Was ist interessant an "Klassikern"?

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  • Mir persönlich stellt sich dann auch immer zusätzlich die Frage, wer bestimmt ab wann ein Werk den Stempel "Klassiker" aufgedrückt bekommt.


    Die Frage habe ich mir auch öfter gestellt! Gibt es da irgendwie eine zeitliche Abgrenzung? Wann gilt ein Werk als Klassiker?


    Also ich habe diese typische Schullektüre sehr geliebt. Ich fand schon, dass man sich gut in die Charaktere hineinversetzen kann und die Werke durchaus unterhaltsam sind. Ich glaube aber auch, dass es wegen den zeitlich bedingen Lebensstilen nicht jeden möglich ist, das Handeln und Denken der Protagonisten nachzuvollziehen. Der Punkt "Kenntnis des nationalen und europäischen Kulturerbes" ist für mich auch ein sehr wichtiger.

    :lesen: Sabine Weigand - Die Tore des Himmels

  • Danke für den Link, Thomas!


    Was für ein Glück, dass es sich bei den Punkten 2. und 3. nur um Hypothesen handelt :zwinker:.




    Mir persönlich stellt sich dann auch immer zusätzlich die Frage, wer bestimmt ab wann ein Werk den Stempel "Klassiker" aufgedrückt bekommt.


    Unter diese 70-Jahre-Regel fallen eine Menge Bücher, von denen kein Mensch mehr spricht geschweige denn sie liest. Ich glaube auch, dass ein Buch zum Klassiker wird, weil es immer wieder gelesen wird und nichts an Attraktivität einbüßt.



    Schön, dass hier wieder Leben reinkommt, ich glaube zu diesem Thema ist längst nicht alles gesagt.


    Dieses Thema ist auch schon ein Klassiker :zwinker:.


    Grüße
    Doris


  • Ausdauer ist sicher auch bei anderen Hobbys in gleicher oder gar noch stärkerer Weise notwendig, ich denke da nur an die Mühen beim Erlernen eines Musikinstrumentes oder einer Fremdsprache. Zur Komplexitätsbewältigung im realen Leben trägt ein so abstraktes Hobby wie Schachspielen aber eher nicht bei. Literatur ist da näher an der realen Welt, inwieweit sie dann wirklich dazu beitagen kann, müsste man aber eingehender untersuchen.


    Gruß, Thomas


  • Zur Komplexitätsbewältigung im realen Leben trägt ein so abstraktes Hobby wie Schachspielen aber eher nicht bei. Literatur ist da näher an der realen Welt, inwieweit sie dann wirklich dazu beitagen kann, müsste man aber eingehender untersuchen.


    Ich persönlich bezweifle stark, dass Klassiker mich im Alltag weiterbringen. Ich habe sogar manchmal das Gefühl, dass mich das teilweise von meinen Mitmenschen distanziert und es mir den Alltag und vor allem Kommunikation manchmal erschwert. Ich hab auch schon erfahren, dass Menschen anfangs damit Probleme haben, mir SMS zu schreiben, weil sie davon ausgehen, dass ich sie für jeden Rechtschreibfehler verurteile bzw. da Dinge hineininterpretiere.

    "This was another of our fears: that Life wouldn't turn out to be like Literature" (Julian Barnes - The Sense of an Ending)

  • Ich persönlich bezweifle stark, dass Klassiker mich im Alltag weiterbringen.


    Nun, die Frage ist, ob dieses "Weiterbringen" überhaupt bemerkt wird. Das größte Problem ist die fehlende "Isolierung" des Lesens. Man liest ja nicht nur, sondern geht auch zur Schule, studiert, lebt mit Freunden und Famile. Was am Ende einen das Verständnis über die Welt nahebringt, lässt sich schwer bestimmen. Ich glaube aber schon, dass Klassiker (und auch andere Lektüre) dazu beitragen können, einen besseren Menschen zu formen. Damit wären wir wieder bei Hypothese 3, die xenophanes ja verworfen hat. Meines Erachtens vorschnell verworfen. Natürlich können andere Einflussfaktoren die Lektüre übersteuern, aber in einer intellektuell armen Welt (meine Kindheit gehörte sicherlich dazu) können Klassiker (und andere Lektüre) zur Persönlichkeitsbildung im guten Sinne beitragen.


