Christian Hardinghaus - Das Wolfsmädchen

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    Bewegende Biografie eines Wolfskindes


    die mich auch erschüttert hat: Dank dem Historiker und Autor Christian Hardinghaus und im Besonderen des Wolfsmädchens Ursula Dorn wird hier authentisches und biografisches Licht in ein eher im Trüben liegendes Kapitel deutscher Geschichte gebracht , wofür ich dem Autor und Ursula Dorn; heute 88jährig, sehr danke!


    "Wolfskinder" nannte man die verlassenen, aus Ostpreußen, im Besonderen aus Königsberg, vor dem sicheren Hungertod geflüchteten Kinder, die nach Ende des 2. Weltkrieges unter Lebensgefahr dennoch den weiten Weg nach Litauen antraten, wo sie in der Regel wohlgesonnene Einwohner und "immer einen Krug Milch und ein Kanten Brot" erhielten, womit diese Menschen das Leben vieler Wolfskinder retteten.


    Mir war dieser Begriff wohl bekannt, nicht aber der exakte Lebens- und Leidensweg dieser Kinder, von denen höchstens die Hälfte aller überlebt haben dürfte. Wie man im Buch erfährt, wurden einige auch adoptiert von litauischen Familien, die zu Beginn durchaus ein Herz für "die kleinen Deutschen" hatten; im Gegensatz zu den russischen Besatzern, die sich in Königsberg nach Kriegsende einfanden und die Stadt besetzten. Die verbliebenen 120000 Deutschen waren in dieser Zeit meist dem Hungertod geweiht, da sie absolut rechtlos waren und auch keine Verpflegung erhielten. Nach heutigem Ermessen würde durchaus das Wort Genozid zutreffen, denn die sowjetischen Soldaten gingen gnadenlos vor, auch gegen etwaige Unterstützer, die die Kinder in Litauen fanden: Den Litauern war es untersagt, deutsche Kinder bei sich aufzunehmen und viele wurden von den Patrouillen nach Sibirien verschleppt. Dieses Schicksal drohte auch denjenigen, die sich (zu den Mutigen zählend, wie Ursula Dorn) ins Nachbarland durchgeschlagen hatten und auf eine russische Patrouille trafen.... Mit Entsetzen begleitet man den Weg des intelligenten Mädchens, dessen Familie vor dem Hungertod steht; der Vater ist im Feld, das sich mutig auf den Weg begibt, um selbst nicht zu verhungern. Ursula sollte es gelingen, mit einem Rucksack voller Lebensmittel zurück nach Königsberg zu kommen und wiederum mit ihrer Mutter aufzubrechen: Eine Nachbarin wollte sich um die jüngeren Geschwister kümmern, bis beide mit Nahrungsmitteln zurückkehren würden.


    Doch die Zeiten (wir sprechen von 1946/47 und 1948) wurden immer schwieriger, da sich litauische Partisanen ("die Waldbrüder") mit sowjetischen Soldaten Gefechte lieferten. Dadurch wurde es auch für die sich noch am Leben befindenden Wolfskinder schwieriger, etwas Essbares zu finden oder die Kälte des Winters zu überstehen. Ursula, die bereits in Königsberg zu den durchsetzungsfähigsten und intelligentesten, klügsten Kindern (sie war zu dieser Zeit erst 12 Jahre alt) zählte, schlägt sich mit ihrer Mutter Martha durch diese grauenhaften Zeiten - und überlebt. Grausam und unmenschlich empfand ich die erschütternde Lebensreise von Ursula Dorn besonders nach Einsetzen der Hungersnot (wobei Königsberg, heute Kaliningrad bis 1944 von Bomben verschont blieb) im Kindesalter; auch war mir bis zum Lesen dieses autobiografischen Buches nicht klar, dass viele Deutsche in Königsberg festsaßen und die meisten ihr Leben ließen: Der Krieg am 8. Mai 1945 für Erwachsene und Kinder in Ostpreußen noch länger nicht zu Ende sein sollte!


    Schon lange jedoch empfinde ich tiefstes Bedauern mit all' den Menschen (und deren Hinterbliebenen bzw. noch lebenden Nachfahren), die im 2. Weltkrieg "bis zuletzt" in Ostpreußen ausharren mussten und viel zu spät flüchten konnten: Von der roten Armee "überrannt" , überflogen und unter vielen Opfern überrollt wurden (de facto mit russischen Panzern, die keinerlei Bedauern mit den Flüchtlingen hatten, wie mir ein Zeitzeuge einmal erzählte.


