Müller - Pimmelburg

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    Klappentext:

    „Ich hab den Geist einer 17jährigen, die Wut einer 12jährigen und den Körper einer 13jährigen. Mein Mut ist 21, Minimum. Mein Musikgeschmack ist über 40. Alles in mir hat ein Alter. Und keins ist gleich. Nur weil meine Zellen 16 Jahre alt werden, soll ich plötzlich Angst haben müssen, dass ein Stripper aus meiner Torte springt. Weil ich offiziell ‚geschlechtsreif‘ bin? Und Sex haben darf, ohne dass der Kasper gleich den Schutzmann ruft? Gnade!“


    Sami wird bald 16, kommt allerdings mit den damit verbundenen Veränderungen nicht klar. Sie ist Musikerin und Sportlerin, aus allen anderen Welten hält sie sich neugierig, aber bestimmt heraus. Freundschaft? Wozu! Sex? Yakkk! Beziehung? Für die anderen gern, zum Beispiel für ihren Vater Pietsch oder ihre große Schwester Hannah. Für Sami selbst kein Thema. Bis sie sich – ausgerechnet in einem heftig unerwünschten FKK-Urlaub – zum allerersten Mal von der Liebe auf Links ziehen lässt.


    Meinung:

    Ich hatte in ‚Pimmelburg‘ eine Jugendgeschichte mit vielen Pimmelwitzen erwartet, aber am Ende wurde es dann doch so-so-soviel mehr. Deswegen hat das auch ein bisschen gedauert mit dieser Rezension. Da gabs soviele Gefühle und Gedanken, die erstmal geordnet werden mussten. Hauptsächlich aber die Gefühle.


    „Pimmelburg“ ist herrlicher Name für ein Buch. Und so passend für dieses. Gekrönt wird es von 8 äußerst realistischen Pimmelzeichnungen von Mela Holcomb, die man durchaus als Körperstudien betrachten kann. Ich bin überzeugt, jede heterosexuelle Frau und jeder homosexuelle Mann hat die dort gezeigten Pimmel schonmal gesehen. Und daran ist nichts verkehrt. Pimmel sind einfach unterschiedlich und in diesen Zeichnungen sogar irgendwie schön. Dass ich das mal über Pimmel schreibe. Mein Fokus bei männlichen Körpern liegt eher auf dem Rücken bzw. den Schultern und auf den Waden.


    Aber kommen wir weg von den Pimmeln und hin zu Samira, kurz Sami, die kurz vor ihrem 16. Geburtstag in einen Pflichturlaub mit Vater Pietsch und Schwester Hannah verschleppt wird. Sami hatte kein einfaches Leben bis dahin. Die Mutter der Familie hatte nach dem Tod von Hannas und Samiras Bruder an Depressionen gelitten und sich vier Jahre vor der Geschichte das Leben genommen. Also, nicht nur für Sami eine schlimme Sache sondern auch für Pietsch und Hannah.


    Das Thema Selbstmord bzw. der Umgang mit dem Selbstmord eines geliebten Menschen, spielt eine sehr zentrale Rolle in diesem Buch, denn dieser Selbstmord hat alle Figuren stark geprägt. Man sollte dafür also definitiv bereit sein, wenn man das Buch zur Hand nimmt.


    Und jede der drei Figuren hat eine eigene Bewältigungsstrategie, um damit fertig zu werden. Sami z.B. vergräbt sich in Wut und Antagonismus. Sie lernt Schlagzeugspielen und Thaiboxen. Nur niemanden zu nah ranlassen. Immer wieder sieht sie „ihren“ Tod, einem Skelett in Hiphop-Outfit, das versucht, ihr immer wieder neue Wege zu zeigen, wie sich selbst das Leben nehmen kann. Samis Trotz jedoch ist hier eine große Hilfe für sie selbst, weswegen der Tod (von Sami Knochenkasper genannt) keinen Erfolg hat. Von Fremdbestimmung hält sie nicht viel und sobald etwas zum Zwang wird, geht es ihr sowieso gegen den Strich.


