Roland Barthes bekommt jetzt posthum noch einen Herzinfarkt.
Ich muss dem guten Schopenhauer vollkommen widersprechen leider. Ein Buch kann natürlich mehr sein als der Abdruck der Gedanken des Verfassers, weil ein Buch immer auch auf die Gedanken des Rezipienten, also des Lesers trifft. Gerade bei Klassikern, wo so viele Jahre zwischen Produktion und Rezeption liegen, bin ich davon überzeugt, dass heute jemand in einem Buch ganz andere Dinge lesen kann, als damals vor zB 200 Jahren intendiert. Aber es muss auch gar nicht so lange her sein, jeder Mensch hat andere Bilder im Kopf, fasst Worte anders auf, sieht andere "Muster" in einem Buch - ich fände man gibt dem Autor an zu vielen Dingen Schuld, wenn man behauptet, dass das alles von ihm konzipiert wäre und der Leser es dann einfach nur "richtig" lesen muss.
Mein Lieblingsbuch ist zB Thomas Manns Zauberberg und ich merke immer wieder im Gespräch mit anderen Leuten, dass die das Ding ganz anders gelesen haben als ich - vielleicht sogar näher an Thomas Manns Intention. Aber ich hab das Buch zu einer bestimmten Zeit in meinem Leben gelesen, mit einer bestimmten Musik als "Soundtrack" und ich werde es immer auch mit diesen Dingen geistig verknüpfen - es steht also gar nicht alleine als Buch da. Andere Leute haben keine Ahnung von diesen Erlebnissen, haben womöglich ganz andere Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Buch (zB Pflichtlektüre - ein besonders negatives Erlebnis ) und da kann sich schon gar nicht die selbe Einstellung und die selbe Lesart damit verbinden.
Ein guter Einwand zwar und völlig berechtigt, aber ich muss hier Schopenhauer doch in Schutz nehmen: Geschrieben stehen diese Sätze in Parerga und Paralipomena unter der Überschrift Schriftstellerei und Stil. Er beleuchtet also zunächst nur die Seite der Literaturschaffenden. Dass es beim Vorgang des Lesens nicht allein die Sache des Autors sein kann, sondern mindestens so sehr die Sache des Rezipienten, das liegt auf der Hand. (Lichtenberg: "Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel heraus gucken.") Im Gespräch über Bücher ist es auch nie ein Problem, dass dies nicht bedacht werden würde, ganz im Gegenteil: es wird zu oft bedacht. Es gibt eine falsche Rücksicht heutzutage, dergestalt, dass man schon gar nicht mehr der Meinung sein kann, dieser Autor oder jenes Buch sei mittelmäßig, schlecht, grauenvoll. Im Grunde gibt es ja heute keine schlechte Literatur mehr, sondern bloß spezielle Literatur für jeden Geschmack. Wem ein Buch nicht gefällt, der nenne es nicht schlecht, sondern 'ihm nicht gemäß'. Es git zu viele bescheidene Konsumenten, glaube ich.