    Der Weg von Ursula Dorn war auch weiter steinig: Er führte über die frühere DDR in den Westen und wie sich herausstellte, sorgte eher die Tochter für die (stark depressive) Mutter als es umgekehrt hätte der Fall sein sollen; doch auch daran ist Ursula Dorn nicht zerbrochen und ließ ihre Mutter niemals im Stich (zwei Geschwister überlebten nicht; ein Bruder wurde später in Berlin via Suchdienst des DRK ausfindig gemacht). Allerdings ist es der Familie nicht mehr gelungen (trotz Ursulas Versuchen), wieder zusammen zukommen.


    Positiv fand ich, dass Ursula Dorn ihre Geschichte in hohem Alter mitteilte; ja das Schreiben für sie eine Art von Selbsttherapie gewesen ist und sie auch aktiv im Leben blieb: So fuhr sie 2020 noch einmal nach Kaliningrad und hatte verständlicherweise mehr als schwer an den Erinnerungen zu tragen: Im Verein Edelweiß, der sich in den 90er Jahren gründete und der 20 frühere Wolfskinder als Mitglieder hat, gibt es einen Unterstützer, der selbst ein Buch über dieses Thema geschrieben hat: Baron Wolfgang von Stetten. Dieser sorgt auch dafür, dass die in Litauen verbliebenen (unter anderer Identität lebender) Wolfskinder zumindest eine geringe Rente erhalten: Mit Ärger erfüllt es mich, wie sehr der deutsche Staat bis heute etwaige Reparationen ablehnt - und die Thematik dieser verlassenen, vertriebenen und vom Hunger- und Kältetod bedrohten, traumatisierten Kinder aus Ostpreußen totschweigt!


    Christian Hardinghaus hat die Aussagen von Ursula Dorn mit exakten historischen Daten und politischen Hintergründen verwoben, da ich hier ebenfalls "Leerstellen" hatte und jetzt ein umfassenderes Bild, danke ich hierfür besonders! "Das Wolfsmädchen" ist keine leichte Kost - aber umso wichtiger finde ich, dass es von vielen Menschen gelesen wird, die sich für die Aufarbeitung einer solch' verdrängten Thematik gerne auseinandersetzen, vielleicht auch Nachfahren ehemaliger Wolfskinder sind oder geschichtliches Interesse mitbringen. Gerade jetzt, im aktuellen Ukrainekrieg, der für viele Menschen aus den baltischen Staaten - aber auch für solche wie Ursula Dorn, eine reale Bedrohung darstellen und sie eine Warnung ausgibt, die ich sehr ernst nehme; die Schicksale der weiteren Wolfskinder, die ihre Stimme ebenfalls hier anschließen und Ursulas Beschreibungen ergänzen, sollten nicht länger überhört werden! Für einen - wenn auch mehr als bewegenden Eindruck, der anfangs eher erschüttert - in das leidgeprägte Leben eines Wolfskindes, hier Ursula Dorn, danke ich ganz herzlich und empfehle es absolut weiter! 5*


    5ratten

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Der Titel ist mir schon ein paar Mal untergekommen, aber ich habe mir etwas anderes darunter vorgestellt. Die Bücherei hat es noch nicht, aber es steht auf jeden Fall auf meiner Wunschliste.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Ich habe das Buch gestern begonnen (bin auf dem Kindle jetzt bei 13%) und finde es bis jetzt schon sehr ansprechend, mir gefällt die Mischung aus fundierter historischer Recherche, und dem biografischen Ansatz, Ursulas persönliche Geschichte zu erzählen. Das ist auch sprachlich gut umgesetzt in einem relativ nüchternen Ton, der dann aber immer wieder auch kleine Hinweise auf die jeweilige Stimmung und Befindlichkeit der Protagonistin gibt.

  • Ich bin mit dem Buch jetzt durch und muss sagen, dass sich der positive Eindruck bis auf wenige Aspekte zum Ende durchweg gehalten hat. Der dokumentarische Stil und die detailfreudige Erzählung der Protagonistin nehmen einen mit in einen Teil des Themenbereichs Ostpreußen/Flucht/Vertreibung, der sonst höchstens am Rande erwähnt wird.


