Kafka meets Edelbauer - Das Schloss und Das flüssige Land. Ein Vergleich, Parallelen und Weiterentwicklungen

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  • Ich hab noch nicht wirklich begonnen, realistisch gesehen wird es morgen sein.

    Als Hintergrundinformation, der Ort, der da im Buch von Raphaela Edelbauer beschrieben wird ist Hinterbrühl. Das ist in der Nähe von Wien in einem engen Tal im Wienerwald. Dort gab es Stollen, in denen die Nazis Raketen unterirdisch gebaut haben und ein Außenlager eines KZ. Die Arbeiten mussten Zwarngsarbeiter:innen verrichten.

  • Ich bin mittlerweile mitten im Kapitel 4 angekommen. Die Sprache ist wortgewaltig und sehr bildhaft, das mag ich schon mal an dem Roman. Zu Beginn habe ich viele Persönliche Assoziationen. Das Neue Institutsgebäude (NIG) in dem Sie unterrichtet war in den ersten Studienjahren meines Anglistik/Amerikanistik Studiums auch der Sitz meines Institutes. Danach siedelte es auf den neuen Uni-Campus im Alten AKH.

    Die Reise über den Wechsel fand ich auch amüsant, ich kenne jedes der Käffer, die sie beschreibt. Der Wechsel ist der vorletzte Ausläufer der Alpen und ca. 20 min. von mir entfernt.


    Die Erzählerin wirkt oft sehr distanziert zur Realität, aber bei dem Medikamentenkonsum auch kein Wunder. Sie nimmt Barbiturate und Psychopharmaka wahllos wie es scheint. Mich verwundert es nicht, dass sie ihr Mobiltelefon wegwirft. Sie kann ja mit der Realität nicht umgehen. Das Handy erinnert sie immer wieder daran, zieht sie zurück in ihre alte Welt. Sie ist aber auf der Suche nach einer neuen "alten" Welt. Laut ihrer Theorie, dass die Zeit keine Abfolge ist, sondern alles gleichzeitig ist - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - ist alles andere nur störend.


    Groß Einland findet sie aber nicht wie gedacht am Wechsel, dort ist es zu Alpin für Weinberge und alles andere, was ihre Eltern erzählten.


    Ich finde auch die Idee spannend, wie sie sich Mindmaps macht, um die Erzählungen ihrer Eltern zu rekonstruieren.


    Die Wirtshausszene mit dem Indischen Maskenverkäufer, der sie im Endeffekt mit Traumzeit Geschichten eigentlich betrügt erinnert ein bisschen an die Wirtshausszenen im Schloss. K. ist auf der Suche nach einem Weg ins Schloss und Ruth sucht das mysteriöse Groß Einland, das niemand kennt, aber doch zu existieren scheint.


    Bisher gefällt mir das Buch wirklich sehr gut.

  • Ruth ist in Groß-Einland eingetroffen. Der Weg dorthin ist wie der Weg in K.s Dorf zum Schloss. Nicht wirklich ersichtlich.


    Immerhin gibt es in G.E ein Schloss und eine Gräfin, die das Sagen hat. Die bürokratischen Anforderungen an Tourist;innen sind äußerst ungewöhnlich und das Loch unterhalb des Hauptplatzes sehr mysteriös.


    Als kleine Nebenbemerkung ein bildhafter Vergleich, der mich zum Schmunzeln gebracht hat. Die Lagerfeuercrew wird sicher wissen warum :


    "Der Hauptschlund, ein nicht weniger als fünfzig Meter breiter sowie zweihundert Meter tiefer Abyss, klaffte unter dem Marktplatz und gefährdete die Statik der gesamten Innenstadt, die wie der Gipfel einer Schwedenbombe ihre Fundamente auf porösem Schaum stehen hatte."