    Gruß, Thomas

  • Und was istd ann mit den "einfachen" Menschen, die nicht lesen können? Was war mit den Menschen zu einer Zeit, als es noch keine Bücher gab? Was mit den Menschen in Ländern, in denen Bücher der pure Luxus ist und in denen sie sich vom Schweiße ihres Angesichts von Tag zu Tag ernähren müssen und keine Zeit für so nen Pipifax wie Klassiker haben? Nein, also diese Hypothese finde ich extrem vermessen.


    Wenn überhaupt, dann trägt das Lesen (sich informieren) generell zur Charakterbildung bei. Z.B. wenn ein MacOss eine zeitlang kein Fleisch isst, weil er "Anständig essen" gelesen hat. Oder wenn jemand das Buch von Waris Dirie liest und sich anschließend gegen die Beschneidung von Mädchen in Afrika einsetzt. Aber diese Dinge kann man sich genausogut auch ohne Bücher erarbeiten (allerdings wurde auch ich letzten Endes durch ein Buch zum Vegetarier - in Kombination mit dem TV). Das hat mit Klassikern nichts zu tun.

    Rechtsextremismus ist wieder salonfähig gemacht worden, durch CDU/CSU und FDP.

    Einmal editiert, zuletzt von nimue ()

  • Zitat

    Ich glaube aber schon, dass Klassiker (und auch andere Lektüre) dazu beitragen können, einen besseren Menschen zu formen.


    Jean Paul sagte das in den "Flegeljahren" so:


    Wenn Bücher auch nicht gut oder schlecht machen, besser oder schlechter machen sie doch.


    Klassikfreund, du bist in guter Gesellschaft. :zwinker:

    Einmal editiert, zuletzt von Gronauer ()


  • Ich glaube aber schon, dass Klassiker (und auch andere Lektüre) dazu beitragen können, einen besseren Menschen zu formen.


    Ja, das glaube ich auch. Dass dies beim Spielen eines Musikinstruments oder beim Ausüben einer Sportart genauso möglich ist, ändert ja nichts an der Gültigkeit der Aussage. Ich denke dabei an das Stichwort charakterliche Selbstveredelung und gleichsam an Goethe. Ich denke an Ästhetik. Zuwider sind mir Argumente, die beim Nutzen oder Zweck von Klassikern ansetzen, denn eine solche zusätzliche Rechtfertigung bedürfen diese gar nicht. Wen interessiert denn wirklich der Nutzen für die Gesellschaft? Das Lesen ist in erster Linie Privatsache, eine Intimität zwischen Autor und Leser, und empfängt von dort seine volle Legitimation.




    Und was istd ann mit den "einfachen" Menschen, die nicht lesen können? Was war mit den Menschen zu einer Zeit, als es noch keine Bücher gab? Was mit den Menschen in Ländern, in denen Bücher der pure Luxus ist und in denen sie sich vom Schweiße ihres Angesichts von Tag zu Tag ernähren müssen und keine Zeit für so nen Pipifax wie Klassiker haben? Nein, also diese Hypothese finde ich extrem vermessen.


    Wenn überhaupt, dann trägt das Lesen (sich informieren) generell zur Charakterbildung bei. Z.B. wenn ein MacOss eine zeitlang kein Fleisch isst, weil er "Anständig essen" gelesen hat. Oder wenn jemand das Buch von Waris Dirie liest und sich anschließend gegen die Beschneidung von Mädchen in Afrika einsetzt. Aber diese Dinge kann man sich genausogut auch ohne Bücher erarbeiten (allerdings wurde auch ich letzten Endes durch ein Buch zum Vegetarier - in Kombination mit dem TV). Das hat mit Klassikern nichts zu tun.


    Nein, nein, nein! Alles falsch. Ich weiß schon, das ist nicht produktiv. Aber ich ahne, hier müsste so viel Aufklärung betrieben werden, dass man der Aufgabe vermittels eines Forenpostings nicht gerecht würde.

  • Nein, nein, nein! Alles falsch. Ich weiß schon, das ist nicht produktiv. Aber ich ahne, hier müsste so viel Aufklärung betrieben werden, dass man der Aufgabe vermittels eines Forenpostings nicht gerecht würde.


