Stefan Hertmans - Die Fremde

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    Bei der Einordung dieses Romans habe ich mich schwer getan, weil er zu großen Teilen das Schicksal einer Frau im Mittelalter thematisiert. Da es aber eben kein typischer historischer Roman ist, gerade weil der Autor die mentale Kluft zwischen Menschen der Gegenwart und der Vergangenheit immer wieder thematisiert und immer wieder Brücken zur Jetztzeit schlägt, ordne ich ihn in die Gegenwartsliteratur ein.


    Zitat

    "Vorsichtig betrete ich das Gebäude, das Ziel meiner Suche nach Hamutal. Nach der Jeschiwa von Rouen, der Krypta in Clermont und den Ruinen des mittelalterlichen Moniou ist dies der vierte Ort, wo ich Hamutals Schicksal fast mit Händen greifen kann. Das Innere ist fachmännisch restauriert. Es ähnelt in nichts mehr der mittelalterlichen Gebetsstätte, die die heimatlose, erschöpfte Frau vor Augen hatte, doch Ort und Haus sind dieselben. [...]

    Ich gehe zur rechten Seite des Gebäudes und schaue zur Frauenempore. Mir bleibt buchstäblich die Luft weg: Am Ende der Empore klafft das Loch der Genisa, die dunkle Öffnung, in die Hunderttausende von Manuskripten geworfen wurden, damit Jahwe sie zurücknehme, was sie zu jahrhundertelanger Vergessenheit verurteilte." (S. 225)


    Der Fund der Dokumente in der Geniza der alten Synagoge in Kairo vor einigen Jahren ist der Ausgangspunkt der Geschichte. In eine solche Geniza wurden Dokumente geworfen, die nicht vernichtet werden konnten, weil auf ihnen der Name Gottes vermerkt war, und da es sich um die verschiedensten Dokumente aus einer jüdischen Gemeinde handeln konnte geben diese Historikern heute Aufschluss über unterschiedliche Bereiche des früheren Lebens. In Kairo wurde unter anderem ein Empfehlungsschreiben gefunden, das einer Jüdin die Reise aus dem heutigen Frankreich in den vorderen Orient ermöglichen und erleichtern sollte, damit sie ihre verschollenen Kinder suchen konnte - dieses Schreiben stammt aus dem Jahre 1097 und hat den Autor Stefan Hertmans zu dem Roman "Die Fremde" inspiriert.


    Die Geschichte Hamutals, die als Vigdis geboren wird, nimmt ihren Anfang in Rouen, ihr Vater ist ein von den Wikingern abstammender Normanne, ihre Mutter stammt aus Flandern. Vigdis wächst in einer gut situierten Familie auf, verlässt diese aber bei Nacht und Nebel, weil sie sich in einen Juden verliebt hat - David, den Sohn des Oberrabiners aus Narbonne, der zum Studium in die jüdische Gemeinde von Rouen geschickt wurde. Ihm zuliebe konvertiert sie zum Judentum und beide lassen sich, nach einer Flucht vor den von ihrem Vater ausgeschickten Rittern, die sie quer durch Frankreich bis in die Provence führt, in Moniou, dem heutigen Monieux, nieder. Doch es sind ihnen nur wenige glückliche Jahre vergönnt - der erste Kreuzzug beginnt und die Kreuzritter verüben im Dorf ein Massaker, bei dem David ums Leben kommt und zwei von Hamutals drei Kindern verschleppt werden. Nach dem Pogrom macht sich Hamutal auf die Suche nach ihnen und da kommt der in Kairo gefundene Brief ins Spiel.


    Die Geschehnisse wechseln durch den ganzen Roman hindurch immer wieder zwischen den Zeiten, der Autor schildert nicht nur seine eigenen Eindrücke von Monieux, das für ihn der Ausgangspunkt für das Interesse an Hamutals Geschichte ist, er folgt ihren Spuren durch Frankreich und schließlich bis nach Kairo und wieder zurück nach Europa, dazu schildert er jeweils seine Gedanken und Eindrücke. Durch den nüchternen, dokumentarisch anmutenden Ton seiner Erzählung entsteht manchmal eine gewisse Distanz zum Geschehen, manche Ereignisse werden dadurch aber auch eindringlicher - etwa die Gewalt, der Hamutal in ihrem Leben immer wieder ausgesetzt ist.

    Was den Roman von typischen historischen Romanen unterscheidet ist vor allem, dass der Autor zwar versucht, Hamutals Gedanken und Gefühle nachzuempfinden, dabei aber immer wieder das Spekulative daran betont indem er darauf hinweist, dass wir heute aufgrund der großen zeitlichen Distanz, vor allem aber aufgrund der besonderen Situation, in der sich Hamutal als zum Judentum übergetretene Christin des Mittelalters befand, nicht wirklich in der Lage sind, die mentalen und kulturellen Grenzen zu überschreiten, die uns von ihr trennen. Trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen?) folgt man Hamutals schwerem und ungewöhnlichem Schicksal mit großem Interesse, obwohl man schon ahnt, dass diese Geschichte eigentlich nicht gut ausgehen kann.


    Dass sie das in gewisser Weise doch tut liegt wieder an den Verbindungen zur Gegenwart, am historischen Wert der heute in Cambridge liegenden Dokumente aus der Geniza in Kairo, aber auch an der Zeitlosigkeit der provencalischen Landschaft, mit der sich der Autor verbunden fühlt. Ein ungewöhnliches Buch, das sicher noch einige Zeit in meinen Gedanken nachhallen wird.


    5ratten

  • Das klingt großartig, vielen Dank für die schöne Rezi.


    Ich habe vor ein paar Jahren "Krieg und Terpentin" von Hertmans gelesen und auch sehr ungewöhnlich und beeindruckend gefunden.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen