Beiträge von Buchbesprechung

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    REZENSION – Mit ihrem im August beim Verlag Harper Collins erschienenen Kriminalroman „Der falsche Preuße“ hat Journalistin Uta Seeburg nicht nur ein lesenswertes Debüt als Schriftstellerin vorgelegt, sondern zugleich einen grandiosen Auftakt zu einer historischen Krimireihe um den 1894 in München als kriminalistischen Sonderermittler eingesetzten preußischen Reserveoffizier Wilhelm Freiherr von Gryszinski.

    Der liebende Ehemann seiner Sophie und Vater des kleinen Friedrich ist kein strahlender Held, sondern Berufsanfänger in wissenschaftlicher Kriminalistik, der zwar die neue Kunst der Spurensicherung und des Abnehmens von Fingerabdrücken anzuwenden weiß, dem aber als Ermittler noch manches unverzeihliches Missgeschick geschieht. Erst wenige Jahre zuvor hatte er in Wien beim legendären Strafrechtler Hans Groß (1847-1915) seine Ausbildung erhalten und war von diesem dem Münchner Polizeidirektor Ludwig von Welser (1841-1931) als besonders befähigt empfohlen worden.

    Bei der Aufklärung seines ersten Mordfalles muss sich Gryszinski nun bewähren und sein kriminalistisches Können beweisen. Unterstützt wird er dabei von Wachtmeister Vogelmaier, genannt Spatzl, der bei seinen Ermittlungen sein in vielen Jahren aufgebautes Netzwerk aus Wirtshaus-Spezln zu nutzen weiß, und dessen Kollegen, dem alles Preußische verehrenden Schwaben Eberle. Sich immer an seinen Wiener Lehrmeister Hans Groß erinnernd, dessen Lehrsätze aus seinem „Handbuch für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen usw.“ (1893) jedem Kapitel als Zitat vorangestellt sind, versucht Gryszinski sein Bestes.

    Eines Nachts war die kaum bekleidete, nur von einem mit Federn besetzten Umhang umhüllte Leiche des Bierbeschauers Sperber in einer Grünanlage abgelegt worden. Das Gesicht war mit einer Schrotflinte unkenntlich geschossen. Nach Identifizierung des Toten, der sich einiger Eroberungen in der Münchner Damenwelt rühmen durfte, rücken schnell der in der Gosse Berlin-Moabits aufgewachsene, doch auf unerklärliche Weise zu unermesslichem Reichtum gekommene Preuße Eduard Lemke und dessen Münchner Ehefrau Brauerei-Erbin Betti in den Fokus der Ermittlungen. Gryszinski tut sich anfangs recht schwer bei der Aufklärung des dubiosen Falles. Noch komplizierter wird es für ihn, als er vom preußischen Gesandten in München für sein Vaterland als Spion verpflichtet wird. Nun steht er vor der Wahl, seine Ehre als bayerischer Polizeibeamter zu verletzen oder aber als preußischer Reserveoffizier. Der Zufall will es, dass Gryszinski am Ende doch beiden Auftraggebern gleichermaßen gerecht werden und dadurch seine Ehre retten kann.

    Mit Geschick und einer gehörigen Portion Humor und Ironie verbindet die selbst aus Berlin stammende und seit Jahren in München lebende Autorin so unterschiedliche Aspekte wie bayerische Lebensart und Bierseligkeit mit angeblich preußischen Tugenden wie Disziplin und Enthaltsamkeit sowie Anfänge professioneller Kriminalistik mit gesellschaftlichem Leben zur Jahrhundertwende und reiht dies alles am Handlungsfaden des durchaus spannenden, auf lange Zeit scheinbar unlösbaren Kriminalfalles auf.

    Durch feine Selbstironie wirkt vor allem der unerfahrene, manchmal noch tolpatschig wirkende Ermittler besonders sympathisch, der als „falscher Preuße“ zudem in ständigem Wettstreit zwischen preußischen Tugenden und seiner Vorliebe für Schweinsbraten, Tellerfleisch mit Kren und bayerischem Bier steht.

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    REZENSION – Märchenhaft wirken nicht nur Titel und Titelbild des im August erschienenen Romans „Es war einmal ein blauer Planet“. Tatsächlich liest sich die ganze Geschichte des französischen Schriftstellers François Lelord (67), in Deutschland seit 2004 bekannt durch seine Romanreihe um den jungen Psychiater Hector, wie ein futuristisches Märchen, das einer modernen Version des „kleinen Prinzen“ seines Landsmanns Antoine de Saint-Exupéry gleicht. Auch bei Lelord geht es um Freundschaft und Menschlichkeit und die Sehnsucht nach Glück.

    Doch Lelords Protagonist ist kein kleiner Prinz, sondern ein „Neutrum“ in einer Mars-Kolonie, deren Besiedlung vor Generationen nach einer atomaren Apokalypse auf der Erde die letzte Rettung war. „Neutrum ist ein besseres Wort für Nichtsnutz, aber jeder hier weiß, was es bedeutet.“ Robin nimmt dies hin, hat doch Athena ihn dieser Gesellschaftsklasse zugeteilt - jene Künstliche Intelligenz mit dem Namen der griechischen Göttin der Weisheit und Strategie, aber auch des Kampfes, der sogar die Präsidentin hörig ist.

    Doch ausgerechnet dieser Nichtsnutz Robin wird von Athena auserwählt, zum blauen Planeten zu fliegen, um die Möglichkeit einer Rückkehr zu prüfen. Zuvor wird er gewarnt, mögliche Überlebende der Erdbewohner könnten „nicht unbedingt sanftmütig sein und zu allem Überfluss wahrscheinlich noch von Männern angeführt“ werden. Selbstverständlich sind in der Mars-Kolonie alle wichtigen Positionen längst von Frauen besetzt, hatten sich doch die Männer auf der Erde als Kriegstreiber und Zerstörer erwiesen.

    Auf der Erde spürt Robin erstmals den warmen Sand, den sanften Wind und das Farbenspiel des Meeres – echte Natur, so viel schöner als in ihrer virtuellen Nachbildung auf dem Mars. Er ist auf einer polynesischen Insel gestrandet, wo er auf junge, hübsche, glückliche und zufriedene Menschen trifft, die keiner Arbeit nachgehen. Sie streben nicht nach Wohlstand. Ihnen reicht, was die Natur bietet. Sie leben in freier Liebe, ohne feste Partnerschaften. Robin gibt dieser Insel den Namen Eros. Doch bald trifft er dort auf Ausgestoßene, die „Anderen“ - auf Alte, Kranke und Paare.

    Wochen später setzt Robin auf eine entfernte zweite Insel über, wo er ein starres patriarchalisch geführtes Klassensystem vorfindet. Hier arbeitet man für Anerkennung und gesellschaftlichen Aufstieg, man strebt nach Macht und Wohlstand. Wer nicht arbeitet oder nicht arbeiten kann, ist ein „Überflüssiger“. Letztlich läuft hier alles auf Krieg und Eroberungen hinaus. „Hier regiert nicht Eros, sondern Ares“ - der griechische Gott des Krieges und der Zerstörung, stellt Robin fest, notiert aber: „Glück ist, ein frei gewähltes Ziel zu erreichen“. Menschen arbeiten besser, wenn sie ihre Aufgabe frei gewählt zu haben glauben. Doch Athena hält Freiheit für eine Illusion: „Am Ende stand die Apokalypse.“

    Im Roman bilden der sanfte, märchenhafte Erzählstil und die ernste Thematik einen dramaturgisch interessanten und spannenden Gegensatz. „Es war einmal ein blauer Planet“ ist wahrlich kein Märchen. Angesichts des globalen Klimawandels und Raubbaues irdischer Ressourcen sowie terroristischer und kriegerischer Konflikte auf der Erde sorgt sich der Autor in seinem Buch um nichts Geringeres als den Fortbestand der Menschheit und deren Suche nach Glück. Wie wollen oder sollten wir in Zukunft auf dem blauen Planeten leben? Eines weiß sein junger Held genau: „Ich möchte eine Welt ohne Ausgeschlossene, Neutren oder Überflüssige.“ Aber kann es eine von Menschen bewohnte Welt voller Liebe und Solidarität geben? Eine Welt, in der Glück auch Verzicht bedeutet? „Es war einmal ein blauer Planet“ ist ein Roman, der seine Leser nachdenklich zurücklässt.

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    REZENSION – Auch wer einige Romane Hans Falladas (eigentlich Rudolf Ditzen,1893-1947) gelesen und deren Klappentexte aufmerksam studiert hat, weiß längst nicht alles über den Schriftsteller, Ehemann und Vater. Es ist dem Aufbau-Verlag zu verdanken, der seit einigen Jahren neben der Neuausgabe von Falladas Werken – man denke nur an die 2019 veröffentlichte Urfassung des Romans „Der eiserne Gustav“ – ergänzend auch Autobiographisches erstmals veröffentlicht. Nach „Mein Vater und sein Sohn“ (2004), Falladas Briefwechsel mit seinem seit 1940 in Templin im Internat lebenden Sohn Ulrich, und „Ohne Euch wäre ich aufgesessen“ (2018), dem Schriftwechsel mit seinen beiden Schwestern aus den Jahren 1928 bis 1946, folgte jetzt der Band „Meine lieben jungen Freunde. Briefe an die Kinder“.

    Der Buchtitel ist allerdings doppelt irreführend. Der Band enthält nicht, wie der Untertitel verspricht, „Briefe an die Kinder“, sondern Falladas Briefwechsel der Jahre 1942/1943 mit nur einem Kind, seiner neunjährigen Tochter Lore, genannt Mücke, die damals – aus gleichem Grund wie ihr Bruder Ulrich seit 1940 im Templin – zwecks besserer Schulausbildung im fernen Hermannswerder bei Potsdam im Internat lebte, während Fallada mit Ehefrau Anna seit 1933 auf seinem kleinen Hof in Carwitz (Feldberger Seenplatte, Mecklenburg) wohnte. Auch der Titel des Buches „Meine lieben jungen Freunde“ bezieht sich nicht auf Falladas drei Kinder, sondern ist die Überschrift eines Vortrags vor Schulkameraden seines Sohnes Ulrichs, die sich 1946 in einem literarischen Zirkel verbunden hatten. Trotz dieser Irreführung im Titel ist dieser neue Band eine willkommene Ergänzung, um Fallada/Ditzen besser kennenzulernen.

