Beiträge von Zoltar

    Aeria, ich habe ein bisschen nachgeforscht. In der bereits erwähnten "Enzyklopädie des Wüstenplaneten" steht dazu Folgendes:


    "Als Produkt einer eugenischen Maßnahme (...) wuchs Jessica auf Wallach IX auf, (...) auf dem sie eine vierzehnjährige "Mutterschaftserziehung" nach Art der Bene Gesserit durchmachen mußte. (...) Sie lernte, (...) andere zu beobachten, zu verstehen und somit auch zu kontrollieren. Auf diese Weise sollte eine fortlaufende mütterliche Dominanz über Männer, Frauen, Prinzen und Machthaber (...) gesichert werden."


    Wie du siehst, sahen die B. G. Jessica eher als eine "Zuchtstute" an, die ihnen die Kontrolle über die mächtigen Atreides bringen sollte. Der Herzog hatte davon natürlich keine Ahnung - er besorgte sich eine Hetäre mit hervorragenden Zeugnissen, die ihm solange dienlich sein sollte, bis er zu einer politischen Heirat mit einer Frau aus einem der Hohen Häuser bereit wäre. Jessica schaffte es, mir ihren B. G.-Fähigkeiten den Herzog Leto zu umgarnen. Was die Schwesternschaft jedoch nicht miteinkalkulierte, war, dass Jessica Leto aufrichtig liebte und ihm den so sehr ersehnten Erben nicht verweigerte, obwohl sie dazu sehr wohl in der Lage wäre. Und Leto begann auf der anderen Seite, seine Gespielin ebenfalls zu lieben...

    Zitat von "Aeria"

    Mir gefallen die Kapitelanfänge sehr, diese Auszüge aus den verschiedenen Büchern über Muad'dib, die verleihen der Geschichte irgendwie einen authentischen Hintergrund.


    Ich kann dir so gut nachempfinden, Aeria! Es sind bei mir schon gute 20 Jahre her, als ich das Buch zum ersten mal las. Und diese Zitate, obwohl sie doch ein so einfaches Mittel sind, steigerten schon damals den Genuss ungemein! Ich hatte seinerzeit sogar ein kleines Notizbuch angelegt, worin diese Zitate in den korrekten Quellen zusammengefasst waren. ;)

    Zitat von "fairy"

    Ich habe nämlich leider nicht die geringste Ahnung von der ganzen Materie... Es werden also noch viele Anfängerfragen meinerseits kommen!


    ... die ich auch mit Engelsgeduld beantworten werde! :zwinker:

    Zitat von "fairy"

    Wieso muss bei Paul der Test gemacht werden, ob er ein Mensch oder ein Tier ist?


    Das Wort "Tier" ist hier im übertragenen Sinne zu verstehen. Der Gom Jabbar-Test (wörtlich: "der gnadenlose Feind") ermittelt die psychischen und mentalen Qualitäten eines menschlichen Wesens. Qualitäten, die ein nur durch Instinkte geleitetes Tier, nicht haben kann. Dazu gehört eben die Fähigkeit, sich dem Diktat des eigenen Fleisches zu entziehen. Wir haben hier also mit einer gewissen Kasteiungsform zu tun.

    Zitat von "fairy"

    Wie kann man jemandem befehlen, ein Mädchen zu gebären? (Das sagt die alte Frau zu Pauls Mutter)
    Was bedeutet "using the Voice"?


    Wahrscheinlich wird es in dem Buch um viele Intrigen und Machtspielchen gehen, oder? So etwas liebe ich! :breitgrins::klatschen:


    Fairy, ich werde versuchen, die Fragen ohne zu spoilern zu erklären. :zwinker:


    Die Bene Gesserit sind in speziellen Praktiken geübt, die ihnen eine ungeheure Kontrolle über den eigenen Körper geben. Die tatsache, das eine B. G. ein Kind von bestimmten Geschlecht gebären kann, könnte sich z. B. durch die Kontrolle der Spermiengeschwindigkeit in der Gebärmutter und den Eileitern erkläen lassen (Temperatur, chemische Zusammensetzung der Schleimhäute usw.). Oder durch das Ausscheiden einer bestimmten Substanz, die Spermien mit den Y-Chromosomen abtötet/unbeweglich macht.


