Manuela Golz - Sturmvögel

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  • Manuela Golz - Sturmvögel


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    Ein großes Mädchen von einer kleinen Insel


    1907 – Emmy wird in eine Welt geboren, in der Mädchen und Frauen wenig Rechte, aber viele Pflichten haben und „nichts wert sind“. Doch ihr Vater liebt sie und sorgt dafür, dass sie an sich selbst glaubt. Das ist ihr wertvollster Schatz, denn ihr Leben ist hart: sie verliert Mutter, sie verliert Vater und sie wird ohne ihre Geschwister ganz alleine nach Berlin geschickt, wo sie als Dienstmädchen arbeiten soll.



    1994 – Emmy ist sechsundachtzig Jahre alt und fühlt sich ein bisschen wackelig auf den Beinen. Ihrer Tochter erzählt sie nichts von der Diagnose. Auch ein anderes Geheimnis ist da noch und Emmy hat noch viel zu tun, um ihren Frieden machen zu können.



    Dieses Buch fand mich, nicht ich es. Und ich bin sehr dankbar dafür, denn es wäre wirklich ein Verlust gewesen, diese bewegende Geschichte über eine einzigartige, wunderbare und starke Frau nicht gelesen zu haben. Die Großmutter der Autorin diente als Inspiration zu diesem Buch. Vielleicht ist das der Grund, warum es so tief unter die Haut geht und so lange nachhallt.



    Der Roman führt den Leser in Zeiten, die man sich kaum noch vorstellen kann. Ehen wurden beschlossen, da war Liebe keine echte Option. Frauen waren weniger wert, mussten hart kämpfen und alles ertragen. Geld und Ansehen bestimmten das Dasein und zwei Kriege machten das Leben nicht gerade einfacher. Doch gab es immer auch Männer, die aus diesem Schema ausbrachen und Frauen, die sich selbst nicht als Opfer sahen. Ganz gleich, wie hart die Zeiten waren! Wie man überlebt, wie man Glück in sich selbst findet, wie man liebt – all das zeigt uns die Protagonistin Emmy und man begleitet sie einfach gern durch ihr Leben.



    Manuela Golz ist es gelungen, ihre Figuren lebendig zu zeichnen und sie alle mit eigenen Charakteren zu beleben. Sie lässt dem Leser die Wahl, wem er seine Sympathie schenkt. Sogar die weniger netten Personen wecken immer wieder eine Art Mitgefühl und auf gewisse Art Verständnis dafür, dass sie sind, wie sie sind. Man hasst die böse Schwiegermutter nicht abgrundtief, man bedauert sie dafür, dass sie so kaltherzig wurde und trotz eigener unerfüllter Liebe auf den alten Konventionen besteht. Emmy dagegen muss man einfach ins Herz schließen. Ich hätte sie so gern gekannt!



    Die beiden Zeitebenen wechseln sich so ab, dass man nicht aus dem Lesefluss gerissen wird und sich ein gutes Gesamtbild ergibt. Fragen beantworten sich dadurch dann quasi von selbst und man ahnt die eine oder andere Entwicklung voraus, ohne dass dies enttäuschen würde oder die Spannung nehmen. Ja, es gibt tatsächlich einen Spannungsbogen – und dieser breitet sich über alle Figuren und Ereignisse aus.



    Ein paar Fragen blieben für mich am Ende noch offen. Doch diese sind nicht so wichtig für die eigentliche Aussage des Buches, als dass es mir ein Sterneabzug wert wäre. Dennoch wüsste ich sehr gerne, warum Emmy nicht nach ihren Geschwistern gesucht hat. Die Möglichkeit wäre ja gekommen. Auch fehlt mir ein bisschen der Grund, warum Emmy niemandem ihr Geheimnis anvertraut hatte. Aber auch ohne all dies liebe ich dieses Buch und gebe sehr gern eine Leseempfehlung sowie fünf blankpolierte Sterne!

  • Eine starke Frau !


