Kaufen* bei |
Kaufen* bei |
Der elfjährige Hamnet ist verzweifelt. Eben noch hat seine Zwillingsschwester Judith fröhlich mit ihm und den kleinen Kätzchen gespielt, doch jetzt geht es ihr gar nicht gut. Er will unbedingt helfen, doch alle Erwachsenen im Haushalt scheinen wie vom Erdboden verschluckt. Sein Vater, ein aufstrebender Dichter und Dramatiker, ist sowieso die meiste Zeit in London, aber wenn doch nur die Mutter nach Hause käme, die sich mit Heilpflanzen und Krankenpflege auskennt.
Als Agnes von ihrem Heilkräuter- und Bienengarten nach Hause kommt, findet sie ihre Tochter schon kaum noch ansprechbar vor, und was Hamnet bereits geahnt hat, wird zur schrecklichen Gewissheit. Wie eine Löwin kämpft Agnes um das Leben ihres Kindes und ahnt nicht, dass es ihr Sohn sein wird, den sie begraben muss, der Vater wird ihn gar nicht mehr lebend sehen.
Dass Hamnet stirbt, ist kein Spoiler, sondern wird bereits im Vorspann angesprochen und ist auch historisch belegt. Anhand der Namen wird vielleicht schon der eine oder die andere gemerkt haben, dass es hier nicht um eine gewöhnliche und auch nicht um eine erfundene Familie geht. Der abwesende Familienvater, der keine Lust hatte, das Handschuhmachergeschäft seines jähzornigen Vaters zu übernehmen, wird als DER Dichter in die englischsprachige Literaturgeschichte eingehen und heißt natürlich William Shakespeare - obwohl der Name im ganzen Buch kein einziges Mal genannt wird.
"Hamnet" ist kein herkömmlicher historischer Roman, dafür sorgen schon die glasklare Sprache und die Erzählung im Präsens, aber auch, dass auf ausschweifende Schilderungen der historischen Umstände verzichtet wird. Man ist sehr dicht bei den Figuren, in ihrer persönlichen Lebenswelt zwischen Kräutergarten, Marktplatz und den beiden aneinandergebauten Häusern, in denen drei Generationen zu Hause sind, beileibe nicht immer ohne Konflikte. Der Familienpatriarch neigt zur Gewalt, seine Frau kommt nicht immer gut mit der Schwiegertochter zurecht, die so anders ist als die meisten Hausfrauen und Mütter ihrer Zeit. Agnes, die einen ganz besonderen Blick auf die Welt hat und unter einer Stiefmutter zu leiden hatte, die die Kinder ihres Mannes aus erster Ehe nie wirklich akzeptiert hat, fühlt sich oft missverstanden und von ihrem Mann alleingelassen. Der ist zwar durchaus ein liebevoller Ehemann und Vater, doch seine große Leidenschaft gilt dem Schreiben und vor allem dem Theater, dem er sich in London so viel besser widmen kann als zu Hause in Stratford-upon-Avon.
Maggie O'Farrell fühlt sich ganz wunderbar in die verschiedenen Charaktere ein und erzählt zunächst parallel aus der Gegenwart, in der die Pestilenz traurigen Einzug gehalten hat, und rückblickend von Agnes' Lebensweg, später laufen alle Fäden dann in der Erzählgegenwart zusammen und sie schildert sehr bewegend, wie die einzelnen Familienmitglieder - sehr unterschiedlich - mit dem Verlust umgehen.
Die Autorin werde ich mir auf jeden Fall merken, für mich steht sie schon nach diesem Buch in einer Reihe mit Sarah Moss oder Hannah Kent (auch wenn ich mich zunächst in den Stil ein bisschen einlesen musste). Mein letztes Highlight für 2022!
+