    Aber nein. Du verstehst mich nicht. Aber es würde den Rahmen des Forums sprengen, das zu erklären, deshalb lasse ich es lieber sein und lese ein Buch.

    Rechtsextremismus ist wieder salonfähig gemacht worden, durch CDU/CSU und FDP.


  • Und was istd ann mit den "einfachen" Menschen, die nicht lesen können? Was war mit den Menschen zu einer Zeit, als es noch keine Bücher gab?


    Nun, die Frage ist, ob diese Menschen in einer so komplexen Welt gelebt haben wie wir heute. Oder ob sie am komplexen Leben der heutigen Zeit teilnehmen.


    Am heutigen Tag wird im Bundestag über die Präimplantationsdiagnostik (PID) in freier Abstimmung beraten. Die Abgeordneten können dort ihr gesamtes Wertesystem in die Waagschaale werfen. Werte wie Freiheit, Selbstbestimmung, Demut vor dem menschlichen Leben, Verantwortung für potentielle werdende Eltern usw. Wie werden diese Werte gebildet? Die Literatur kann dazu doch zweifelsohne beitragen. Schachspielen hingegen nicht, da dieses keine Werte vermittelt. Zudem fördert komplexe Literatur das Durchschauen komplexer Zusammenhänge (genauso wie das Erlernen anderer komplexer geistiger Tätigkeiten).


    Es gibt ja gute Gründe, warum Lesen heutzutage jedem beigebracht wird.


    Schöne Grüße,
    Thomas

    Einmal editiert, zuletzt von Klassikfreund ()


  • Wen interessiert denn wirklich der Nutzen für die Gesellschaft? Das Lesen ist in erster Linie Privatsache, eine Intimität zwischen Autor und Leser, und empfängt von dort seine volle Legitimation.


    Das finde ich einen wichtigen neuen Gedanken. xenophanes untersucht Nutzen. Literatur ist aber immer auch Kunst und Kunst muss keinen erkennbaren Nutzen schaffen.


    Gruß, Thomas

  • Nach 173 Beiträgen, die ich hier habe vorbeiziehen lassen, gebe ich auch noch einen Löffel von meinem Senf drauf.


    Zum einen weigere ich mich strikt, die Lektüre von Klassikern - was immer man dazu zählt - als Dienst an der Gesellschaft zu verstehen. Es mag ja zum allgemeinen Grad der Aufklärung beitragen, wenn möglichst viele Menschen möglichst gute Bücher lesen. Aber das kann nur ein erwünschter Reflex sein, niemals aber der Zweck der Sache. So viel Privatvergnügen nenne ich schon gerne mein eigen.


    Zum anderen ist es die Lektüre klassischer Literatur, die eine ganze Menge über Geschichte verrät. Ich habe immer die Ansicht vertreten, dass, wer ein vollständiges Bild der Geschichte haben will, nicht nur Geschichtsbücher lesen sollte, sondern auch die Geschichtenbücher der Epochen. Sie vermitteln die Innenansichten der damaligen Verhältnisse und füllen die Gerippe der historischen Wissenschaften mit Fleisch und Blut.


    Und dann kommt noch eines dazu: bis zu einem gewissen Grad ist die Zeit ein Filter der Qualität. Es gibt eine Menge Autoren, die zu ihren Zeiten hoch gepriesen wurden - und heute in Vergessenheit geraten sind. Nur ganz wenige Wiederentdeckungen erweisen sich als lohnend und dauerhaft. Auf lange Sicht setzt sich anschenend doch nur das durch, was substantiell etwas zu sagen hat. "Klassik" hat eben den Test bestanden: gewogen und gewichtig befunden!


  • Und dann kommt noch eines dazu: bis zu einem gewissen Grad ist die Zeit ein Filter der Qualität. Es gibt eine Menge Autoren, die zu ihren Zeiten hoch gepriesen wurden - und heute in Vergessenheit geraten sind. Nur ganz wenige Wiederentdeckungen erweisen sich als lohnend und dauerhaft. Auf lange Sicht setzt sich anschenend doch nur das durch, was substantiell etwas zu sagen hat. "Klassik" hat eben den Test bestanden: gewogen und gewichtig befunden!