    Ähnlich ist es mit der Stimme, aber das wird später im Buch gut erklärt. Geduld also... :zwinker:


    Und was die Anzahl und Komplexität der Intrigen in "Dune" angeht, so gibt es nur wenige Bücher, die da mithalten können. "Dune" ist die Sorte von Romanen, für die solche Begriffe, wie "die byzantinische Intrige" erst eigens erfunden wurden... :zwinker: Ich zitieren nur den Navigator der Gilde: "Ich sehe Pläne und Gegenpläne ... "

    Zitat von "Kringel"

    Wenn ich's mir recht überlege, habe ich auch in "Die Enzyklopädie des Wüstenplaneten" etwas ähnliches gelesen. Aber das ist Fan-Fiction! Man müßte halt Frank Herbert fragen können.


    Das Buch ist eben KEINE Fan-Fiction, Kringel! Es wurde von Willis McNelly in Zusammenarbeit mit Frank Herbert geschrieben und ist offiziell durch ein Vorwort de Meisters abgesegnet worden. Frank Herbert schreibt darin: "Als erster Fan des Wüstenplaneten gebe ich dieser Encyklopädie meine begeisterte Zustimmung...". Dieser Brief zeigt ferner, dass der Autor zwar die Schreibarbeit einem anderen überlassen, jedoch zahlreiche Quellen-Informationen beisteuerte. Es ist in meinen Augen also etwas mehr als bloße Fan-Fiction.

    Zitat von "Kringel"

    Ich hatte auch den Eindruck, daß eine Parallele zwischen den Harkonnens und "den Russen" hergestellt werden sollte, aber das ist wahrscheinlich Einbildung.


    Obwohl ich natürlich keine Beweise habe, würde ich dir dennoch widersprechen, Kringel. Die Absicht, die Harkonnen (wohl finnisch, also für Amis sowieso fast Russland) als Russen darzustellen, ist m. E. gewollt. Sonst hätte der Baron auch John oder Bob Harkonnen heissen können ... :zwinker: Welch ein Unterschied zur Herkunft des Namens "Atreide"! Da wird uns die "Ilias" um die Ohren gehauen, bis der Arzt kommt! :breitgrins: Und komischerweise haben zwei Familienmitglider angelsächsich klingende Namen: Paul und Jessica... Ne, ne, das war gewollt, Kringel! :breitgrins:


    EDIT:
    Nun habe ich sogar Beweise gefunden: :breitgrins: "Der authorisierte Führer zu Frank Herberts phantastischem Meisterwerk 'Der Wüstenplanet' ", Bd. 1, erwähnt Folgendes:


    Die Harkonnens beanspruchen ferner für sich gemeinsame Vorfahren mit den Corrinos [sie stellen zur Handlungszeit die herrschenden Imperatoren - Anm. Zoltar] in den Palaiologoi, dem letzten Herrscherhaus des byzantinischen Kaiserreichs, via Konstantins XI. jüngeren Bruder Thomas Palaiologos. Durch Harkonnen Obeshevs Gemahlin Lisia Pozzo di Borgo [warum denke ich bloß an die Borgias? - Anm. Zoltar] scließlich beansprucht diese Familie eine Abstammung von Kiril' Romanov, dem Vettern Nikolais II, Rußlands letztem Zaren, und Erbe seines verwaisten Thrones."


    Ich glaube, man muss diese Zeilen nicht weiter kommentieren ...

    Zitat von "MarcoAntonio"

    Was mich so erschüttert hat ist einfach dieser eine Satzteil ".....-bezwungen von der unwiderstehlichen Kraft der Natur."
    Dieser Teil suggeriert mir das es für etwas Natürliches empfunden wird und das kann es nicht sein.


    Hallo MarcoAntonio!