    Der außerplanmäßige Familienurlaub führt an die Ostsee nach Pimmelburg Himmelburg in eine Nudistenkolonie. Hannah und Sami sind nicht ansatzweise begeistert, aber die ältere Hannah hat kein Problem damit, nackt rumzulaufen, denn immerhin gibts auch nette Jungen dort. Hannah ist so eine Figur für sich. Kalt, unnahbar, auf den ersten Blick oberflächlich. In meinen Augen ihre eigene Bewältigungsstrategie mit dem selbstgewählten Tod der Mutter umzugehen. Dass sie weder kalt noch nun unnahbar ist, zeigen nur kleine Gesten und kleine Momente. Gegen die Oberflächlichkeit wird sich hoffentlich irgendwann ihr Verstand durchsetzen, aber das erlebt man im Buch leider nicht (was ich ein kleines bisschen schade fand).


    Vater Pietsch übrigens hat eine neue Freundin. Nico, kurz für Nicolette. Ihr gehört das Haus in Pimmelburg Himmelburg, wo sie alle zusammen den Urlaub verbringen. Während „die Neue“ anfangs noch sehr farblos bleibt, war es eine Freude, zu verfolgen, wie Sami sich endlich aufraffte, Nico näher kennenzulernen. Und Nico ist irgendwie cool.


    Da sitzen sie nun also in Pimmelburg Himmelburg, alle laufen nackt rum, außer Sami, denn wenn sie muss, dann will sie schon gleich dreimal nicht. Das führt zu einigem Ärger mit HaWa (Hans-Walter), einem aus dem Vorstand des Vereins, der strikt die Rolle des Platzwartes einnimmt und überhaupt einen Stock im Hintern stecken hat. Frau Renate und Sohn Sascha stehen ihm da leider in nichts nach, doch auch HaWa hat mehr als nur diese Seite und durch Nicos Erzählungen lässt es auch vermuten, dass HaWas Persönlichkeit nur ein Schild ist, hinter dem sich etwas tieferes versteckt.


    Eine weitere Nebenfigur ist der Angler, ein scheinbar tiefenentspannter Typ, der Sami bei Lebensfragen zur Seite steht ohne dabei zu klugscheißerisch zu sein. Im Gegenteil, er hilft Sami, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen und erhebt nie den moralischen Zeigefinger. Seine Vergangenheit ist ziemlich tragisch, wie man so nebenbei von Nico erfährt, aber eigentlich mag man nur gechillt neben ihm sitzen und das gemeinsame Schweigen genießen.


    Dann wären da noch Khazam. Die lokale Jugendband. Angeführt von Sänger Joscha, einer echten Scheißfigur des männlichen Geschlechts, Manu, der schwule Keyboarder, Drummer Sascha (HaWas Sohn) und Bassist Simon.


    Letzterer ist jener, der Sami dann auch den Kopf verdreht, was sie so erstmal gar nicht rafft und eigentlich auch nicht will. Manu blieb mir ein bisschen zu außen vor, von ihm hätte ich gern noch mehr gelesen. Sascha konnte ich nicht so richtig einordnen, aber er hatte für mich echt psychopathische Züge. Dass er ein Spanner war und somit mal direkt all meine Alarmglocken läuten ließ, hat da nicht wirklich geholfen. Saschas kleiner Bruder Kasper war da wesentlich sympathischer.


    Alles in allem also ein bunt gemixter Haufen Figuren, der es eine wahre Freude sein lässt, Sami durch die Geschichte zu folgen. Die Sprüche haben mich an manchen Stellen herzhaft lachen lassen.