    Im Schriftwechsel mit seiner „Mücke“ erkennen wir die uns weniger bekannte Seite Falladas als liebenden, sich um das Glück seiner kleinen Tochter sorgenden Vater. In allen Einzelheiten schildert er das um Hausangestellte, Hofarbeiter und ausgebombte Städter bereicherte Familienleben im Dörfchen Carwitz, beschreibt die immer beschwerlichere Wohnsituation im kleinen Haus ebenso wie die mühevolle Arbeit auf dem Hof. Kaum ist von seiner Arbeit als Schriftsteller die Rede. Vielmehr ermahnt der Vater seine Tochter immer wieder zu besserer Rechtschreibung und häufigerem Schreiben. Durch diese Briefe wird uns der gelernte Landwirt Rudolf Ditzen vertrauter, der in Carwitz bis zu seiner Scheidung (1944) seinen kleinen Hof bestellte.

    Der Schriftsteller Hans Fallada begegnet uns erst im zweiten Teil dieses Bandes. In seinem Vortrag berichtet er Ulrichs Schulkameraden über seine Arbeit als Autor. Er mahnt die Jugendlichen, sich bei der Berufswahl nichts vorschreiben zu lassen, sondern sich eigener Talente zu besinnen, die sich auch erst sehr spät zeigen können. So habe er selbst erst mit 37 Jahren als Schriftsteller zu arbeiten begonnen. „Ich glaube nicht daran, dass man ein Schriftsteller wird, sondern dass man einer ist.“ Zwang habe er bei der Auswahl seiner Themen nie geduldet – bis auf eine Ausnahme: Zum Roman „Jeder stirbt für sich allein“ (1947) sei er von einer Filmgesellschaft gedrängt worden. Doch nach anfänglichem Zögern habe er diesen Stoff auch wieder zu seinem eigenen gemacht, so dass er auch diesen Roman zügig schreiben konnte. Es wurde Falladas letzter Roman.

    „Meine lieben jungen Freunde“ ist ein lesenswertes Buch – nicht nur für Liebhaber der Romane Falladas. Es vermittelt allen Lesern einen interessanten Einblick in das private Alltagsleben des Landwirts Rudolf Ditzen und ergibt ein kleines Psychogramm seines Alter Ego, des international erfolgreichen Schriftstellers Hans Fallada, der am 5. Februar 1947 im Alter von nur 53 Jahren an den Folgen seines Morphiumkonsums starb.

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    REZENSION – Das Schweigen der am Holocaust direkt beteiligten oder nur indirekt davon betroffenen Generation ist den Älteren in Deutschland noch aus persönlicher Erfahrung, den Jüngeren vielleicht aus der Literatur vertraut. Das Schweigen über das Unfassbare und Unvorstellbare als Thema des im Juli in deutscher Übersetzung erschienenen und für den Prix Goncourt nominierten französischen Romans „Kein Ort ist fern genug“ des argentinischen Schriftstellers Santiago Amigorena (58) wäre insofern nichts Neues. Doch bemerkenswert und deshalb lesenswert macht diesen internationalen Bestseller, dass es sich eben nicht um eine der üblichen Erinnerungen eines Holocaust-Opfers oder um eine Täter-Biografie handelt, sondern – eine völlig neue Sichtweise dieses Themas – um die Frage einer persönlichen Mitschuld des während des Nazi-Regimes längst in der fernen argentinischen Hauptstadt Buenos Aires lebenden Vicente Rosenberg, Großvater des seit Jahren in Paris lebenden Autors.

    Vicente hatte bereits 1928 seine Heimatstadt Warschau verlassen und war als junger Mann nach Argentinien ausgewandert, um dort ein freies Lebens zu führen – frei von der Mutter, frei vom erstarkenden Antisemitismus in Polen. Bis 1940 führte er ein glückliches Familienleben, verheiratet mit Rosita, Vater kleiner Kinder, Inhaber eines vom Schwiegervater finanzierten Möbelgeschäfts. An seine in Warschau verbliebene Mutter Gustawa, seinen Bruder Berl und die in Russland verheiratete Schwester dachte und schrieb er kaum.

    Mit jedem weiteren Brief der Mutter aus dem Warschauer Ghetto verdüstert sich auch Vicentes bisher so sorgloses Leben im fernen Buenos Aires von Mal zu Mal, wachsen Schuld und das Gefühl der Ohnmacht. Denn „kein Ort ist fern genug“, um nicht vom Geschehen in Europa und persönlicher Verantwortung unbehelligt bleiben zu können. Welches Grauen das Leben der Juden im Warschauer Ghetto bestimmt, ließ sich aus den Briefen der Mutter erahnen: „Wie die übrige Menschheit konnte Vicente wissen und gleichzeitig nicht wissen wollen“, beschreibt der Autor diese uns vertraute Haltung. Vicente verweigert sich anfangs diesem Wissen – aus Egoismus, aus Angst. Doch letztlich „wusste er genug, um zu beschließen, nicht mehr nur mit halbem Auge, sondern gar nicht mehr hinzuschauen“. Das Wissen, er hätte seine Mutter rechtzeitig nach Argentinien holen müssen und das Bewusstsein der tiefen Schuld, als Sohn versagt zu haben, lässt ihn bald verstummen und seiner Familie fremd werden. „Jetzt war er ein Flüchtiger, ein Feigling, der nicht da war, wo er hätte sein sollen, der geflohen war und noch lebte, während die Seinen umkamen.“ Vicente flieht in die innere Emigration, wird ein „Gefangener im Ghetto seines Schweigens“. Wann Großvater Vicente nach dem Krieg erfahren hat, dass Mutter Gustawa ins Vernichtungslager Treblinka II deportiert wurde und Bruder Berl schon beim Ghetto-Aufstand umgekommen waren, weiß der Enkel nicht. Denn auch in seiner Familie waren diese Jahre später kein Gesprächsthema.

    Doch aus dem Wenigen, dass er und sein Bruder recherchieren konnten, schrieb Santiago Amigorena eine ergreifende Romanbiografie, die jeden Leser wohl tief beeindruckt und nachdenklich zurücklässt. Der Autor schafft es auf unvergleichliche Weise, uns an den quälenden Gedanken und der schmerzenden Verzweiflung seines schweigenden Großvaters, den er selbst kaum noch gekannt hat, lebensnah teilhaben zu lassen.

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    REZENSION – Man muss ihn einfach mögen, diesen „Kalmann“, Hauptperson und Ich-Erzähler des kürzlich erschienenen, gleichnamigen Romans von Joachim B. Schmidt, dem seit 2007 in Island lebenden Schweizer Schriftsteller. Kalmann, der selbsternannte „Sheriff von Raufarhöfn“, dem einstigen Fischerdorf und letzte Siedlung vor dem Nordpol, ist fast 34 Jahre alt und lebt als letzter Haifischfänger allein im alten Häuschen seines Großvaters.

    Er jagt gelegentlich Polarfüchse und fängt Grönlandhaie, die er nach Großvaters Rezept zu Gammelhai verarbeitet, einer isländischen Spezialität. So weit scheint die Welt in Ordnung und es besteht also „kein Grund zur Sorge“, wie sich Kalmann immer wieder selbst beruhigt. Überhaupt ist dieser Sonderling, der kaum die Grundschule, aber bei seinem Großvater die Schule des Lebens genossen hat, mit sich und der Welt zufrieden. „Ich war einfach anders. Aber Großvater hatte mir mal gesagt, dass jeder in gewisser Weise anders sei.“

    Obwohl der Wandel der Zeit auch die Nordspitze Islands erreicht hat, die Quotenregelung den Fischern von Raufarhöfn die Arbeit nahm, die meisten Einwohner abgewandert sind, Fischhallen und Wohnhäuser leer stehen, hat Kalmann, ausstaffiert mit Cowboyhut, Sheriff-Stern und einer alten, vom Vater geerbten Mauser-Pistole im Gürtel, alles im Griff und sieht sich als Beschützer des Dorfes. Dumm nur, dass die meisten Dorfbewohner ihn herablassend, andere eher mitleidig behandeln. Denn Kalmann ist, wenn man ihm böse will, der unter der Vormundschaft seiner Mutter stehende Dorftrottel. Doch die lebt in der weit entfernten Stadt, so dass er auf sich allein gestellt ist. Auch dies wäre „kein Grund zur Sorge“, wenn Kalmann nicht eine Schwäche hätte: Wird er gereizt oder gar geärgert, dann laufen bei ihm die Räder rückwärts, dann reagiert er aggressiv, wird handgreiflich, verletzt sich dabei gelegentlich sogar selbst, verdrängt das Geschehen aber schnell wieder. Der „Sheriff“ hat eben alles im Griff, also wirklich „kein Grund zur Sorge“. Doch eines Tages gerät diese scheinbare dörfliche Ordnung ins Wanken: Kalmann entdeckt auf der Jagd nach einem Polarfuchs im Schnee eine riesige Blutlache. Gleichzeitig geht die Meldung um, der reichste und wohl auch meistgehasste Mann des Dorfes, der Hotelier Robert McKenzie, werde vermisst.

    Damit beginnt ein in mehrfacher Weise ungewöhnlicher und nicht nur durch die Auflösung des Falles überraschender Island-Krimi. Denn nicht so sehr der Kriminalfall, sondern die liebevolle Charakterisierung der wichtigsten Einwohner von Raufarhöfn, jede und jeder für sich ein interessanter Typ, sowie die Schilderung des wirtschaftlichen Niedergangs und gesellschaftlichen Umbruchs auf Island machen den eigentlichen Reiz dieser wunderbaren und lesenswerten Geschichte aus. Vor allem Kalmann, „Sheriff von Raufarhöfn“, wird in seiner naiven Natürlichkeit einerseits sachlich nüchtern und doch so mitfühlend beschrieben, dass man diesen Sonderling einfach ins Herz schließen muss. „Manchmal beneide ich Kalmann um seine Bodenständigkeit“, wird Autor Schmidt im angefügten Interview zitiert. „Kalmann ist einfach Kalmann, Behinderung hin oder her.“ So muss man sich am Ende dieser 360 Seiten unweigerlich fragen, wer eigentlich die Dummen im Leben sind.

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    REZENSION – Mit seiner ungewöhnlichen und faszinierenden Autobiographie „Die Reise nach Ordesa“, erst kürzlich in deutscher Übersetzung von Astrid Roth im Piper-Verlag erschienen, wurde der Spanier Manuel Vilas (58) in seiner Heimat zum Bestseller-Autor. Obwohl schon seit 2002 für seine lyrischen Arbeiten in Spanien vielfach ausgezeichnet und von der Fachwelt als einer der großen Lyriker seiner Generation gefeiert, war es ausgerechnet sein Romandebüt, das ihm erst 2018 die Anerkennung der breiten Öffentlichkeit, Lobeshymnen in den wichtigsten Zeitungen seines Landes und 2019 in Frankreich den Prix Femina für den besten ausländischen Roman einbrachte.

