Ich bin mit dem Buch jetzt durch und muss sagen, dass sich der positive Eindruck bis auf wenige Aspekte zum Ende durchweg gehalten hat. Der dokumentarische Stil und die detailfreudige Erzählung der Protagonistin nehmen einen mit in einen Teil des Themenbereichs Ostpreußen/Flucht/Vertreibung, der sonst höchstens am Rande erwähnt wird.
Gerade am Ende werden auch Bezüge zur Gegenwart, v.a. zum Ukraine-Krieg hergestellt, was ich prinzipiell gut finde, da hierdurch deutlich wird, dass unsere Gegenwart durchaus auch Bezüge zur Geschichte hat. Negativ aufgefallen ist mir in diesem Zusammenhang aber die etwas kleinlich wirkende Feststellung, dass die Flüchtlinge aus der Ukraine heute freundlicher und offener empfangen werden als damals die Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Dies ist sicher der Fall, allerdings leben wir auch in einer anderen Zeit, und ich finde einfach, dass man das auch positiv konnotieren könnte, dass gerade die Deutschen mit ihrer durchaus problematischen Vergangenheit heute ähnlich agieren wie damals die Litauer, die eben die Wolfskinder aufgenommen und unterstützt haben.
Ganz schwierig finde ich die Forderung des Autors im Nachwort, diesem Thema mehr Präsenz sowohl in den historischen Debatten wie auch dem Schulunterricht einzuräumen. Ja, es ist ein Thema, über das wenig bekannt ist und das mehr Beachtung verdient. Aber: Bei einer intensiveren Auseinandersetzung mit den deutschen Opfern des Zweiten Weltkriegs (und das betrifft eben auch die nach 1945 Vertriebenen) besteht immer die Gefahr, dass diese für eine Relativierung der Täterrolle der Deutschen genutzt wird. Und im Vergleich zu vielen anderen Verbrechen in Zusammenhang mit den Zweiten Weltkrieg (und da muss man nicht einmal zwingend auf Shoah und Pojramos schauen) ist das Thema Wolfskinder eben nicht mehr als eine bedauerliche Randnotiz der Geschichte, so schlimm das Schicksal für die einzelnen Betroffenen auch war.
Ich kann eine definitive Leseempfehlung für Geschichtsinteressierte aussprechen, würde allerdings nicht so weit gehen wie der Autor, eine allgemeine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zu fordern.