorien auf modernes Geschehen und Handeln, sollen sie einfach für sich stehen? Ist Tyll ein Symbol für die Macht der Literatur und Kunst allgemein, da er im Roman nicht stirbt, nicht sterben will, denn er wird ja auch so lange leben, wie über ihn geschrieben oder er anders in Szene gesetzt wird?
Dennoch ein großartiges Panorama, das da in guter Sprache - nicht so gekünstelt wie in der "Vermessung der Welt" - vor dem Leser ausgebreitet wird.