    Doch ein Roman ist „Die Reise nach Ordesa“ eigentlich nicht, auch keine typische Autobiographie einer namhaften Persönlichkeit. Denn Manuel Vilas, der vor seiner Wandlung zum Lyriker zwei Jahrzehnte lang das aus seiner Sicht eintönige Leben eines Lehrers geführt hatte, hatte sich in der Öffentlichkeit noch keinen „Namen“ gemacht. Auch ist es kein chronologischer Bericht seines persönlichen und beruflichen Werdegangs, sondern eine scheinbar ungeordnete Ansammlung vieler Erinnerungsfetzen an Eltern, Großeltern und andere Verstorbene, die sich erst allmählich von Kapitel zu Kapitel zu einem Bild mit vielen interessanten Facetten voller Lebenserfahrung zusammenfügen.

    Der Einstieg ins Buch mag manchen Lesern deshalb vielleicht schwerfallen. Doch es lohnt sich dranzubleiben. Denn gerade die von ihm selbst behauptete Bedeutungslosigkeit des Autors, der 1962 während der Franco-Diktatur in eine ärmliche, unterprivilegierte Familie eines provinziellen Handelsvertreters hineingeboren wurde, und seine Erinnerungen an die Kindheit sind es, die ihn und seine Lebensgeschichte so „menschlich“ und allgemeingültig werden lässt. Vieles scheint uns vertraut.

    Man hat während der Lektüre den Autor förmlich vor Augen, wie er als „armer Poet“, der als trockener Alkoholiker auch die Tiefen des Lebens erfahren musste, in seinem nur spärlich möblierten Hochhaus-Appartement sitzt – mit sich selbst und seinen Gedanken allein, verlassen von den verstorbenen Eltern, geschieden von der Ehefrau und kaum noch Kontakt zu seinen zwei erwachsenen Söhnen – und sich seinen Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten hingibt. In kurzen Kapiteln, von einer Einzelheit, einem Gedanken oder Kindheitserlebnis ausgehend, entwickelt Vilas eine oft überraschende Gedankenkette über den Sinn des Lebens und den Tod, über seine ihm unbekannten Vorfahren („Mein Großvater war eine aufgegebene Grabnische.“), über sich selbst und seine Söhne, über das damals diktatorische und das heute monarchistische Spanien und immer wieder über seine geliebten Eltern. In der Rückbesinnung kommen Fragen auf, die Vilas früher hätte stellen sollen. „Ich fragte nicht, als es noch ging, weil ich dachte, dass ich sie irgendwann einmal fragen würde, als würden sie immer da sein.“ Seine Vorfahren sind vergessen, die Erinnerung an die Eltern schwindet. Der einsame Autor fürchtet, auch selbst in absehbarer Zeit von den eigenen Söhnen vergessen zu werden. Deshalb seine Erkenntnis: „Wir sollten über unsere Familien schreiben, ohne jede Beschönigung, ohne dabei zu erfinden. Wir sollten nur von dem erzählen, was passiert ist, oder von dem wir glauben, dass es passiert sei.“

    Die sprachgewaltige, philosophisch wie psychologisch tiefgehende Auseinandersetzung mit seiner Familie macht Manuel Vilas' Prosawerk „Die Reise nach Ordesa“, eine literarische Erkenntnisreise zu sich selbst, zu einem nicht alltäglichen und faszinierenden Leseerlebnis, an dem zweifellos auch Übersetzerin Astrid Roth ihren lobenswerten Anteil hat.

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    REZENSION – Es sind wenige Momente des nur fünf Jahrzehnte währenden Lebens des österreichischen Komponisten und Dirigenten Gustav Mahlers (1860-1911), die Robert Seethaler (54) in seinem aktuellen Buch „Der letzte Satz“ auf knapp 130 Seiten zu einem Mosaik zusammenfasst. Es ist zugleich ein literarisches Psychogramm dieses Ausnahmekünstlers, das auch für solche Leser empfehlenswert ist, die nicht zu den Kennern klassischer Musik gehören.

    Denn über Mahlers Musik wird kaum etwas berichtet, was mancher Kritiker schon bemängelte – wie ich meine, zu Unrecht. „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür“, lässt Schriftsteller Seethaler den Musiker sagen. Als Romancier, dessen Handwerkszeug die Sprache ist, geht es dem Autor folgerichtig nicht um den Musiker oder dessen Werke, sondern um den Menschen Gustav Mahler, um den arbeitswütigen Künstler, den Ehemann und Vater.

    Um Buch treffen wir Mahler nach Abschluss seiner Arbeit mit den New Yorker Philharmonikern im Frühjahr 1911 an Deck des Passagierdampfers „Amerika“ auf seiner letzten Heimfahrt nach Europa. Es ist seine letzte Reise, sinnbildlich die Überfahrt in den Tod. Herzkrank und vom Fieber geschwächt, sitzt er einsam an Deck, nur umsorgt von einem Schiffsjungen, und lässt Momente seines Lebens Revue passieren. Bilder seiner Kindheit als „Judenbub“ tauchen auf, seine Hochzeit mit Alma Schindler, die Arbeit als Intendant der Wiener Hofoper und der Metropolitan Opera und als Dirigent in den Konzertsälen der Welt. Wir erfahren Privates über ihn als Vater zweier Töchter und als untauglicher Ehemann, der zugunsten seiner Arbeit seine junge, selbstbewusste Ehefrau vernachlässigt, die schließlich die ihr vorenthaltene Zuwendung beim Architekten Walter Gropius findet. „Ich bin eine Frau. Er ist ein Mann. …. Davon hast du natürlich keine Ahnung. …. Damit will man nichts zu tun haben, wenn man immer nur nach dem Höchsten strebt“, wirft Alma ihm vor.

    Mahler ist zeitlebens ein von seiner Arbeit Getriebener. Verzweifelnd an der Unvollkommenheit anderer, will er das Vollkommene erreichen. Nicht einmal für die Hochzeit findet er die angemessene Zeit. Direkt von der Arbeit stürzt der Workaholic die Treppen zur Kirche hoch, so dass der dort sitzende Bettler folgert: „Sie sehen nicht aus wie ein Bräutigam.“ Für liebevolle Zweisamkeit und alles Private ist Mahler ungeeignet. Selbst am Urlaubssitz arbeitet er abgeschottet in seinem „Komponierhäuschen“.

    Auch der weltweite Erfolg als Komponist und Dirigent lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Er missachtet nicht nur seine Mitmenschen, sondern auch sich selbst – bis hin zur todbringenden Erkrankung. Überrascht wird er auf seiner letzten Schiffsreise von der Lebensweisheit des erst 15-jährigen Schiffsjungen: „Wer weit geht, kommt spät an.“ Gustav Mahler ist nie angekommen, wollte immer nur weiter.

    Ob „Der letzte Satz“ den Deutschen Buchpreis 2020 wirklich verdient hat, für den der Roman nominiert ist, mag jeder Leser selbst beurteilen. Der Verkaufserfolg, der das Büchlein im August auf den Spitzenplatz der Spiegel-Bestsellerliste gebracht hat, mag Seethalers Nachruhm als Autor des „Trafikant“ geschuldet sein. „Der letzte Satz“ ist kein literarisches Meisterwerk, aber in jedem Fall eine sprachlich angenehm und locker geschriebene, deshalb leicht lesbare Kurzbiografie über einen interessanten Mann, der sich selbst und seine Nächsten vollständig der Arbeit unterordnete. „Ich sollte noch ein bisschen bleiben.“ Dies ist der letzte Satz Mahlers in Seethalers Kurzroman. Der Mensch ist längst vergangen, seine Musik aber ist geblieben.

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    REZENSION – Einerseits wie eine unbändige Explosion von Gewaltausbrüchen und Gefühlen wirkt der kürzlich im Pendragon-Verlag erschienene Kriminalroman „Blues in New Iberia“ des amerikanischen Bestseller-Autors James Lee Burke (83). Andererseits liest sich der knapp 600 Seiten starke Thriller in seinen ruhigen Textpassagen wie ein gemütvoller Heimatroman über die Region Acadiana, die Heimat der frankokanadisch-stämmigen Bevölkerungsgruppe der Cajuns im Süden Louisianas. Es ist dieser Kontrast wie Feuer und Eis zwischen absoluter Brutalität und tiefer Sensibilität, zwischen teuflischem Hass und Mitleid erregenden Eigenschaften seiner Protagonisten, aber auch zwischen offener Sozialkritik und tief empfundener Heimatliebe des in der Kleinstadt New Iberia lebenden Schriftstellers. Damit sticht auch dieser 22. Roman aus der mehrfach mit höchsten Preisen ausgezeichneten Südstaaten-Reihe um Detective Dave Robicheaux aus der Masse amerikanischer Krimis hervor.

    Diesmal ist der im Vietnam-Krieg traumatisierte Ex-Soldat und Ex-Alkoholiker, jetzt Detective des Sheriff-Departments von New Iberia zu Gast im Strandhaus seines Jugendfreundes Desmond Cormier, inzwischen ein erfolgreicher Hollywood-Regisseur. Zufällig entdeckt er durch ein im Garten aufgestelltes Teleskop die auf dem Meer treibende, an ein Holzkreuz genagelte Leiche der jungen Farbigen Lucinda Arceneaux. Die Inszenierung gleicht einer Karte des Tarot-Spiels, wie Daves neue Kollegin Bailey Ribbons vermutet. Auch die bald nachfolgenden Morde wurden nach Motiven dieses zur Wahrsagerei verwendeten Kartenspiels inszeniert. Bald erscheinen Desmond Cormier und seine Produzenten Antoine Butterworth und Lou Wexler verdächtig, doch es fehlen konkrete Beweise. Im Laufe der vielschichtigen Handlung wird die Situation immer verwirrender, da das Ermittlerteam zwar aufgrund der theatralischen Mord-Inszenierungen Zusammenhänge vermutet, aber deren Hintergründe nicht ausmachen kann. Die Situation wird immer verworrener, am Ende erscheinen fast alle irgendwie verdächtig. Robicheaux traut schließlich niemandem mehr, nicht einmal seiner sehr viel jüngeren Kollegin Bailey, in die er sich inzwischen verliebt hat, oder seinem Deputy Sean McClain. Jeder scheint etwas zu verheimlichen. Als einzige Vertrauensperson bleibt ihm nur sein einstiger Kriegskamerad, der jetzige Privatdetektiv Clete Purcel, sowie seine Adoptivtochter, die Schriftstellerin und Drehbuch-Autorin Alafair, die sich aber zu ihres Vaters Leidwesen ausgerechnet mit Produzent Lou Wexler eingelassen hat. Mit Alafair bringt Autor Burke ein Stück Realität in seinen Krimi, denn er hat tatsächlich eine 50-jährige Tochter dieses Namens, die Rechtswissenschaftlerin und wie ihr Vater erfolgreiche Kriminalschriftstellerin ist. Auch das alte Burke-Haus, das Elternhaus in New Iberia, wird erwähnt.

