Leo Tolstoi - Krieg und Frieden (Buch 3 - Teil 1)

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  • Kap. 1-15:
    Krieg, Krieg, Krieg - und leider ziemliche Langeweile. Hier zieht sich das Buch für meinen Geschmack arg. Einige Kapitel hätten gerne völlig fehlen dürfen, z. B. das 5., in dem beschrieben wird, wie der russische Unterhändler auf seinem Weg zu Napoleon von einem französischen Offizier aufgehalten wird und das 6., in dem das Treffen Balaschews mit Napoleon in Einzelheiten geschildert wird. Ich habe den Eindruck, dass Tolstoi für die Kriegsschilderungen intensive Quellenforschung betrieben hat und sich auch jede Menge Fachliteratur einverleibt hat, und ganze Episoden mehr oder weniger genau wiedergibt. Eventuell wird eine seiner eigenen Schöpfungen mit in die Episode eingebaut, aber das ist dann auch alles.
    Seinen russischen Zeitgenossen lagen diese Kapitel sicher näher als heutigen (noch dazu nicht-russischen) Lesern wie mir, die davon ziemlich genervt ist.


    Zum Lachen brachte mich Napoleon im 6. Kapitel, als er meint: Ich habe den Krieg nie gewünscht und wünsche ihn auch jetzt nicht. Nein, nein, dass er mit seinen Truppen in Russland steht, hat mit einem Kriegswunsch gar nichts zu tun! :zwinker:


    Interessant fand ich die Beschreibung der verschiedenen russischen Gruppierungen, wie und von wem der Krieg geführt werden sollte im 9. Kap. Die Aufzählung nahm überhaupt kein Ende, und vor allem die letzte, größte Partei, nämlich die der Kriegsgewinnler, versöhnte mich wieder mit diesem Buch. Immer wieder beweist Tolstoi in Kleinigkeiten einen klaren Blick, mit dem er die nähere Vergangenheit seines Landes durchschaut, und gerade an diesen Stellen gefällt mir das Buch dann wieder sehr gut.


    15. Kap.:
    Hier überrascht mich Nikolai durch sein doch recht unkriegerisches Verhalten. Bis dahin machte er den Eindruck des perfekten Offiziers, der sich hervorragend mit den Erfordernissen des militärischen Lebens und des Krieges arrangiert hat, und dann ist er plötzlich schockiert, als er die Todesangst im Blick des französischen Offiziers sieht, dem er mit erhobenem Säbel entgegenstürmt. Und er beginnt, nachzudenken: Was hat der Junge mit den blauen Augen und dem Grübchen am Kinn für Böses begangen? Oh, wie er sich gefürchtet hat! Er dachte, ich würde ihn totschlagen. Wieso sollte ich das tun?
    Wieso, in der Tat. Hier zeigt sich wieder eine Kritik am Krieg, die mich angenehm überrascht.

    Wir sind irre, also lesen wir!

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  • Kap. 16-23:
    Währenddessen in Moskau:


    Natascha erholt sich allmählich; der jugendliche Lebenswille gewinnt. Gut gefallen mir die Überlegungen zu dem Nutzen der Ärzte (Kap. 16), der weitgehend darin besteht, das Gefühl zu vermitteln, dass alles Menschenmögliche getan wird. Zwar nutzen die Medikamente bestenfalls nicht, schlechtestenfalls schaden sie, aber trotzdem ist es von äußerster Wichtigkeit, dass der ärztlichen Anordnung haargenau gefolgt wird.
    Mir fiel in diesem Zusammenhang Henry Fieldings "Tom Jones" ein, in der der ärztliche Berufsstand noch viel härter kritisiert wird, und auch bei Charles Dickens finden sich ähnliche Szenen. Der Ruf der Ärzte im 19. Jahrhundert war wohl nicht der beste (und ihre Behandlungsmöglichkeiten waren ja auch ziemlich eingeschränkt verglichen mit dem heutigen Standard. Trotzdem lassen sich einige Gedanken auch auf die heutige Zeit übertragen).


    Und dann kommt der Zar höchstpersönlich nach Moskau und mit ihm für mich unerträgliche Heldenanbetung. Gut, es ist wohl nicht unrealistisch, dass die Menschen ausflippen, wenn sie einen Blick auf ihr geliebten Idols erhaschen, dass sie vor Gemütsbewegung weinen und beinahe in Ohnmacht fallen. Dass aber auch die Adligen, die ihn doch immerhin - nehme ich zumindest an - öfters zu Gesicht bekommen und ihn so auch als Mensch kennen müssten, ebenso hin und weg von ihm sind, und nahezu in Ehrfurcht vor ihm erstarren, fällt mir schwerer zu glauben. Was mich aber vor allem stört, ist Tolstois Haltung ihm gegenüber - so weit man die nun aus dem Buch herauslesen kann. Tolstoi scheint mir den Zaren ebenso sehr anzubeten wie seine literarischen Figuren; zumindest kann ich keine Kritik an ihm entdecken. Ansonsten ist Tolstoi ja ganz schön hart, was Kritik an der russischen Gesellschaft angeht, aber der Zar scheint ihm tabu zu sein. Kein Körnchen darf das perfekte Bild dieser Person (oder dieses Amtes) trüben. Schade.
    Oder bin ich nur blind, was versteckte Kritik des Zaren angeht?


    Aber immerin hat der Besuch des Zaren die erwünschte Wirkung: angeregt durch den herrschenden Patriotismus bringen auch Adel und Bürger Opfer zum Nutzen des Vaterlandes. So beschließt doch z. B. der Moskauer Adel, 10 von 1000 Bauern zu opfern. Wie großmütig! Leider ist dieses Verb wohl wörtlich zu verstehen, denn überleben wird vermutlich nur ein geringer Teil dieser in den Krieg geschickten Landarbeiter. Gefragt werden sie natürlich nicht, da sie sowieso das Eigentum der Adeligen sind und überhaupt nicht über ihr eigenes Leben bestimmen dürfen.


    Den Höhpunkt dieses Buches stellte eindeutig das 19. Kap. dar, in dem Pierre Buchstabenberechnungen nach hebräischem Vorbild vornimmt. Er rechnet und rechnet, ändert die Berechnungsgrundlage immer wieder und setzt sich schließlich auch über die französische Grammatik hinweg, bis er zum gewünschten Ergebnis kommt :breitgrins: . Eine ähnliche Szene findet sich auch in Ecos "Foucault'schem Pendel", und jetzt weiß ich, dass in dieser Szene, die ich damals als nicht ganz glaubwürdig bewertet hatte, vielleicht doch nicht so abwegig ist wie ich dachte.


    Ach ja, im 18. Kap. wird ganz nebenbei Denisow erwähnt. Was ist eigentlich aus dem geworden? Hat er seinen Lazarettaufenthalt überlebt?

    Wir sind irre, also lesen wir!

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