    Gerade am Ende werden auch Bezüge zur Gegenwart, v.a. zum Ukraine-Krieg hergestellt, was ich prinzipiell gut finde, da hierdurch deutlich wird, dass unsere Gegenwart durchaus auch Bezüge zur Geschichte hat. Negativ aufgefallen ist mir in diesem Zusammenhang aber die etwas kleinlich wirkende Feststellung, dass die Flüchtlinge aus der Ukraine heute freundlicher und offener empfangen werden als damals die Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Dies ist sicher der Fall, allerdings leben wir auch in einer anderen Zeit, und ich finde einfach, dass man das auch positiv konnotieren könnte, dass gerade die Deutschen mit ihrer durchaus problematischen Vergangenheit heute ähnlich agieren wie damals die Litauer, die eben die Wolfskinder aufgenommen und unterstützt haben.


    Ganz schwierig finde ich die Forderung des Autors im Nachwort, diesem Thema mehr Präsenz sowohl in den historischen Debatten wie auch dem Schulunterricht einzuräumen. Ja, es ist ein Thema, über das wenig bekannt ist und das mehr Beachtung verdient. Aber: Bei einer intensiveren Auseinandersetzung mit den deutschen Opfern des Zweiten Weltkriegs (und das betrifft eben auch die nach 1945 Vertriebenen) besteht immer die Gefahr, dass diese für eine Relativierung der Täterrolle der Deutschen genutzt wird. Und im Vergleich zu vielen anderen Verbrechen in Zusammenhang mit den Zweiten Weltkrieg (und da muss man nicht einmal zwingend auf Shoah und Pojramos schauen) ist das Thema Wolfskinder eben nicht mehr als eine bedauerliche Randnotiz der Geschichte, so schlimm das Schicksal für die einzelnen Betroffenen auch war.


    Ich kann eine definitive Leseempfehlung für Geschichtsinteressierte aussprechen, würde allerdings nicht so weit gehen wie der Autor, eine allgemeine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zu fordern.


    4ratten

  • Das sehe ich etwas anders, Juva - denn für mich ging es zwar in erster Linie um die Wolfskinder; wobei Ursula Dorn's Lebensweg hier exemplarisch stehen dürfte: Es waren auch viele Erwachsene; Frauen z.B. noch in Königsberg verblieben und 120 000 Menschen, die keine Chance hatten, rechtzeitig gen Westen zu fliehen, ihrem Schicksal zu überlassen - und eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Aspekt des 2. WK unter den Teppich (der Geschichte) zu kehren; damit bin ich absolut nicht einverstanden.


    Ich habe zahlreiche Sachbücher und auch historische Romane etc. zum WWII gelesen; viele über das Thema Holocaust (eine Biografie eines der letzten Überlebenden, der heute in England lebt und inzwischen fast 100jährig ist) und Dokus, die thematisch die Täterperspektive beleuchten: Durchaus richtig. Absolut notwendig, was die Aufarbeitung betrifft: Aber solche "Minderheiten" (es geht u.a. auch um Sinti und Roma sowie Juden, die ebenfalls in Königsberg lebten) und ihr Schicksal zu betrachten, sollte eigentlich keine "Randnotiz der Geschichte" darstellen: Entrechtet, eingesperrt, hoffnungslos einem Hungertod entgegen zusehen, hat auch nicht in entferntester Weise mit Menschlichkeit zu tun.


    Nicht in Ordnung finde ich vor allem, dass sie auch nach den bitteren Jahren, den schlimmsten Erfahrungen und Traumatas noch bis in die 90er Jahre - eigentlich bis heute - "kaltgestellt" wurden; keine Entschädigung erhalten haben! Ich habe inzwischen in Sonya Winterberg - Wir sind die Wolfskinder mal einiges gelesen: Dort kann man den ernüchternden Briefwechsel sehen, der ehemaligen Wolfskindern auch nach Jahrzehnten noch angetan wird: Sie mögen sich in Geduld üben - oder die Papiere der (deutschen) Großeltern fehlten noch zum Antrag: Typisch deutsche Bürokratie eben. Ausreiseanträge, die gestellt wurden und Jahre benötigen, bis sie entschieden sind: Bis sich "diese Randnotizen" qua biologische Mittel von selbst lösen.... - viele sind inzwischen verstorben.

    Respekt zolle ich in diesem Zusammenhang Wolfgang Freiherr von Stetten, der sich für diese Menschen sehr eingesetzt hat - und dafür sorgte, dass die in Litauen lebenden ehemaligen Wolfskinder zumindest eine kleine Rente bekommen (finanziert aus Spenden).

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)