    Diese heimatliche Verbundenheit des Autors zum „Tatort“ New Iberia und seine gelegentlich ausführlichen, meist stimmungsvollen Landschaftsbeschreibungen lassen diesen 22. Robicheaux-Krimi sehr authentisch wirken. Glaubwürdig mit ihren charakterlichen Stärken, vor allem aber ihren nur schwer zu verbergenden Schwächen und traumatischen Ängsten sind auch die beiden Kriegsveteranen Dave Robicheaux und Clete Purcel charakterisiert.

    Nicht nur in der szenischen Abfolge gibt es den anfangs erwähnten Kontrast. Auch stilistisch und sprachlich prallen Gegensätze aufeinander: Da gibt es Absätze mit philosophischen Betrachtungen in akademischem Sprachduktus, dann Dialoge mit ordinären Slang „harter Männer“, was oft allzu übertrieben wirkt. Ungemein spannend ist dieser Südstaaten-Heimat-Krimi „Blues in New Iberia“ trotz mancher typisch amerikanischer Klischees in jedem Fall. Warum die Handlung allerdings auf fast 600 Seiten ausgedehnt musste, bleibt zu fragen.

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    REZENSION – Leise und beschaulich, als wäre im deutschen Kaiserreich alles im Lot, beginnt der neue Roman des Schriftstellers Andreas Izquierdo (52), in der Werkstatt des jüdischen Schneiders Friedländer im westpreußischen Thorn. Doch der Schein trügt: In der fernen Reichshauptstadt Berlin wird gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht demonstriert, und der sich der Erde nähernde Halleysche Komet lässt Unheil, wenn nicht sogar den Weltuntergang vermuten. „Schatten der Welt“ trüben die vermeintliche, nur oberflächliche Idylle, die soziale Missstände brüchig werden lassen.

    Protagonisten dieses sozialkritischen Romans sind drei heranwachsende Freunde – noch in der Pubertät, nicht mehr Kinder, doch für Erwachsene noch zu jung: Der schüchterne Carl Friedländer, von Freundin „Isi“ als „Carl Schneiderssohn“ geneckt, unterstützt seinen verwitweten Vater. Luise, genannt Isi, die aufmüpfige Tochter eines despotischen Lehrers und später populistischen Reichstagsabgeordneten, verweigert die von einem bürgerlichen Mädchen geforderte Anpassung. Sie wird, obwohl von Carl heimlich geliebt, die Freundin von Artur Burwitz, dem dank seiner Körperkraft durchsetzungsfähigen Sohn eines prügelnden Stellmachers. Die drei Freunde ergänzen sich in ihren Charakteren und Fähigkeiten zu einem unverbrüchlichen Trio. Statt sich der Gesellschaftsnorm zu fügen, gehen die drei Jugendlichen ihren eigenen Weg und werden – obwohl noch nicht geschäftsfähig – bald zu erfolgreichen Unternehmern: Anfangs verkaufen sie ihren abergläubischen Zeitgenossen unnütze Überlebenspillen und vom Militär auf unkonventionelle Art beschaffte Gasmasken gegen den drohenden Kometen-Absturz. Später kaufen sie auf Arturs Empfehlung, der den Wandel der Zeit frühzeitig erkannt hat, erst einen, dann mehrere dieser neuartigen Lastkraftwagen und unterbieten damit als moderne Spediteure die traditionellen Kutscher.

    Als Trio scheinen die Freunde Artur, Isi und Carl erfolgreich und unschlagbar. Als im Juni 1914 der österreichische Thronfolger in Sarajevo von einem serbisch-nationalistischen Attentäter getötet wird, interessiert es sie nicht. Sogar als der Weltkrieg seinen Anfang nimmt, glauben sie sich davon nicht betroffen: „Krieg war etwas, womit sich Menschen beschäftigten, die sonst nichts zu tun hatten. Wir dagegen wollten etwas erschaffen, nicht zerstören. Wir wollten etwas aufbauen, nicht niederreißen. Wir wollten nach oben und nicht im Schlamm irgendeines Niemandslands verrecken“, blickt Carl als Erzähler des Romans zurück. Doch die Geschichte, die so jugendlich leicht und locker begann, entwickelt sich auch für die drei zu einem Drama – für jeden auf andere Weise.

    Izquierdos Geschichte liest sich stellenweise wie ein Abenteuerroman vor historischer Kulisse. Doch die drei aufstrebenden Protagonisten, ergänzt um Gutsbesitzerssohn Falk Boysen als Vertreter des feudalistischen Systems, stehen für eine Gesellschaft im Umbruch: Carl hat bereits unter dem noch unterschwelligen Antisemitismus zu leiden. Artur, den Repräsentanten der Arbeiterklasse, drängt es gesellschaftlich „nach oben“. Und Lehrerstochter Isi kämpft unter Missachtung eigener Gefährdung aktiv gegen die gesellschaftliche Unterdrückung und Missachtung der Frauen.

    Andreas Izquierdo versteht es – wie schon in seinen früheren Romanen „Das Glücksbüro“ (2013) oder zuletzt „Fräulein Hedy träumt vom Fliegen“ (2018) – wieder ausgezeichnet, den Leser für seine Helden einzunehmen. Man freut sich und leidet mit ihnen. Izquierdos fast sanfte Erzählweise macht das Buch trotz der sich zum Ende zuspitzenden Dramatik angenehm lesbar und trotz aller Ernsthaftigkeit mittels humorvoller Einschübe recht unterhaltsam. Am Ende bleibt die Erkenntnis: Nach dem Krieg ist nichts ist geblieben, wie es einmal war – und doch scheint ein Neuanfang möglich. Carl, Artur und Isi treffen sich in Berlin. Eine Fortsetzung ist wünschenswert.

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    REZENSION – Nicht nur literaturhistorisch interessierte Leser dürfte der im Juli im btb-Verlag erschienene Roman „Der weiße Abgrund“ von Henning Boëtius (81) begeistern, sondern alle Freunde der klassischen Literatur deutscher Sprache. Sprachlich grandios und überaus lebendig, auch für fachlich Unkundige leicht zu lesen, beschreibt der für die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ausgewiesene Fachmann die letzten Jahre und Wochen des Dichters Heinrich Heine (1797-1856) auf dem Sterbebett in seiner kleinen Pariser Wohnung, bescheiden möbliert mit Möbeln vom Flohmarkt. Fast glaubt man als Leser, auf Heines Bettkante zu sitzen und ihm beim Hinscheiden in den „weißen Abgrund“ zu beobachten.

    Der sterbenskranke Mittfünfziger ist längst kein Revolutionär mehr, weshalb er vor 20 Jahren nach Anfeindungen wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Ansichten mit nachfolgendem Publikationsverbot ins Pariser Exil auswich. „Körperliches Leiden macht reaktionär“, vermutet Boëtius und fährt fort: „In den letzten Monaten seines Lebens, befreit von vielen ablenkenden Zwängen irdischen Daseins ... schreibt Heine seine besten Texte.“

    Schon seit den 1830er Jahren leidend, seit 1848 in seiner „Matratzengruft“ dahinsiechend, während draußen die Industrialisierung voranschreitet und Paris sich auf die Weltausstellung vorbereitet, kann Heine schon lange nicht mehr an gesellschaftlichen Treffen in den Salons der Pariser Bohème teilnehmen. „Kein Wunder, dass sich Heine angesichts dieser Entwicklung wie ein Fossil vorkommt, dessen Reimereien nur noch ein schwaches Echo sind, zurückgeworfen vom Waldrand der Vergangenheit.“ Stattdessen empfängt der immer noch von vielen bewunderte, von manchen beneidete und von einigen auch ausgenutzte Dichter alte Freunde und neue Bekannte am Krankenbett. „Er hat viel Besuch in diesen Tagen. So etwas wie ein Leichenzug, der hinter einem Sarg herläuft. Dabei ist er noch gar nicht tot, aber er scheint für viele so etwas wie ein interessanter lebender Leichnam zu sein. …. Er ist ein sterbender König, mit seinem winzigen Dreizimmer-Versailles, seinem kleinen Hofstaat, seinen Schranzen, seinen Günstlingen, seiner Mätresse.“

    Heine fürchtet sich nicht vor dem Tod, zumal der „weiße Abgrund“ für den Schwerkranken eher Erlösung ist. „Er findet ihn nur ärgerlich, zu banal, zu phantasielos, ein Philister des Nichts.“ Trost gibt ihm seine letzte große, wenn auch platonische Liebe Elise Krinitz, die als Heines Bewunderin hofft, ihn als Mentor für eigene literarische Ambitionen zu gewinnen. Ist sie es wirklich, die auf Druck ihres Freundes, des Schriftstellers Alfred Meißner, des Dichters Sterben durch mit Blei vergifteten Wein beschleunigt? Heines Leibarzt David Gruby erstattet jedenfalls nach dessen Tod bei der Polizei Anzeige: Heine sei sich zwar sicher gewesen, an Syphilis erkrankt zu sein. Doch extremes Erbrechen, die Koliken, wochenlang anhaltende Verstopfung, die Lähmung der Gliedmaßen, „all das passt eher zu einer Bleivergiftung“, zumal Heines Schaffenskraft bis zum Ende niemals nachließ.