  • Zunächst scheint Groß-Einland ja einen durchaus positiven Eindruck auf Ruth zu machen, auch wenn es bereits einige Hinweise auf Merkwürdigkeiten gibt, die durchaus als Parallele zu "Das Schloss" gesehen werden können, etwa die im Kreis um den Ort herumführende Autobahn - bei Kafka führten die Wege ja auch nur vermeintlich zum Schloss, um dann irgendwo anders abzuzweigen.


    Wirklich erstaunt war ich, dass Ruths Eltern offenbar ohne ihr Wissen regelmäßig in Groß-Einland waren, was sie vom Friedhofswärter erfährt. Immerhin kann der ihr aber auch konkrete Hinweise auf ihre Vorfahren geben, womit der Ort ein bißchen greifbarer erscheint.


    Ruth hat kurz nach ihrem Eintreffen in Groß-Einland ihre Medikamente aufgebraucht, ich bin gespannt, wie sie dieses Problem lösen wird bzw. wie es da weitergeht, denn sie scheint ja sehr darauf angewiesen zu sein, sich damit von der Realität abzuschotten.

  • Es ist erstaunlich, dass es Ruth in Groß-Einland von Anfang an gut geht und sie deshalb ihre Medikamente gar nicht braucht. Sie lebt ein produktives, gesundes Leben und wird direkt in die Ortsgemeinschaft integriert, scheint sich dabei auch wenig Gedanken über die Merkwürdigkeiten des Ortes zu machen.


    Etwas anders wird das, als sie zur Gräfin zitiert wird, die sie für geologisch-physikalische Untersuchungen anstellen möchte, aber zur Bedingung macht, dass Ruth unter ihrer direkten Überwachung arbeitet. Ruth sträubt sich und gibt selbst zu, dass sie Angst vor der Gräfin und ihren Ansprüchen hat.


    Hier sehe ich einen deutlichen Gegensatz zu Kafkas Roman, denn während dort die Institution "Schloss" nie genauer definiert wird, hat man es hier mit einer konkreten Person zu tun, die durchaus fuchteinflößend wirkt. Die Verflechtung zwischen demokratischer Legitimierung (die Gräfin war voher Bürgermeisterin des Ortes) und Besitz (der Ort Groß-Einland gehört der Gräfin) erscheint merkwürdig, haben die Menschen sie vielleicht aus Angst gewählt, weil sie ohnehin alle Leben beeinflussen kann? Gleichzeitig wird ihre Macht aber als eine Art Naturgewalt von den Einheimischen anerkannt, die sie nicht unbedingt zu bedrücken scheint.


    Nach etwa einem Drittel des Romans haben sich die Anzeichen, dass mit Groß-Einland etwas grundlegend nicht stimmt, extrem verdichtet, und das Loch unter dem Ort scheint dabei eines der kleineren Probleme zu sein.

  • Durch wenig Lesezeit bedingt bin ich jetzt bei Kapitel 13 angelangt. Noch immer fasziniert mich das Buch. Ruth ist mittlerweile voll in Groß-Einland angekommen. Sie hat sich eingegliedert in das eigenartige System und ist ähnlich wie K. mit Vermessungen des großen Loches unterhalb des Dorfes beschäftigt.


    Das Dorf ist nach dem Zweiten Weltkrieg in ein monarchistisches Lehenssystem eingegliedert worden. Die Gräfin herrscht über Land und Leute. Sie macht die Bewohner;innen durch ein eigenwilliges Schuldscheinsystem abhängig.


    Die Geschichte mit Ruths Eltern wird immer spannender. Sie wurden ja auch in Wien von der Tante beerdigt, weil Ruth sich zu spät gemeldet hatte. Auch das Auftauchen der Großmutter im Altersheim ist etwas mysteriös.


    Die Geschichte des Ortes, auch die der Zwangsarbeiter aus dem KZ, die im Dorf umgekommen sind ist nach wie vor etwas undurchsichtig. Alles was erfahrbar gemacht werden kann ist nur mündlich überliefert. Es sind Geschichten, deren Wahrheitsgehalt nicht überprüft werden kann. Eine wahre Fake-News Gesellschaft. Es wird auch nichts hinterfragt.