    Emmy Seidlitz ist 86 Jahre alt und schaut auf ein erfülltes Leben zurück. Hineingeboren als älteste Tochter in eine Familie, die einen Hof betreibt und der Vater als Walfänger arbeitet, wächst Emmy auf einer kleinen Nordseeinsel auf, die sie nach dem Tod der Eltern verlassen muss. Als Dienstmädchen in Berlin lernt sie Hauke kennen, heiratet ihn und bekommt drei Kinder. Hilde, Otto und Tessa, die kurz vor dem 86 Geburtstag ihrer Mutter im Keller einen mysteriösen Aktenordner entdecken. Was verheimlicht ihre Mutter seit Jahrzehnten?



    Sehr gefallen hat mir die Figur Emmy, die kein Blatt vor den Mund nimmt und sehr couragiert ist. Egal, ob sie sich im Jahre 1994 gegenüber einem Professor im Krankenhaus oder 1933 gegenüber ihrer zukünftigen Schwiegermutter behauptet. Sie sagt, was sie denkt und beschert uns Lesern so immer wieder ein Schmunzeln und ein Lächeln. Emmy wächst in ärmlichen Verhältnissen auf und wird von ihrem fortschrittlich denkenden Vater unterstützt und gefördert. Das 1911, als es nicht üblich ist, dass Mädchen eine Schulbildung durchlaufen oder selbst bestimmen, wen sie einmal heiraten.


    Die Geschichte wird auf verschiedenen Zeitebenen geführt. 1994, in der Gegenwart, als Emmy ihren 86. Geburtstag feiert. 1911, als sie geboren wird und weiter gibt es Kapitel, die mit 1870-1921, 1974 oder 1995 etc. betitelt sind. Eine chronologische Ordnung fehlt, den Zeitebenen fehlt es an einem System, noch sind die Kapitel logisch aufgebaut. So kann es sein, dass in einem Kapitel, im Jahre 1914, die kleine Emmy erstmals zur Schule geht. Ein paar Kapitel weiter lernen sich ihre Eltern Janne und Andreis erst kennen. Die Autorin hüpft ganz schön durch die Generationen und die Zeitebenen. Hier hätte ich mir eine gewisse chronologische Ordnung im Ablauf der Handlung gewünscht. Denn so musste ich mich bei einem neuen Kapitel immer wieder zuerst zurechtfinden und überlegen, wo die Geschichte denn nun genau steckt.


    Sehr gut gefallen hat mir, wie Manuela Golz die verschiedenen Zeitepochen ausgeschmückt hat. Gut eingesetzte Merkmale der jeweiligen Zeit sind nachvollziehbar und authentisch. So erfährt man einiges über den Dünkel der besseren Gesellschaft, gegenüber Dienstboten um 1933. Arrangierte Ehen unter der gehobenen Gesellschaft sind an der Tagesordnung. Geschichtliche Details wie der Krieg oder die Masernepidemie 1917 werden dezent eingeflochten und ergeben dadurch ein realistisches Bild der damaligen Zeit.


    Doch auch die Gegenwart um 1994 ist wirklichkeitsnah. Denn Emmy lebt selbstbestimmt in ihrer kleinen Wohnung in Berlin Tegel und versucht von der ältesten Tochter Hilde nicht überbehütet zu werden. Einerseits konnte ich Hilde verstehen, die sich Sorgen um ihre betagte Mutter macht. Andererseits musste ich oft lachen, denn Hilde ist oft eine Karikatur einer sich sorgenden Tochter. Die Figuren sind sehr überzeugend und ich empfand einige Situationen mitten aus dem Leben gegriffen. Die Verbindung zwischen Hilde, Otto und Tessa empfand ich sehr interessant und zeigt viele Aspekte einer Beziehung zwischen erwachsenen Geschwistern. Eifersucht, Abwägung, wer denn wie viel und warum für die betagte Mutter erledigt, sowie Konflikte … wie im realen Leben.


    Mir gefallen Bücher, in denen Lebensgeschichten erzählt werden grundsätzlich gut. Denn ich finde es sehr interessant, zu erleben, wie sich Figuren verändern und entwickeln, was sie erleben und wie sich ihr Lebensweg gestaltet. In „Sturmvögel“ war es zudem so, dass mich die Hauptfigur Emmy sehr gefesselt hat und so war ich gespannt ihren Lebensweg mitzuverfolgen. Meist ist es so, dass wir sind, wie wir sind, weil wir unseren persönlichen Weg mit der eigenen Ueberzeugung gehen, da ist Emmy das typische Beispiel.