    Boëtius schildert, wie Heine sein Schicksal mit beißender Ironie und Sarkasmus erträgt. Dem Sterben und Tod des Dichters hält der Autor Heines Spott über das Leben und seine Künstlerkollegen entgegen, wodurch dem Autor ein sehr "lebendiger" Roman gelungen ist. Wunderbar beschrieben ist vor allem der Abend im Salon seines Arztes, bei dem wir unter den illustren, doch Karikaturen ihrer selbst ähnelnden Gästen auch Gustave Flaubert antreffen, der an einer Enzyklopädie der menschlichen Dummheit arbeitet. Henning Boëtius' schmales, nur 190-seitiges Buch „Der weiße Abgrund“ ist dagegen ein erfreulich intelligenter Roman, von einem Kenner der Szene verfasst. Boëtius schafft es, mit seiner kurzen Romanbiografie auch solchen Lesern einen der bedeutendsten deutschen Dichter näher zu bringen, die sich mit Heinrich Heine noch nie zuvor befasst haben. Wer durch dieses Buch von Heines Sterben erfahren hat, wird sich anschließend gern über Heines Leben informieren wollen.

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    REZENSION – Nach dem lesenswerten Krimi-Debüt „Totenland“ (2019) von Michael Jensen, Pseudonym des holsteinischen Arztes und Trauma-Therapeuten Jens-Michael Wüstel (54), durfte man auf die Fortsetzung gespannt sein. Doch „Totenwelt“, nach den in Band 1 geschilderten Geschehnissen während der letzten Kriegstage des untergehenden Deutschen Reiches chronologisch nun in den ersten Mai-Tagen 1945 spielend, in denen Hitler-Nachfolger Dönitz in Flensburg eine neue Regierung aufzubauen versucht, während britische Truppen die Stadt besetzen, enttäuscht trotz durchaus spannender Elemente leider auf mehrfache Weise.

    Der von der Ostfront kriegsverletzt heimgekehrte Polizei-Inspektor Jens Druwe soll als Hilfspolizist der Briten einen Doppelmord aufklären. Das zur Übergabe brisanten Materials über untergetauchte Nazi-Funktionäre arrangierte Geheimtreffen eines Captains mit einem früheren Canaris-Mitarbeiter endet für beide tödlich. Zwar scheint es zunächst, als hätten beide sich gegenseitig erschossen, doch Druwe hat berechtigte Zweifel und sucht nach dem unbekannten Dritten. Gleichzeitig wird er von der Dönitz-Regierung beauftragt, eine neue deutsche Polizei-Einheit aus politisch unbelasteten Beamten aufzustellen. Als Diener zweier Herren, die völlig gegensätzliche Interessen verfolgen, gerät Druwe zwangsläufig zwischen die Räder gegenläufiger politischer Interessen und wird als „Ermittler, der dem Grauen des Krieges die Liebe zur Wahrheit entgegenhält“ auch diesmal enttäuscht. Denn seinem britischen Vorgesetzten geht es nicht, wie Druwe gehofft hatte, um die Aufklärung des Doppelmordes und vor allem um die Festnahme untergetauchter Nazis, sondern als Mitarbeiter des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 ausschließlich um politische Interessen Großbritanniens und Vorteile gegenüber den anderen Siegermächten.

    Autor Michael Jensen versteht es hervorragend, die Atmosphäre jener Tage in seiner Heimatregion absolut authentisch und lebendig wiederzugeben. Auch die so unterschiedlich gesetzten Charaktere – ob Opfer, Täter und Mitläufer der Nazis oder Vertreter der britischen Besatzungsmacht – sind tiefgründig ausgearbeitet und nachvollziehbar beschrieben: „Ich habe versucht, diese Gefühle und Gedanken [jener Tage] lebendig werden zu lassen.“ Denn „die innere Geschichte ist erst die wahre Geschichte“, zitiert Trauma-Therapeut Wüstel als Autor Michael Jensen im Nachwort den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard.

    Doch als Buchautor verzettelt sich Michael Jensen in seinen komplexen Ansprüchen um genaue Analyse, was sich in „Totenwelt“ auf lähmend auf die Spannung auswirkt. Die um Korrektheit bemühte Schilderung der historischen Geschehnisse nimmt allzu viel Platz ein, gehört in dieser Breite auch nicht in einen Krimi. Hierzu wäre die Lektüre des zeitgleich erschienenen Buches „Acht Tage im Mai“ des Historikers Volker Ullrich besser. Jensens Bemühen um Genauigkeit zeigt sich in „Totenwelt“ leider auch in ständigen Bezugnahmen zu Handlung und Personen des ersten Bandes „Totenland“. Manches wird sogar innerhalb dieses zweiten Bandes noch mehrfach wiederholt, was das Lektorat hätte vermeiden müssen. Diese durchgängigen Bezüge auf Band 1 stören nicht nur das Vergnügen jener Leser, die den ersten Band bereits kennen, sondern irritieren auch Erstleser, da die rückblickenden Halbsätze nicht ihren Zweck erfüllen können. Besser wäre es stattdessen gewesen, dem zweiten Band die Geschichte des ersten auf drei Seiten zusammengefasst voranzustellen.

    Da man beide Bände in Folge lesen sollte und es dem Autor ohnehin mehr um seine Charaktere als um die Mordfälle und deren Aufklärung geht, wäre es besser gewesen, von vornherein auf die Zweiteilung zu verzichten und die Handlungen vor und nach der deutschen Kapitulation in einem einzigen Band zu vereinen. Doch so aufgeteilt, konnte der zweite Band „Totenwelt“ den durch seinen Vorgänger „Totenland“ hochgesteckten Erwartungen leider nicht im eigentlich erwarteten Maß entsprechen. Doch trotz der von mir kritisierten Punkte bleibt auch dieser zweite Band gerade für die Generationen der Nachgeborenen empfehlenswert, zeichnet er doch ein weiteres Mal auf beeindruckende Weise ein genaues politisches und gesellschaftliches Abbild nicht nur Norddeutschlands zu jener Zeit des Neuanfangs.

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    REZENSION – Aktuell und politisch brisant ist der kürzlich erschienene Roman „Die Wahrheit“ des britischen Schriftstellers Sam Bourne, Pseudonym des mehrfach ausgezeichneten Journalisten Jonathan Freedland (53), Autor bereits mehrerer Sachbücher und Thriller. Natürlich geht es um Wahrheit, aber auch um alternative Fakten und Fake News, vor allem aber um die Bürde der Vergangenheit und deren Umgang in heutiger Zeit. Lässt das Vergessen, das Auslöschen der Vergangenheit einen von aller Last befreiten Neustart zu? Gibt es eine Zukunft auch ohne Vergangenheit?

    Die gegensätzlichen Sichtweisen, die auch Inhalt eines vielleicht ermüdenden philosophischen Diskurses sein könnten, verpackt Sam Bourne in einer spannenden Handlung und lässt seine Protagonisten entsprechend argumentieren und handeln. Maggie Castillo, einst erfolgreiche Beraterin des US-Präsidenten, wird mit der Ermittlung eines Mordfalles beauftragt. Ein Historiker wurde getötet. Doch dieser Mord ist nur der Beginn einer weltweiten Zerstörungsaktion. Weitere Historiker kommen zu Tode, dann brennen die zwölf wichtigsten Bibliotheken der Welt, in denen die ältesten Schriften der Menschheit archiviert sind, der Reihe nach bis auf die Grundmauern ab. Auch deren digitale Sicherungskopien werden von unbekannter Hand gelöscht. Schließlich werden auch noch die Internet-Suchmaschinen lahmgelegt. Doch nicht nur Archivalien werden vernichtet, auch die letzten Zeitzeugen der amerikanischen Sklaverei und des europäischen Holocausts, die noch persönlich Zeugnis über die grausamsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte ablegen können, werden getötet. Unbekannte Verschwörer löschen offensichtlich Schritt für Schritt das Gedächtnis der Menschheit.

    „Wenn selbst der Präsident lügt, wem kann man noch trauen?“ lautet der Untertitel des Thrillers. Doch um Donald Trump geht es nicht in Bournes Roman, sehr wohl aber um Wahrheit, alternative Wahrheit und Lüge. Wo bleibt die Wahrheit, wenn Fakten bewusst geleugnet oder nicht mehr dokumentarisch belegt werden können? Mit Vernichtung aller Archive wird auch die Wahrheit gelöscht. Der Holocaust in Nordeuropa lässt sich dann leugnen oder zumindest anzweifeln ebenso wie die Verbrechen der Sklaverei in den Vereinigten Staaten.

    „Die Wahrheit stützte sich auf Scham.“ Die wichtigste Frage des Romans ist deshalb, ob durch Auslöschen einer belasteten Vergangenheit ein Neustart in eine unbelastete Zukunft gelingen kann. „Diejenigen, die Gerechtigkeit [für erlittenes Unrecht] suchen, bestehen darauf, dass wir uns erinnern. Aber diejenigen, die Frieden suchen, bestehen darauf, dass wir vergessen.“ Sollen wir also die Vergangenheit auslöschen, um der nächsten Generation ein leichteres Leben zu ermöglichen, den Frieden zu sichern? „Sie sollen aufwachsen, wie wir es nicht konnten. Ohne diese furchtbare Bürde der Geschichte auf den Schultern“, argumentiert folgerichtig im Roman der Historiker und Sklaverei-Leugner William Keane vor Gericht. Seine Gegner halten dagegen: „Ohne Erinnerungen waren die Menschen nichts. Nichts als Rudel von wilden Tieren, die um ihr Überleben kämpften.“

    In seinem Thriller „Die Wahrheit“ stellt Autor Sam Bourne die wichtigsten Argumente der Kontrahenten nachvollziehbar gegenüber, ohne eindeutig Stellung zu beziehen. So wirken Charaktere wie der Sklaverei-Leugner William Keane oder der Trump-Berater McNamara keineswegs unsympatisch. Doch sie stehen im Roman nun mal auf der Seite der Bösen, weshalb Bournes Thriller letztlich doch eine Botschaft gegen das Vergessen ist.

    „Die Wahrheit“ ist ein spannender Politthriller mit aktuell ernstem Thema, den man wegen seiner in sich geschlossenen Handlung auch dann lesen kann, wenn man die drei ersten Bände um Maggie Costello - „Das letzte Testament“ (2010), „Der Gewählte“ (2011) und „Der Präsident (2017) - noch nicht kennt. Der fünfte Roman dieser Reihe ist übrigens im März mit dem Titel „To Kill a Man“ in Großbritannien erschienen.

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    REZENSION – Während alljährlich Millionen ahnungsloser Urlauber die Fränkische Schweiz als idyllische Heile-Welt-Erholungslandschaft genießen, erzählt die Nürnberger Kriminalschriftstellerin Susanne Reiche (58), mit dem Publikumspreis des Fränkischen Krimipreises 2014 ausgezeichnet, in ihren amüsanten Frankenkrimis von Mord und Totschlag. So muss ihr Kommissar Kastner auch in seinem vierten Fall „Fränkisches Pesto“ wieder einen Mörder finden, obwohl er doch mit Lebensgefährtin Mirjam und den zwei Kindern seiner Kollegin Claudia über die Ostertage ein paar freie Tage im Gasthaus „Grüner Schwan“ genießen wollte.