    Dem stimme ich nur bedingt zu. Ich finde, dass das anfangs durchaus stimmen kann, aber es irgendwann in der Geschichte einen Punkt gibt, wo die Bewunderung für ein Werk in pure Bewunderung und für den Autor umschlägt und dieser dann zur Ikone wird. Gerade bei "Genies" (Shakespeare, Goethe, da Vinci), ist der Künstler mittlerweile einfach größer als das Werk. Jeder kennt Shakespeare (er wird bei den Simpsons erwähnt, es gibt Zeichentrickfilme, Comics, Spielfilme, Artikel, Aktionen zu seinem Geburtstag...) aber wer hat Hamlet gelesen? Und selbst wenn man es gelesen hat, ist man so beeinflusst vom kulturellen Status des Autors, dass man es (höchstwahrscheinlich) nicht isoliert davon lesen kann und sich eine wirklich eigene Meinung darüber bilden kann.


    Außerdem ist das Werk eines Künstlers qualitativ nicht konstant. Selbst Harold Bloom, der aktuell bekannteste Shakespeare-Vergötterer und Vertreter der Meinung, dass Shakespeare "den Menschen erfunden hat", gesteht, dass nur 24 Stücke von Shakespeare Meisterwerke sind. Trotzdem würde es z. B. hier im Forum vermutlich Entsetzensschreie geben, wenn ich eine Rezension zu Two Noble Kinsmen (was Shakespeare sogar nur zum Teil geschrieben hat) nicht bei den "Klassikern" einordnen würde.

    "This was another of our fears: that Life wouldn't turn out to be like Literature" (Julian Barnes - The Sense of an Ending)


  • Außerdem ist das Werk eines Künstlers qualitativ nicht konstant.


    Ich glaube kaum, dass dies hier irgendwer bestreitet. Dennoch gilt die herausragende Stellung aufgrund der Hauptwerke eines Autors. Proust hat auch mehr geschrieben als seinen große "Recherche", die Nebenwerke spielen dann nur für absolute Liebhaber eine Rolle und sind für diese durchaus von Interesse. Dennoch schmälern diese Nebenwerke nicht die Bedeutung des Hauptwerkes. Die Nebenwerke überleben halt zufällig mit. Sie verkaufen sich innerhalb von Werkausgaben ganz gut. Für sich genommen kauft das wohl kein Mensch.


    Gruß, Thomas

    Einmal editiert, zuletzt von Klassikfreund ()

  • @ Mrs. Dalloway:


    Nun, wer 24 (!) Meisterwerke verfasst, ist gewiss kein Leichtgewicht. Mit "Klassikern" hatte ich auch weniger die Person der Autoren im Blick, als das Werk, das sie hinterlassen haben. Dass mich keine unangemessene Ehrfurcht vor großen Namen plagt, habe ich gerade in einem Bericht im "Dramen"-Thread über Shakespeares Titus Andronicus deutlich gemacht.


  • Dass mich keine unangemessene Ehrfurcht vor großen Namen plagt, habe ich gerade in einem Bericht im "Dramen"-Thread über Shakespeares Titus Andronicus deutlich gemacht.


    Die habe ich gerade gelesen (Dein Fazit finde ich übrigens cool. :breitgrins:). Vielleicht ist das jetzt etwas anmaßend von mir und bitte widersprich mir, wenn du das anders empfindest, aber deine Formulierung "ein Schandfleck im Werk Shakespeares" zeigt, dass du das Werk nicht als isoliert wahrnimmst sondern mit den anderen Werken Shakespeares vergleichst und von vorne herein vielleicht höhere Erwartungen hattest. Der Maßstab ist vor der Lektüre an sich gesetzt.


    Vielleicht verallgemeinere ich auch zu schnell, aber mir geht es z. B. so, dass ich in Galerien vor einem da Vinci länger stehen bleibe als vor einem Bild eines anderen unbekannteren Künstlers, einfach weil ich von äußeren Einflüssen "dazu gezwungen" werde.


    Ich will damit nicht sagen, dass man nicht sagen kann: "Das Buch gefällt mir nicht, obwohl es ein Klassiker ist." Ich will eher sagen, dass man sich mehr dafür rechtfertigen muss bzw. dass man sich aufgrund dieser Bezeichnung erst überhaupt damit beschäftigt.

    "This was another of our fears: that Life wouldn't turn out to be like Literature" (Julian Barnes - The Sense of an Ending)