    Ich sehe das etwas anders als Du. Vielleicht deswegen, weil ich einen Kelten in meinem Hobby darstelle und etwas (aber wirklich nur etwas) über diese Menschen weiß.
    Du liest diese Sätze aus der Warte eines Menschen des XXI. Jh. Ich glaube jedoch nicht, dass die Autorin das wollte. Sie schildert den Vorgang von der Warte einer Menschengruppe aus, die daran glaubt, dass etwas Göttliches passiert. Dass eine Gottheit durch die Handlung besänftigt/herbeigerufen (und und und) wird.
    Die Menschen um Morgaine haben einfach eine ganz andere Motivation, um bestimmte kultische Handlungen auszuführen. Wenn ein Christ zum Beispiel jemandem erzählt, er isst das Leib und trinkt das Blut Christi, so kann dass auch vollkommen anders bei einem Andersgläubigen ankommen, nicht wahr?

    Zitat von "dyke"

    Und der Club bietet nur Bpücher an, von denen er ausgeht, das er eine große Menge an die Leser bringen kann. Sonst lohnen sich seine Sonderdrucke gar nicht. Ein bisschen Realitätsblick hilft manchmal schon


    Aber von "Kunde ist König" hat man dort wohl nur wenig vernommen...


    (habe fast 15 Jahre dazugehört) :flop:

    Hallo Bartlebooth,


    Bellamy, als ein sehr spirituell erzogener Mensch, zeigte in mehreren seiner phantastisch angehauchten Romane und Kurzgeschichten ein starkes Interesse am Mesmerismus, an der Hypnotik, dem Spiritismus, dem Hellsehen, dem Gedankenlesen, am Traum und seiner Deutung (Schönfelder, Karl-Heinz; Nachwort). Insofern bleibt er bei "Looking Backward" seinen Interessen treu. Wenn ich annehme, dass er so um die Mitte der 60er Jahre literarisch geprägt wurde, so wundert es eigentlich nicht. Oft fängt man ja mit etablierten Autoren an und die Gothik war damals sicherlich ziemlich stark vertreten. Ob er zusätzlich die Ergebnisse der Forschung verfolgte, weiß ich nicht.


    Was das Thema "Liebe" betrifft, so waren die Utopisten wahrscheinlich überzeugt, dieses Gefühl sei so universell und unveränderlich, dass sie sich keine andere Situation vorstellen konnten. Und das hat sich seit 1888 auch nicht wirklich geändert, meine ich. Denke nur an die Szene in "Matrix", in der Neo durch die Worte von Trinity gerettet wird: "Because I love you".


    Ich habe bei der Lektüre von "Looking Backward" auch darüber nachgedacht, warum die Figuren sich so "viktorianisch" verhalten. Das trifft aber nur auf die Eltern von Edith zu - und den Besucher selbst natürlich. Edith wird in einigen wenigen Passagen etwas "progressiver" beschrieben. Elektrisiert hat mich ein Satz, in dem Bellamy andeutet, dass Edith dem Besucher ein bisschen wie ein junder Mann vorkommt. Zudem schreibt er in dem Dialog zum Thema "Frauen" auch sehr deutlich darüber, dass die Mädchen und Frauen des 20. Jh. den Werbungssitten des 19. Jh. mit völliger Unverständniss begegnen, sie gänzlich ablehnen und das Objekt ihrer Begierde offen ansprechen.


    Wir dürfen allerdings auch nicht vergessen, dass die Beziehung zwischen Julian und Edith in zweifacher Hinsicht keine "normale" ist. Die offensichtliche Andersartigkeit entsteht nicht nur durch die Tatsache, dass Julian ein Mann aus der Vergangenheit ist, sondern vielmehr durch die Tatsache, dass er der Familie Leete wohlbekannt ist. Ich möchte gerne glauben, dass sich Edith Julian gegenüber gänzlich anders verhält, weil: ACHTUNG SPOILER!
    er ein Verlobter ihrer Urgroßmutter war.


    Daher ist gerade diese Beziehung sehr atypisch für die Zukunftsgesellschaft.