    Vor allem der Punkt, dass sich Manuela Golz für dieses Buch vom Leben ihrer Grossmutter hat inspirieren lassen, hat mich berührt.


    4ratten

    6 Mal editiert, zuletzt von Igela ()

  • Das Portrait einer starken - und humorvollen Frau


    "Sturmvögel" von Manuela Golz erschien (2021, HC) im Dumont-Verlag und das Cover, das auf den Geburtsort einer kleinen Nordseeinsel von Emmy, der 86jährigen Hauptprotagonistin des Romans, hinweist, gefällt mir ausnehmend gut. Das gleiche gilt auch für die Zeilen, die sich zwischen den beiden Buchdeckeln verbergen:


    1907-1994


    Emmy wird als ältestes Kind von Janne und Andries Peterson auf einer kleinen, kargen Nordseeinsel geboren. Im Verlauf des Romans erfahren wir, wie hart und dennoch auch glücklich das Leben einer Familie vor über 100 Jahren dort gewesen sein muss: Andries gehört zu den letzten Walfängern und heiratet Janne, die recht mittellos ist, den Hof jedoch mittels (möglichst männlicher!) Nachkommen sichern hilft: Nach Emmy kommen jedoch noch zwei weitere Töchter auf die Welt und der einzige Sohn wird tot geboren. Für Janne eine Katastrophe, die sie völlig aus der Bahn wirft. Nach dem Tod der Mutter verliert Emmy auch ihren Vater und nach den Gepflogenheiten der Insel werden die Kinder in alle Himmelsrichtungen abgegeben: Die Jüngste wird adoptiert und Emmy, fast 14, muss nun für sich selber sorgen und ihre Kindheit endet mit der Fahrt nach Berlin, wo sie in den wilden 20er Jahren ihren Dienst als Hausmädchen einer gutbürgerlichen Familie antritt.

    Dort lernt sie Hauke kennen, der ihr das Schwimmen beibringt, sie ausführt und ihr "sein" Berlin zeigt, das auch den Besuch von Variétés nicht ausschließt. Die beiden heiraten, zum Entsetzen seiner Mutter Charlotte, die sich eine "gute Partie" (besonders in finanzieller Hinsicht) für ihren Sohn wünschte und bekommen 3 Kinder: Hilde, Otto und Tessa, die Jüngste wurde 1945 geboren....


    Eines Tages findet Hilde, die älteste Tochter von Emmy, alte Schriftstücke und Grundbucheinträge im Keller ihrer Mutter, um die sie sich vorwiegend kümmert und Otto, dessen Trödelladen mehr schlecht als recht läuft und der immer finanziell am Abgrund steht, nimmt sich der Sache gerne an: Tessa hingegen ist erst einmal nicht bereit, die Geschwister in dem Ansinnen zu unterstützen, was sich hinter den Akten verbergen mag...


    Zum einen lernen wir Emmy als junge Frau kennen; die couragiert ist, stets nach vorne blickt und voller Humor sowie Lebenslust steckt, zum anderen sehen wir die 86jährige, noch sehr rüstige und agile Emmy, die sich nun doch einigen Geheimnissen ihres Lebens stellen will und muss, denn sie hat nicht mehr allzuviel Zeit dazu...


    Der Roman spielt auf mehreren Zeitebenen und gibt Einblicke in die Welt von damals: In die Zeit der beiden Weltkriege; der Weltwirtschaftskrise und der Nachkriegszeit. Obgleich Emmy und Hauke sehr unterschiedlicher Natur sind, ist er doch zur Stelle, als sie seine Hilfe braucht. Auch Marianne, die Hebamme, die alle Kinder von Emmy half, zur Welt zu bringen, ist eine interessante Figur und sehr gute Freundin, die mit ihr durch dick und dünn geht. Am Romanende spielt auch sie eine Rolle, als es um das Eröffnen des Testaments und den Gang zum Notar geht: Wie wird Marianne entscheiden, was mit dem Brief ihrer Freundin zu tun ist?