    Doch bei einer von „Kräuterhexe“ Bella Lindemann für ihre Kursteilnehmer durchgeführten Kräuterwanderung geschieht ein brutaler Mord: Mitten im fränkischen Outback wird einer der Teilnehmer, ein angesehener Provinzpolitiker, erschlagen aufgefunden. Trotz seines Urlaubs fordert Kastners Vorgesetzter ihn nun auf, sich dieses Falles anzunehmen, zumal alle Kursteilnehmer zufällig auch im „Grünen Schwan“ einquartiert sind. Wie praktisch, meint sein Chef, kann sich doch Kastner samt familiärem Anhang schnell dieser Kräutergruppe anschließen und in ständiger Abstimmung mit den offiziell ermittelnden Beamten vor Ort in den folgenden Tagen verdeckt ermitteln. Kastner fügt sich notgedrungen, obwohl er doch bei der Urlaubsbuchung weniger an Mord als vielmehr an knusprigen Schweinsbraten und andere fränkische Schmankerln gedacht hatte. Schon gar nicht waren ihm strapaziöse Bergwanderungen in den Sinn gekommen, die ihm nun bei den Wanderungen der Kräutergruppe körperlich einiges abverlangen. Glücklicherweise hat er in Lebensgefährtin Mirjam eine Partnerin, die ihm in kriminalistischem Scharfsinn durchaus ebenbürtig ist und dank wesentlich aktiverer Mitwirkung im Kräuterkurs schnell das Vertrauen der Teilnehmer gewinnt. So kann sie in Gesprächen den Kurteilnehmern manches Geheimnis entlocken, während Kastner dies bei abendlichen Saufgelagen mit gesundheitlichen Spätfolgen eher ungeschickt anstellt.

    Susanne Reiches Romane werden als Frankenkrimis vermarktet, da sie nun mal im Nürnberger Land spielen. Doch sieht man von Bärlauch und anderen heimischen Kräutern ab, den die Kräutergruppe finden soll, könnte die Krimis überall spielen. So ist es weniger das Fränkische, das den Reiz ihrer Bücher ausmacht, sondern die Typisierung ihrer Charaktere, die gelegentlichen Zänkereien zwischen Kastner, dem Mann ohne Vornamen, und Mirjam mit amüsant-spitzen Dialogen oder die ständigen Neckereien zwischen dem 10-jährigen Jannick und seiner pubertierenden 13-jährigen Schwester Sofie.

    Bei allem Humor schleicht sich erst langsam beim Leser die Erkenntnis ein, dass „Fränkisches Pesto“ eigentlich ein sehr ernstes Thema behandelt. Es geht um die Verarbeitung und Vermarktung von Gammelfleisch, um die Problematik der Massentierhaltung und Massenschlachtung – also Stichworte, die alle Jahre und gerade erst kürzlich wieder zur Diskussion stehen. Susanne Reiche stellt als studierte Biologin und langjährige Mitarbeiterin im Nürnberger Umweltamt in ihrem Krimi die wichtigsten Argumente der Gegner und Befürworter gegenüber. So gesehen, ist „Fränkisches Pesto“ trotz seines hohen Unterhaltungswertes doch ein Krimi mit aktueller und eindeutiger gesellschaftspolitischer Botschaft.

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    REZENSION – Ein angenehmes, sogar fröhliches Wiedersehen alter Jugendfreunde könnte es im Spätsommer 2015 werden, zu dem der inzwischen 66-jährige Immobilienmakler Lincoln seine beiden Studienkollegen, den Verleger Teddy und den Musiker Mickey, „um der alten Zeiten willen“ in sein altes Sommerhaus auf der kleinen Ferieninsel Martha’s Vineyard vor der Südküste von Cape Cod im Bundesstaat Massachusetts einlädt. So beginnt auch der im Mai auf Deutsch erschienene Roman „Jenseits der Erwartungen“ des amerikanischen Pulitzer-Preisträgers Richard Russo (70) noch recht beschaulich, nimmt aber immer mehr Tempo auf, um schließlich dramatisch zu enden. Nichts ist mehr so, wie anfangs erwartet.

    Auf dem College waren die drei jungen Männer, alle aus kleinbürgerlichem Elternhaus, zu Freunden geworden. Die Studiengebühren mussten sie sich in einem Restaurant hart erarbeiten. Sie fühlten sich wie die drei Musketiere und waren alle gleichermaßen in die Elite-Studentin Jacy Calloway verliebt. Nach dem Abschluss im Jahr 1971 trafen sie sich zu viert ein letztes Mal im Sommerhaus, das damals noch Lincolns Mutter gehörte, bevor Mickey als Soldat nach Vietnam gehen und die anderen ins Berufsleben einsteigen sollten. Doch kurz vor dem gemeinsamen Abschied verschwand Jacy spurlos und blieb verschollen. Bis zum jetzigen Wiedersehen, 44 Jahre später, hat keiner der drei Männer die Freundin vergessen, und die Frage, ob und wen von ihnen Jacy geliebt haben mochte, blieb unbeantwortet. Jacys rätselhaftes Verschwinden beherrscht die Gespräche der alt gewordenen Männer. In Rückblenden erfahren wir vom damaligen Wochenende, von der familiären Herkunft und dem weiteren Leben der drei Freunde, zunächst erzählt jeweils aus Lincolns und Teddys persönlicher Sicht. Erst zum Schluss erzählt Mickey seine eigene Geschichte und löst das Rätsel um diesen ungelösten Kriminalfall.

    "Chances are", so der Titel der amerikanischen Romanausgabe, heißt auch ein alter Hit von Popsänger Johnny Mathis (84), den die jungen College-Absolventen an ihrem Abschiedsabend vor über vier Jahrzehnten auf der Insel gemeinsam und voller Erwartungen gesungen hatten. Und so handelt auch Russos Roman von den Chancen, die sich die vier vom künftigen Leben erhoffen. Doch die Träume zerplatzen und auch von der Freundschaft der drei Musketiere bleibt nur noch der Schein. Man ist sich nach jahrzehntelanger Trennung fremd geworden.

    Der schildert mit der Erfahrung und Menschenkenntnis eines 70-Jährigen und mit der Kunst eines großartigen Erzählers in persönlichen Rückblenden der drei Männer deren weiteren Lebensweg, ihre teils krampfhaften Versuche, sich von den spießbürgerlichen Erwartungen der Eltern zu lösen und dank eigener Entscheidungskraft ein eigenständiges, ein besseres Leben zu führen, um dann doch als Erwachsene ähnliche Fehler wie die Eltern zu machen. Im fast zwanghaften Kampf, das Unabänderliche zu ändern, versäumen sie, die wenigen wirklichen Chancen für ein selbstbestimmtes Handeln zu ergreifen, um ihr Leben selbst zu bestimmen. Nach 44 Jahren zeigt jeder nur noch ein Wunschbild seiner selbst, ohne sich so anzuerkennen, wie er „jenseits der Erwartungen“ geworden ist.

    Russos empfehlenswerter Roman „Jenseits der Erwartungen“ ist eine von Seite zu Seite immer spannender sich entwickelnde Geschichte, die schließlich in einem erschreckenden Finale endet und den Leser nachdenklich zurücklässt – nachdenklich über die eigene Person, den eigenen Lebensweg, die eigenen Erwartungen aus Jugendzeiten.

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    REZENSION – „Zum Schießen komisch“ ist die eigenwillige und in ihrer Idee wohl einzigartige Krimireihe um das „Kommando Abstellgleis“ (Band 1, 2015) der französischen Schriftstellerin Sophie Hénaff (48), deren Bände in Frankreich zu Bestsellern und mehrfach übersetzt wurden. Denn dieses Pariser Polizeikommando ist eine Truppe hoffnungsloser Versager, die aus unterschiedlichen Gründen in ihre wohl letzte Dienststelle abgeschoben wurden. „Das Revier der schrägen Vögel“ (Band 2, 2017) ist eine heruntergekommene Wohnung mit Sperrmüll-Mobiliar, die unter dem Kommando der ebenfalls suspendierten Kommissarin Anne Capestan steht.

    Im Mai erschien nun mit „Mission Blindgänger“ der dritte Band, der uns in ein Filmstudio führt. Bei der Verfilmung eines Drehbuchs von Eva Rosière, die nicht nur als Capitaine der Pariser Kriminalpolizei Mitglied in Capestans Chaostruppe, sondern nebenbei Bestsellerautorin ist, wird der Regisseur ermordet. Prompt gerät Rosière unter Mordverdacht, hatte sie dem Opfer doch öffentlich gedroht, ihn wegen Streitigkeiten töten zu wollen. Das Fehlen eines Alibis lässt sie eindeutig als Mörderin erscheinen.

    Nicht nur die Szenerie dieser Krimireihe um das „Kommando Abstellgleis“ ist ungewöhnlich, sondern auch der Umstand, dass es uns Lesern bei der nun einsetzenden Ermittlungsarbeit gar nicht so wichtig erscheint, den wahren Täter zu finden. Der Spaß an der Lektüre setzt ein, als Commissaire Anne Capestan, ausgestattet mit Windeln und Schnuller, samt Baby Joséphine aus dem Mutterschaftsurlaub vorzeitig an ihre Dienststelle zurückkehrt, um ihrer Kollegin aus der Patsche zu helfen. Als wäre das Chaos zu normalen Zeiten nicht schon groß genug, zeigt erst die Anwesenheit von Baby Joséphine und deren „Einsatzfreude“, welche Steigerung noch möglich ist.

    Ähnlich einer Slapstick-Komödie schildert Sophie Hénaff voller Witz – man meint fast, die Freude der Autorin und ihrer Übersetzerin Katrin Segerer beim Formulieren zu spüren – das untypische Vorgehen ihrer ebenso untypischen Ermittler, deren Arbeit in der Dienststellenwohnung eher dem ungeordneten Zusammenleben einer Studenten-WG gleicht. Noch turbulenter wird es, als die des Mordes verdächtige Eva Rosière neben der Autorenschaft auch noch die Regie übernimmt und ihre Polizisten-Kollegen als Darsteller im Film mitwirken lässt, so dass die Mordermittlung gelegentlich nachrangig wird.