    Anzumerken wäre noch die Tatsache, dass Bellamy wirklich nur ganze fünf Personen in seinem Buch erscheinen läßt: Familie Leete, Julian West und ein namenloser Kellner sind alles, was wir zu lesen bekommen. Ein zutiefst unbefriedigender Zustand angesichts der Kulisse einer solchen Metropole wie Boston...


    P.S.: Hoffe, der Umzug verlief gut? :winken:

    Hallo zusammen,


    ich hab´s versucht. Ich ahnte, dass es nicht leicht sein wird. Mittendrin wollte ich aufgeben. :redface: Ich dachte, schlimmer kann es nicht werden. Und es kam schlimmer.


    Summa summarum: Die Geschichte habe ich einfach nicht verstanden. Wahrscheinlich kam es so, weil mir die oben erwähnten Anspielungen nicht bekannt waren. Nun habe ich ein äußerst zwiespältiges Verhältnis zum Autor und kann nur hoffen, dass die anderen Werke, die ich noch lesen will ("Der goldene Topf" und "Die Elixiere des Teufels") mir nicht ähnlich konfus erscheinen werden. :ohnmacht:

    Etwas Off-Topic, dennoch möchte ich euch fragen, ob ihr vielleicht folgendes Buch kennt:


    Janusz A. Zajdel - "Limes inferior" ?


    Geschrieben in den frühen 80ern des langsam untergehenden sozialistischen Polens, kolportiert zuerst nur von Hand zu Hand und vom Fotokopierer zu Fotokopierer, erschien es schließlich Mitte der 80er auf dem Markt und wurde zu DER "polnischen Dystopie" schlechthin. Der Name des viel zu früh verstorbenen Autors wurde später als Bezeichnung für den wichtigsten polnischen SF-Preis gewählt.

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    Ich hätte mir keine bessere Zeit für diese Lektüre denken können, als die unsere: Die drückenden Probleme der heutigen Gesellschaft, obwohl sicherlich verschieden von denen, die die Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts plagten, erscheinen uns oftmals als unlösbar – Globalisierung, Überalterung und Radikalisierung, um nur die wenigen der zahlreichen „-ungs“ zu nennen, werden uns wohl noch tief in die erste Hälfte des neuen Jahrhunderts beschäftigen – und wahrscheinlich auch darüber hinaus.


    Edward Bellamy (1850 – 1898) setzte sich in seinem Roman „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000“ (unter dem Titel „Looking Backward, 2000 – 1887“ im Jahr 1888 erschienen) mit ähnlich essentiellen Problemen auseinander. Das Buch schlug bei dem nordamerikanischen und europäischen Mittelstand des fin de siecle wie eine Bombe ein und führte schließlich zu der Gründung des Bellamy-Clubs, einer Mischung aus Fanclub und politischer Partei, die nur knapp den Sprung in die Politik der damaligen USA verfehlte.


    Der Autor wählte bewusst die Form einer Science Fiction-Utopie aus. Wie zahlreiche andere Bücher dieser Gattung war sein Werk dazu gedacht, auf die krassen sozialen und politischen Missstände seiner Zeit hinzuweisen und der damaligen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, in dem sie die eigene Hässlichkeit deutlich erkennen konnte. Heutzutage mutet Bellamys Stil und die gewählte Form recht angestaubt an. Viele Lösungen, die er vorgeschlagen hatte, waren bereits für die deutsche Übersetzerin (niemand anderer als Clara Zetkin) völlig absurd. Dennoch beinhaltet das Buch, meiner Meinung nach, genügend interessante und innovative Ideen, um auch heute ernst genommen zu werden.


    Zum Inhalt: Julian West, ein junger Bostoner, hätte eigentlich keinen Grund zum Klagen – er ist dreißig Jahre jung, reich und mit einer schönen und ebenfalls vermögenden Frau verlobt. Wenn da nicht die zahlreichen Streiks wären, die seine Heimatstadt just zu dem Zeitpunkt erschüttern, als er verzweifelt versucht, den Bau seines neuen Hauses voranzutreiben. Ungeduldig zählt West die verstreichende Zeit, die ihn von dem Moment trennt, an dem er seine Angebetete, nun als seine Frau, in die neue Behausung geleiten wird. Seit jeher an einer besonders lästigen Form der Insomnia leidend, schuf sich der junge Mann ein unterirdisches Schlafzimmer, in dem er, von der Außenwelt abgeschottet, auf etwas Ruhe hoffen konnte. Auch an diesem Abend wird er von einem auf Hypnose spezialisierten Arzt in den Schlaf versetzt.