    Hoffentlich schaffe ich es am Wochenende noch etwas weiter zu kommen.

  • Es ist geschafft :)


    Heute konnte ich das Buch beenden. Der Einfluss von Kafka ist schon zu spüren. Die Absurditäten in dem Ort werden immer deutlicher, es wehrt sich keiner dagegen. Die Gräfin, die keine ist, die Vergangenheit, die einfach unter der Erde verschollen bleibt. Niemand i

    m Ort interessiert sich dafür, es wäre auch zu unbequem.

    Ruth ist fest entschlossen alles aufzudecken. Was mit den Zwangsarbeitern passiert ist, auch mit ihrem Großvater Schwarz.


    Der Kreis schließt sich, sie trifft wieder auf den Maskenverkäufer, der ihr nur eine gefälschte Maske verkauft hat. Die Traumzeit war nur ein Verkaufsargument, die Masken sind was sie dem Namen nach auch sind, Mittel für eine Maskerade, nichts echtes.


    Aufgefallen ist mir eine kleine Ungereimtheit. Die Gräfin hieß einmal Ulrike und einmal Ursula, ich glaube das ist nicht so gewollt.


    Ich war wirklich begeistert von dem Buch, ist auf jeden fall eines meiner Highlights bis jetzt in diesem Jahr.

  • Ich bin auch endlich durch - komisch, einerseits musste ich mich echt aufraffen, das Buch weiterzulesen, andererseits flogen die Seiten dann nur so dahin. Ich gebe Dir auf jeden Fall recht, b.a.t. , dass es ein tolles Buch ist und es wird am Ende des Jahres wahrscheinlich auch auf meiner Bestenliste auftauchen.


    Die vermeintliche Idylle Groß-Einlands relativiert sich für Ruth dann doch, sie besorgt sich ihre Medikamente illegal und führt die Gräfin hinters Licht, was ihre Bemühungen um eine Füllmasse für das Loch angeht. Je weiter der Roman voranschreitet, desto deutlicher werden die Paralellen zu Kafka - teils bis in die Formulierungen hinein, finde ich - aber gleichzeitig entwickelt sich Ruth in eine ganze andere Richtung als der Landvermesser K.: Sie versucht, das System auszutricksen und plant ihre Flucht aus dem Ort, damit wird sie nach einer gewissen Zeit der Passivität wieder aktiv und das hat mir gut gefallen.


    Aufgefallen ist mir eine kleine Ungereimtheit. Die Gräfin hieß einmal Ulrike und einmal Ursula, ich glaube das ist nicht so gewollt.

    Ich glaube doch, dass das Absicht ist, da Ruths Realität immer weiter verschwimmt, was beispielsweise auch an den Zeitangaben deutlich wird. Am Ende glaubt sie, drei Jahre in Groß-Einland gewesen zu sein, tatsächlich waren es laut ihrer Tante aber sechs Jahre. Auch sie selbst spricht von unterschiedlichen Jahreszahlen, die teils gegen eine chronologische Erzählung sprechen (sie fährt 2007 los, dann ist mal die Rede von 2011, dann wieder von 2009), ich hatte den Eindruck, dass diese Angaben die LeserInnen auf die Probe stellen und vielleicht auch verwirren sollen. Und dazu passen die unterschiedlichen Namen der Gräfin für mich perfekt, da sie ja auch als Person nicht wirklich zu fassen ist - mal perfektionistisch und kritisch, dann wieder auf Nähe und Freundschaft aus.


    Insgesamt hat mir der Roman gut gefallen, und er lässt sich, wenn man bereit ist, die Merkwürdigkeiten Groß-Einlands zu akzeptieren, auch wirklich gut lesen. Zudem liefert er viele Aspekte, mit denen man sich gedanklich auch länger beschäftigen kann.


    Ich finde den gesamten Roman, vor allem aber die Protagonistin Ruth, deutlich zugänglicher als Kafkas "Das Schloss", was sicher mit den deutlichen Aktualitätsbezügen zu tun haben dürfte.