    Eine weitere Figur ist Anni, die ebenso wie Emmy früh ihre Eltern verlor und von Emmy und Tessa großgezogen wird: Sie studiert Sozialarbeit und hier fand sich leider ein Klischee, das mir weniger gut gefiel; denn es ist unrichtig, dass "alle Kinder, die fremdplatziert werden und in einem Heim aufwachsen, nach und nach vor die Hunde gehen, aus der Bahn geworfen werden" (S. 150). Richtig aber ist eher, dass man "im Jugendamt als Mitarbeiter Kindern weniger helfen kann, als sie zu verwalten". Aus diesem Grunde habe ich selbst mich auch nie in einem Jugendamt bewerben wollen, sondern war lieber in der offenen Kinder- und Jugendarbeit beschäftigt.


    Inwiefern es wichtig ist, dass auch Anni bei der Notarsitzung eingeladen ist, muss der Leser selber erfahren. Auch gibt es noch andere "Geheimnisse" zu lüften, die mich persönlich nicht überraschten, jedoch in das Gesamtbild des Romans passten. Die Autorin schreibt sehr gefühlvoll und durch den atmosphärischen Sprachstil kann man sich das Leben Emmys in den verschiedenen Lebensphasen sehr gut vorstellen und sie gedanklich begleiten: Das grausamste Vorkommnis war für mich, als die Geschwister als Kinder getrennt wurden und ich habe es bedauert, dass die beiden anderen Mädchen mit keiner Silbe mehr erwähnt wurden. Inspiriert wurde diese Geschichte durch das Leben der Großmutter der Autorin, wodurch sehr vieles authentisch wirkt.


    Fazit:


    Ein warmherziges Portrait einer starken Frau, die ihren Humor und auch ihre Liebesfähigkeit selbst in schwierigsten Lebenssituationen nie verlor und zugleich auch das Portrait eines politisch bewegten 20. Jahrhunderts. Gerne empfehle ich "Sturmvögel" weiter und vergebe 4,5 Sterne.


    4ratten:marypipeshalbeprivatmaus:

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

    Einmal editiert, zuletzt von Sagota ()

  • Eine Kämpferin

    Das war Emmy zeitlebens - und sie ist es noch in hohem Alter. In tiefer Armut auf einer Nordseeinsel aufgewachsen, hat sie das Schicksal schon früh nach Berlin verschlagen - und zwar als Dienstmädchen. Ihre jüngeren Geschwister wurden anderweitig untergebracht und sie sah sie niemals wieder - das war damals eben so.


    Emmy arrangierte sich sehr gut bei der neuen Herrschaft, zumal sie in der Köchin gleich von Beginn an eine Vertraute hatte.


    Eine eigene Familie gründete sie auch, auch das war nicht gerade leicht: sie hatte sich sozusagen hochgeheiratet, was mehr oder weniger dem Zufall geschuldet war - dennoch wurde es ihr zeitlebens vorgehalten, vor allem von der Schwiegermutter, für die das ein unglaublich beschämender Zustand war.


    Nach dem Zweiten Weltkrieg stand sie ohne Mann, aber mit drei Kindern da und so langsam relativierte sich das alles mit den Ständen und den Schichten.


    Und Emmy blieb, was sie zeitlebens gewesen war: bodenständig, eine gute Menschenkennerin - und denen, die es nötig hatte, war sie immer bereit, unter die Arme zu greifen. Aber eines kam gar nicht infrage: sich wie eine Weihnachtsgans ausnehmen zu lassen.


    Deswegen sollte ein Teil ihrer Kinder auch ganz schön ins Staunen kommen, als es um die Verteilung der Besitztümer ging.


    Ein spannender Roman, in dem es aus meiner Sicht teilweise zu verwegen zugeht. Aber oft ist das Leben ja um einiges überraschender als jeder Roman - daran musste ich immer wieder denken in diesem Roman, der die Stärke der Frau feiert.


    Nicht jeder Frau natürlich, sondern nur der, die Herz und Verstand an der richtigen Stelle hat. Das wird in vorliegendem Roman immer wieder und in jeder Generation deutlich!

    4ratten