    Nach dem Erwachen stellt West entsetzt fest, dass er sich nicht mehr im Keller seines Hauses befindet. Bald stellt sich heraus, dass er in dem Haus der Familie Leete im Boston des Jahres 2000 zu sich kam. Mr. Leete, ein emeritierter Arzt, berichtet ihm, wie er seinen mesmerisierten Körper in einem Gewölbe gefunden hatte, das rein zufällig während der Bauarbeiten in seinem Garten entdeckt wurde. Anscheinend brannte Wests Haus in jener verhängnisvollen Nacht bis auf die Grundmauern nieder, so dass man ihn für tot erklärt hatte. Fasziniert und entsetzt zugleich, lernt er im Laufe einiger Tage in langen Gesprächen mit dem Doktor, seiner Frau und der Tochter Edith die Realien des Jahres 2000 kennen. Vieles davon lässt uns aus heutiger Perspektive nur noch schmunzeln, einiges lässt den Leser vielleicht grausig erschaudern: Die perfekte Zukunftswelt Bellamys wird von einer zentralisierten und militärisch-straff verwalteten „Arbeiterarmee“ bevölkert – die Armut wurde besiegt, es gibt keine Kriege und keine Klassenunterschiede mehr, die wichtigsten Nationen der Welt sind einer lockeren Union beigetreten.


    Es gibt jedoch Passagen, die ich als sehr gelungen erachte. So zum Beispiel die Beschreibung des ersten Spazierganges des „Zeitreisenden“ durch die Straßen von Boston:


    “Das Bild des alten Boston stand so frisch und lebendig vor meinem Geiste, daß der Anblick der neuen Stadt es nicht zu verdrängen vermochte. Das alte Boston kämpfte mit dem neuen Boston, und bald erschien es mir das eine, bald das andere als die unwirkliche Stadt, die nur in meiner Einbildung bestand. Alles, was ich erblickte, war verwischt wie eine Reihe übereinander photographierter Gesichter.“


    Geschickt gelingt es hier dem Autor, die Klippen einer direkten Beschreibung der Stadt umzugehen, bei der er in unseren Augen nur verlieren könnte, indem er sich konsequent auf die Empfindungen seines Zeitgenossen konzentriert.


    Es ist freilich kaum möglich, solche Griffe anzuwenden, wenn es um die konkrete Beschreibung der utopischen Gesellschaft geht. Bellamy vermeidet glücklicherweise allzu viele Äußerungen, die den heutigen Leser nur noch stören würden, gänzlich vermeiden kann er sie allerdings kaum. Recht genau lässt er in einer Art Kammerspiel, an dem nur Julian West und Familie Leete teilnehmen, die wichtigsten Bereiche des Alltagslebens der fernen Zukunft darlegen: Gesellschaftsstruktur, Soziales, Ausbildung, Arbeitsalltag, Freizeitbeschäftigungen, Handel und Finanzen werden in mehreren Dialogen angesprochen. Stets ist der Besucher aus dem 19. Jahrhundert von dem neuen Wissen begeistert. Im letzten Drittel des Buches bringt Bellamy seine Thesen auf den Punkt:


    “Eine Gesellschaftsordnung, die auf den falsch verstandenen Interessen der Selbstsucht des einzelnen beruhte und an die gesellschaftsfeindlichen und tierischen Instinkte der menschlichen Natur appellierte, ist durch Einrichtungen ersetzt worden, die auf die wahren Interessen einer vernünftigen Selbstlosigkeit der einzelnen begründet sind und die sich an die sozialen und edlen Triebe der Menschen wenden.“