    Wer Sinn für literarischen Spaß und Witz hat und wen es nicht stört, bei der Lektüre eines Krimis auch mehrmals laut auflachen zu müssen, wird an diesem dritten Band „Mission Blindgänger“ von Sophie Hénaff seine Freude haben. Allerdings ist zu empfehlen, wenn auch nicht zwingend, vorab die zwei anderen Bände gelesen zu haben, um die schillernden Charaktere in ihrer „Vielfarbigkeit“ noch besser zu kennen. Ach ja, fast hätte ich es vergessen: Trotz der aufregenden und zeitaufwändigen Schauspielerei endet der Kriminalfall für die „Blindgänger“ keineswegs als „Mission Impossible“, sondern der Täter wird bald gefunden. Aber eigentlich ist dies völlig nebensächlich. Denn viel aufregender für die Truppe ist doch ihr Auftritt auf dem roten Teppich bei der glanzvollen Premiere des Kinofilms.

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    REZENSION – Vor drei Jahren erschien mit „Lost in Fuseta“ der Auftaktband zur namensgebenden Krimireihe des unter Pseudonym Gil Ribeiro schreibenden Drehbuch-Autors Holger Karsten Schmidt (54). Hauptfigur der Reihe ist der am Asperger-Syndrom (Autismus) leidende Europol-Kommissar Leander Lost, der im internationalen Austausch statt in der Großstadt Hamburg jetzt bei der Polícia Judicária im portugiesischen Dorf Fuseta eingesetzt ist, einem provinziellen Küstenort in der Algarve mit nicht einmal 2.000 Einwohnern. Über den ersten Band urteilte ich damals: „Der Autor beschreibt diesen Lost, der wahrhaftig 'verloren im Dörfchen Fuseta' ist, und seine portugiesischen Kollegen mit so viel Liebe. …. Es ist ein unterhaltsamer Krimi, aber trotz aller Lockerheit und Leichtigkeit auch spannend.“ Diese Aussage gilt unverändert – nach den im Jahresabstand veröffentlichten Folgebänden „Spur der Schatten“ und „Weiße Fracht“ – auch für den gerade erschienenen vierten Band „Schwarzer August“.

    Anfangs musste sich der eigenartige Kommissar an die ihm fremde südeuropäische Mentalität der Dorfbewohner erst gewöhnen. Inzwischen hat er sich eingelebt, darf weiter im Dienst der Polícia Judicária ermitteln und hat sich sogar in Soraia, die Schwester seiner Kollegin Graciana Rosado verliebt. Es könnte also für Leander Lost ein idyllischer August werden, wenn nicht im Hinterland bei der Filiale der Crédito Agrícola eine Autobombe explodiert wäre. Ist der islamistische Terror nun auch in Portugal angekommen? Zwei Tage später werden drei Thunfisch-Trawler im Hafen von Olhão versenkt. Leander Lost und seine Kollegen Graciana Rosado, Carlos Esteves und der eitle Spanier Miguel Duarte stehen vor einem Rätsel. Doch Leanders ausgeprägte Logik und Kombinationsgabe bringen sie schließlich dem Täter auf die Spur.

    „Schwarzer August“ ist wie die drei Vorgängerbände der vergnüglichen Krimireihe eine Liebeserklärung an die Algarve, in die sich Autor Gil Ribeiro alias Holger Karsten Schmidt nach eigener Aussage schon in jungen Jahren verliebt hat. Voller Sympathie schildert er uns das Dorf an der Algarve, das Alltagsleben unter dem azurblauen Himmel und die Bewohner mit ihren unterschiedlichen Marotten – nicht selten ironisch, aber voller Empathie.

    Im Mittelpunkt steht natürlich der „Aspie“ Leander Lost und dessen Schwierigkeit im Umgang mit den „Normalos“. Ihm fehlt die Fähigkeit, Mimik und Gesten zu deuten, Scherz oder Ironie zu erkennen. Er nimmt jede Äußerung wörtlich und irritiert dadurch seine Gesprächspartner. Lost braucht seinen strukturierten Alltag, kann ohne Ordnung und Disziplin nicht leben – typisch für das Asperger-Syndrom. Oder sollte dies vielleicht auch ein ironischer Seitenhieb des Autors auf eben jene typischen Charakterzüge sein, die Ausländer doch immer gern den Deutschen zuschreiben?

    „Schwarzer August“ ist keiner dieser unzähligen und meist oberflächlichen Fernweh-Krimis, die mit Sonnenschein, Meeresrauschen, Romantik und Kulinarik bei ihren Lesern punkten wollen. „Schwarzer August“ ist viel mehr: Gil Ribeiro, der mit dem Autisten Leander Lost einen „eigenartigen“ Kommissar erschaffen hat, zeigt uns ganz nebenbei, wie wichtig es ist, Autisten nicht auszugrenzen, sondern deren Andersartigkeit und daraus resultierenden besonderen Fähigkeiten zu nutzen. „Schwarzer August“ ist zudem, obwohl wie in Urlaubslaune locker und leicht geschrieben, ein spannender Krimi mit starken Charakteren. Aber natürlich auch ein lesenswerter Roman für alle Freunde der Algarve – oder solche, die es werden wollen.

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    REZENSION – Die Hauptstadt Berlin, aufgeteilt in vier Besatzungszonen, liegt in Trümmern, zerbombte Wohnungen sind nur notdürftig hergerichtet. Die Einwohner versuchen, ihr bescheidenes Leben neu einzurichten. Vorkriegsganoven wandeln sich zu zwielichtigen Geschäftsleuten, einst überzeugte Nazis zu unbescholtenen Bürgern. Im November 1947 fällt der erste Schnee, Lebensmittel sind knapp. Es ist der „Hungerwinter“, den der Historiker und Schriftsteller Harald Gilbers (51) im gleichnamigen fünften Band seiner faszinierenden, bereits in acht Sprachen übersetzten und mit internationalen Preisen ausgezeichneten Krimireihe um den jüdischen Kriminalkommissar Richard Oppenheimer in vielen Fakten und Facetten ungemein eindrücklich beschreibt.

    Ausgehend von einem als Notwehr nur dürftig getarnten Mord, den der von den Nazis einst entlassene und erst kürzlich wieder als Kommissar in den Polizeidienst zurückgekehrte Oppenheimer mit seinem Assistenten Wenzel recht schnell aufdecken können, entwickelt Gilbers eine zeitgeschichtliche Dokumentation jenes zweiten Nachkriegsjahres, die nicht nur für die damalige Situation in Berlin gilt, ähnelte sie doch auch jener in anderen deutschen Großstädten. In realistischen, in ihrer Kleinteiligkeit filmreif inszenierten Bildern erfahren wir viel über die alltägliche Lebenssituation der Berliner bis hin zu der wegen Lebensmittelknappheit geschmacklich fragwürdigen Ersatznahrung. Die allgemeine Lage ist völlig unübersichtlich, die Besatzungsmächte arbeiten unkoordiniert, der Beginn des Kalten Krieges zwischen den drei Westalliierten, vor allem den Amerikanern, und den Sowjets zeichnet sich schon deutlich ab. Kommissar Oppenheimer weiß nicht mehr, wem er vertrauen darf. Nicht nur, dass er in seiner Dienststelle mit dem „Kleenen Hans“ einen vormaligen Kleinkriminellen unerwartet als Polizeianwärter wieder trifft, sondern auch Nazi-Verbrecher haben mit gefälschtem Lebenslauf bei der Kripo eine neue, unverdächtige Identität gefunden. Nicht einmal den engsten Mitarbeitern kann man trauen. Sogar sein langjähriger Kollege Billhardt, der während eigener Ermittlungen in einem Mordfall plötzlich verschwindet, scheint bei seinem kurzen Kriegseinsatz an der Ostfront schuldig geworden zu sein.

    Obwohl „Hungerwinter“ bereits der fünfte Band der im Jahr 1944 beginnenden Oppenheimer-Reihe ist, kann man ihn auch dann unbesorgt lesen, wenn man die vier Vorgängerbände nicht kennt. Die Handlung eines jeden Bandes ist in sich abgeschlossen, die handelnden Personen ausreichend charakterisiert, um sie lebendig werden zu lassen. Zentrales Thema in „Hungerwinter“ ist der strategische Aufbau der so genannten „Rattenlinien“ im Nachkriegsdeutschland, über die einerseits der argentinische Präsident Perón, andererseits auch der Vatikan hohe Nazi-Funktionäre und Kriegsverbrecher mit Hilfe deutscher Schleuser nach Übersee schaffen. Wir erfahren Interessantes über die politischen Hintergründe und die Motivation der Verantwortlichen und Strippenzieher. Gleichzeitig lesen wir über die Anfänge der Organisation Gehlen, die gerade mit Hilfe erfahrener Nazis und geduldet von den Amerikanern als neuer deutscher Geheimdienst aufgebaut wird.

    Dem Historiker Gilbers gelingt es in seinem Roman hervorragend, uns die geschichtlichen Hintergründe in ihren wichtigsten Einzelheiten umfassend zu vermitteln. Der Bestseller-Autor Gilbers schafft es, diese Fakten passgenau in eine derart spannende Krimihandlung einzuflechten, dass man „Hungerwinter“ gar nicht mehr aus der Hand legen mag.

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    REZENSION - Macht korrumpiert und lässt die wirklich Mächtigen, das zeigt uns die Menschheitsgeschichte, zum Erhalt ihrer Macht nicht vor Verbrechen bis hin zum Mord zurückschrecken. Dies muss auch der freie Journalist Axel Sköld erfahren, der in dem kürzlich bei Bastei Lübbe erschienenen Politthriller „Achtzehn“ des schwedischen Autors Anton Berg (42) einer in Schweden allmächtigen Geheimorganisation auf die Spur kommt.