    Im Leben passieren viele Dinge. Schöne Dinge, aber auch nicht so schöne Dinge. Trauer, Wut, Hoffnungslosigkeit, dieses Gefühl, total verloren zu sein in dieser Welt, weil einem das Universum mal eben den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Man läuft lange vor seinen Gefühlen weg und stellt sich ihnen irgendwann. Manchmal liegt man ohne Kraft im Bett und empfindet das Aufstehenmüssen als unüberwindbare Hürde. Ein andermal stürzt man sich auf Dinge, vergräbt sich in ihnen und hofft so, Abstand zu gewinnen, bis man das Gefühl hat, bereit zu sein und sich etwas zu stellen. Sich selbst. Seinen Gefühlen. Daraus folgen dann oftmals viele neue Dinge. Manchmal muss man sich erstmal erholen von sich selbst und seinen Gefühlen. Manchmal überfällt einen die Scham, dass man mal ’so‘ war und ’so‘ eigentlich nie sein wollte. Dann freut man sich, dass man nicht mehr ’so‘ ist. Meistens jedoch steht man nach allem da, hat so ziemlich keinen Plan, aber fühlt sich gut und bereit, diesen keinen-Plan umzusetzen. Man lässt Dinge auf sich zukommen und weil man sich selbst durch all das besser kennengelernt hat, traut man sich dann doch ein bisschen mehr zu im Leben. Und irgendwann findet man seinen Platz und dann fühlt es sich einfach richtig schön an. Egal, was noch kommen mag. Man ist für alles gewappnet, man hat alles irgendwie schonmal erlebt und weiß, dass es auch danach weitergehen wird.


    Das alles gibt es in diesem Buch. Es ist nicht nur das Erwachsenwerden, sondern einfach nur das Leben, das in seiner Form für jeden doch ähnliche Dinge bereithält, denen man sich leider nicht entziehen kann. Über kurz oder lang erwischt es jeden mindestens ein Mal: Todesfall, Liebeskummer, Verrat, Betrug, Krankheit….wir alle sind nicht davor gefeit.


    Gleichzeitig ist dieses Buch aber auch eine Hommage an das Selbstsein. Eine Erklärung an die Welt, dass es okay ist, dass man so ist wie man ist. Zumindest für den Moment, denn niemand bleibt dieses Selbst für immer. Wir alle entwickeln uns weiter und während gewisse Grundzüge unveränderbar sind, so sind die restlichen Dinge einfach dem Lernen aus Erfahrungswerten unterworfen. Sami ist noch nicht bereit für Liebe und alles, was damit so verbunden ist. Und es ist okay so. Für Simon ist es okay. Es wird kein Druck gemacht. Kein „das musst du jetzt“ vermittelt. Eine Message, die meines Erachtens ein Unterrichtsfach in der Schule sein sollte. Und trotzdem ist es auch okay, dass man Dinge und sich selbst immer wieder hinterfragt, beleuchtet, in sich reinhört. Es ist okay, dass man seine Meinungen ändert. Dass man sich selbst ändert. Das gehört im Leben einfach dazu. Und es hört nie auf. Egal ob 15, 45 oder 80. Niemand bleibt wirklich konstant auf eine Weise so, wie er oder sie schon immer war.

    Und das ist okay.


    Bewertung:

    5ratten

    ~~ noli timere messorem ~~

  • Also der Titel des Buches ist schon speziell und das Cover finde ich auch ganz schrecklich ^^

    Aber deine Rezi macht tatsächlich neugierig und zeigt mir, dass das viel mehr dahinter steckt.


    Gekrönt wird es von 8 äußerst realistischen Pimmelzeichnungen von Mela Holcomb, die man durchaus als Körperstudien betrachten kann. Ich bin überzeugt, jede heterosexuelle Frau und jeder homosexuelle Mann hat die dort gezeigten Pimmel schonmal gesehen.

    Ich als Frau, die noch keine 8 Pimmel live gesehen hat, würde mal behaupten, ein heterosexueller Mann kennt davon mehr (unter der Dusche im Schwimmbad usw). :elch:

  • Ich kenne die Zeichnungen nicht. Wenn erigierte Penisse gemeint sind: Solche sieht man als Heterosexueller eigentlich nicht in der Männerdusche.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)