    Axel Sköld, Produzent politisch brisanter Beiträge im schwedischen Radiosender P3, veröffentlicht in einem von der Sendeleitung nicht genehmigten Podcast seine Theorie, sowohl der sozialdemokratische Ministerpräsident Olof Palme, dessen Ermordung im Februar 1986 bis heute nicht aufgeklärt ist, als auch die schwedische Außenministerin (im September 2003 starb Anna Lindh an den Folgen einer Messerattacke in einem Stockholmer Kaufhaus) seien von demselben Täter ermordet worden, den er auf unscharfen Fotos identifiziert zu haben meint. Prompt wird Sköld als Verschwörungstheoretiker abgestempelt und vom Sender fristlos entlassen. Als Journalist ist er damit für alle Medien des Landes „verbrannt“. Nur der todgeweihte Bankier von Scheele erkennt, dass Sköld wohl der Wahrheit auf der Spur ist. Dieser Bankier, von einem nach Aufdeckung der Panama Papers und dem Verlust mehrerer Milliarden „enttäuschten Klienten“ mit Polonium-210 vergiftet – wir erkennen hier die Parallele zum realen Giftmord am Russen Alexander Litwinenko im Jahr 2006 in London –, beauftragt Sköld gegen Zusage eines Millionenhonorars, seine Nachforschungen unbedingt fortzusetzen, und berichtet von einer ihm nur ansatzweise bekannten Gruppe von Wirtschaftsmagnaten, die als wahre Macht im Staat die nur scheinbar Verantwortlichen bis hin zum Ministerpräsidenten wie Marionetten lenkt. Mit Unterstützung eines Historikers entdeckt Sköld, dass dieser Geheimbund, bereits vor über 200 Jahren von achtzehn schwedischen Adligen gegründet, vermutlich schon 1792 für die Ermordung des reformfreudigen Königs Gustav III. verantwortlich war, der die Privilegien des Adels schmälern wollte. Axel Sköld geht diesen Spuren akribisch nach und gerät bald in Todesgefahr, als er seine einstige Jugendliebe, die neue Finanzministerin Lova, vor dem langjährigen Berufskiller dieser „Achtzehn“ zu schützen versucht.

    Die Grundidee dieses schwedischen Thrillers, wonach eine Geheimorganisation die wahre Macht im Staat ausübt, ist nicht neu, erinnert sie doch an die Oxen-Reihe (seit 2012) des dänischen Bestseller-Autors Jens Henrik Jensen, worin der traumatisierte Ex-Elitesoldat Niels Oxen gegen den allmächtigen Danehof kämpft. Doch Anton Bergs Romandebüt unterscheidet sich von Jensens fiktiven Psychothrillern vor allem darin, dass „Achtzehn“ historische Fakten der schwedischen Geschichte geschickt mit einer Kriminalhandlung zu einem spannenden Politthriller verbindet und ähnlich einer Verschwörungstheorie dem Leser eine scheinbare Wahrheit vorgaukelt.

    Zwar endet das actionreiche und sowohl für Axel Sköld als auch für die junge Finanzministerin lebensbedrohliche Finale für beide glücklich. Doch noch immer ist die Schweden beherrschende Organisation der „Achtzehn“ nicht entlarvt und zerschlagen. Es ist also zu vermuten, dass Autor Anton Berg nach dem Erfolg dieses schon 2018 in Schweden erstveröffentlichten Debüts bereits an einer ebenso mörderisch aufregenden, deshalb lesenswerten Fortsetzung schreibt. Wir dürfen gespannt sein.

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    REZENSION – Völlig zu Recht kam „Acht Tage im Mai“, das kürzlich im Verlag C. H. Beck erschienene Buch des Historikers Volker Ullrich (76) über „die letzte Woche des Dritten Reiches“, im Juni auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste. Denn überaus interessant und fesselnd geschrieben, dabei trotz der schnellen Abfolge damaliger Ereignisse vom Leser leicht nachvollziehbar, schafft es der Autor, seinen Lesern einen umfassenden Einblick in die militärisch und politisch komplexen Geschehnisse nach Hitlers Selbstmord bis zur Kapitulation zu vermitteln.

    Volker Ullrich schildert chronologisch Tag für Tag diese „zeitlose Zeit“, die Woche des für die Deutschen nur scheinbaren Stillstands in der „Lücke zwischen dem Nichtmehr und dem Nochnicht“, wie der Schriftsteller Erich Kästner zitiert wird. Wir lesen vom täglichen Vorrücken der sowjetischen Truppen vom Osten und der Alliierten vom Westen, von Massenvergewaltigungen und „Selbstmordepidemien“, von Todesmärschen und Vertreibungen, von befreiten Konzentrationslagern und ersten Absetzbewegungen höchster Nazi-Funktionäre. Und wir erfahren von ersten Anzeichen politischer Differenzen zwischen den Westalliierten und den Sowjets, die bald zum Kalten Krieg führten.

    Aus unzähligen Quellen, auf die der Autor in einem 30-seitigen Anhang verweist, ergänzt um ein Literatur- und Personenregister, formt Volker Ullrich aus „historischen Miniaturen und Mosaiksteinen“, wie es der Klappentext verspricht, „ein Panorama dieser letzten Woche des Deutschen Reiches“. Ein fortwährender Wechsel der Perspektive – mal aus Sicht der heimatlos oder ausgebombten Deutschen, belegt durch Tagebuchnotizen bekannter (Anne Frank) und unbekannter Personen, mal aus Sicht der provisorischen Regierung unter Großadmiral Dönitz sowie abwechselnd aus der Perspektive der westalliierten sowie sowjetischen Kommandeure und Staatschefs – lässt beim Leser aus Puzzleteilen ein umfassendes Gesamtbild entstehen, ohne den roten Faden des historischen Zusammenhang zu verlieren.

    Nicht nur historisch interessierte Leser, sondern auch Freunde der Literatur kommen bei Lektüre dieses Buches auf ihre Kosten, da Ullrich einige Bücher zeitgenössischer Autoren als Quellen nutzt. Natürlich gehören die Tagebücher von Viktor Klemperer oder Bertolt Brecht ebenso dazu wie die „Erinnerungen eines Davongekommenen“ (2007) von Ralph Giordano. Aber auch das Kriegstagebuch „Eine Frau in Berlin“, das mit Unterstützung des Schriftstellers Kurt W. Marek alias C. W. Ceram erst 1953 mit Verspätung veröffentlicht wurde, schildert die Schrecken des Kriegsausgangs. Sogar etwas Hollywood-Glamour fehlt nicht in Ullrichs Buch, wenn er die Suche des deutschen Hollywoodstars Marlene Dietrich nach ihrer Schwester in Bergen-Belsen schildert (dazu: Heinrich Thies, „Fesche Lola, brave Liesel. Marlene Dietrich und ihre verleugnete Schwester“, 2017).

    Beim Lesen dieses Buches läuft das komplexe Endzeit-Geschehen der letzten Kriegswoche wie im Film in packend kurzer Szenenfolge vor dem geistigen Auge ab - ohne die bei historischen Werken oft langatmigen Ausschweifungen. Im Gegenteil: Volker Ullrich lässt seinen Lesern kaum Zeit zum Reflektieren. Gerade diese schnelle Szenenfolge ist es, die bei der Lektüre für anhaltende Spannung sorgt und das Buch „Acht Tage im Mai“ auch solchen Lesern empfehlenswert macht, denen das Genre historischer Sachbücher sonst eher nicht zusagt. Wer vom Film „Der Untergang“ (2004) über die letzten Tage Hitlers im Führerbunker fasziniert war, findet in Ullrichs Buch eine hervorragende literarische Fortsetzung.

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    REZENSION – Ein belletristisch seltener Genuss ist der im März bei Dumont veröffentlichte Roman „Offene See“ des englischen Schriftstellers Benjamin Myers (44), weshalb man dem Verlag zu diesem Glücksgriff nur gratulieren kann. Es ist vor allem die in romantischen Bildern berauschende Sprache, die diesen ersten in deutscher Übersetzung erschienenen Roman des zuvor schon mehrfach ausgezeichneten Autors so fasziniert und berührt, weshalb auch den Übersetzern Klaus Timmermann und Ulrike Wasel für dieses literarische Erlebnis zu danken ist.

    Nicht nur sprachlich, auch in seiner Handlung versetzt uns der Roman „Offene See“ gefühlsmäßig ins Zeitalter der Romantik, als sich im 19. Jahrhundert heranwachsende Kavaliere auf ihre Grand Tour, ihre kulturelle Bildungsreise durch Europa, begaben. „Ich blieb stehen, um meine Feldflasche am Straßenrand an einer Quelle zu füllen, die in einen Steintrog plätscherte, und kam mir vor, als hätte ich ein Gemälde betreten.“ Doch der 16-jährige Robert Appleyard ist weder Kavalier noch lebt er im 19. Jahrhundert. Myers Geschichte spielt in Nordengland im Jahr 1946, also kurz nach Kriegsende. Der 16-jährige Schulabsolvent scheut die Enge seines augenblicklichen Lebenshorizonts und die Schlichtheit seines dörflichen Lebens sowie den allen Männern seiner Familie vorbestimmten grauen und tristen Alltag als Bergarbeiter. Er sehnt sich nach Weite, nach farbenprächtiger Natur, nach dem noch undefinierbaren Neuen, weshalb er sich auf die Wanderung zur offenen See aufmacht.

    Doch noch bevor er die offene Küste erreicht, trifft er abseits der Straße auf ein heruntergekommenes Cottage, dessen schon ältere Bewohnerin Dulcie ihn zum Tee einlädt. Aus einem Nachmittag werden Wochen. Robert bringt den verwilderten Garten der alleinstehen Frau, dessen hochgewachsene Hecken die Sicht auf das Meer versperren, wieder in Ordnung. In diesen Sommermonaten wird die unverheiratete Dulcie, die sich nach erlebnisreichen Reisen und abenteuerlichem Leben in die Einsamkeit ihres Cottages zurückgezogen hat, in ihrer burschikosen und unkonventionellen Art zur Lehrmeisterin des jungen und noch unerfahrenen Robert. Nicht selten überrascht sie ihn mit ihren ungewöhnlichen Ansichten zur Lebensführung, mit ihrer drastischen und offenen Art, Dinge beim Namen zu nennen.

    Dulcie gibt ihm ungeachtet seiner begrenzten schulischen Bildung die Klassiker der Weltliteratur, Gedichte und Romane, zu lesen, von denen manche wie „Lady Chatterley’s Lover“ von D. H. Lawrence nur zensiert oder unter dem Ladentisch zu bekommen waren. In langen Gesprächen schärft sie Roberts Blick für das Wesentliche im Leben und ermuntert ihn vor allem, seinen Neigungen zu folgen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. „Ich lebte das Leben, das ich leben wollte“, erinnert sich Robert später als alternder Schriftsteller.

    Myers Roman „Offene See“ ist eine Lobeshymne auf das wahre Leben und dessen schöne Seiten, auf eine breitgefächerte kulturelle und humanistische Allgemeinbildung. Mit der romantisch-bildhaften und klangvollen Sprache seines zauberhaften Romans gelingt es dem Autor – und den beiden Übersetzern –, ähnlich wie im Falle Robert Appleyards gleichsam Musik und Farbe auch in unseren oft grauen Alltag zu bringen.