    „Wenn es so einfach wäre!“, seufzt da der moderne Leser. Aber auch, wenn ich Bellamys naive Herangehensweise ablehne, so muss ich ebenfalls aus der Perspektive der inzwischen vergangenen Zeit einige seiner Postulate anerkennend zur Kenntnis nehmen. Besonders hat sich Bellamy beim Thema „Die Rolle der Frau“ hervorgetan. Jahre bevor in den USA auch nur das Wahlrecht für die Frauen eingeführt wurde, schrieb er über sein „USA-Utopia“:


    “Heutzutage äußert keine Frau mehr das Verlangen, lieber ein Mann zu sein, keine Eltern den Wunsch, einen Knaben zu bekommen und nicht ein Mädchen. Unsere Mädchen betätigen ebensoviel Ehrgeiz für ihre Laufbahn wie unsere jungen Männer. Die Ehe bedeutet für sie keine Abschließung, keine Einkerkerung, sie trennt sie in keiner Weise von den großen Interessen der Gesellschaft und dem Leben und Treiben der Welt.“


    Sätze, die auch heute, global gesehen, visionär und weit von ihrer Erfüllung entfernt zu sein scheinen.


    Prophetisch äußert sich Bellamy auch im Kleinen: Er beschreibt unter anderem einige technische Neuentwicklungen, wie zum Beispiel den vernetzten Haushalt, die Kreditkarte sowie… den Radiowecker. Ob beabsichtigt oder nicht, schreibt er Bemerkenswertes über die Freizeitgestaltung der Zukunft:


    “Das Verlangen des römischen Volkes nach „Brot und Spielen“ erkennt man gegenwärtig als vernünftig an. Wenn Brot die erste notwendige Bedingung für unsere Existenz ist, so ist Erholung die nächstfolgende, und die Nation sorgt dafür, daß der einen wie der anderen Rechnung getragen wird.“


    Das Buch kulminiert in der Aufdeckung eines Geheimnisses um die Familie Leete und bietet unerwartet eine letzte Überraschung, die ich jedoch dem geneigten Leser durch ihre Beschreibung nicht nehmen möchte. Das große Thema dieser Utopie ist die menschliche Solidarität als die einzige Möglichkeit zur Behebung der festgefahrenen sozialen Schieflage der Gesellschaft. Daher wendet sich Bellamy schließlich an seine Zeitgenossen und lässt Julian West in einem verzweifelten Monolog den Finger in die Wunden legen:


    “Wißt ihr nicht, daß dicht an euren Türen ungezählte Massen von Männern und Frauen, Fleisch von eurem Fleisch und Bein von eurem Bein, ein Leben führen, das von der Wiege bis zum Grabe nur ein langer Todeskampf ist? Horcht! Ihre Wohnstätten sind ganz nahe. Wenn euer Lachen schweigt, so vernehmt ihr die furchtbaren anklagenden Stimmen: das Jammergeschrei der Kleinen, die am Hungertuch saugend verschmachten; die heiseren Flüche der Männer, die im Elend halb vegetieren und zugrunde gehen; das Feilschen eines Heeres von Weibern, die sich um Brot verkaufen. Womit habt ihr eure Ohren verstopft, daß ihr diese Stimmen nicht hört? In meinem Ohr übertönen sie alles, alles, ich höre nur sie.“


    In meinen Augen der stärkste Teil eines Buches, das nach 118 Jahren vieles an Frische, jedoch nur wenig an Aktualität verloren hat.


    Ich vergebe: 3ratten

    Sorry, falls ich mit meinem Beitrag belehrend klang, Ragle. Das war nicht beabsichtigt. :winken: Doch auf diese Art und Weise bekommt der Leser einige Titel vorgesetzt, die mindestens genauso empfehlenswert sind, wie "1984" es ist.

    Zitat von "Ragle"

    Und da fällt mir gleich eine weitere Empfehlung ein: "Wir" von Evgenij Zamjatin. Das ist whl die erste Dystopie überhaupt, geschrieben 12 Jahre vor SnW und 18 Jahre vor 1984.


    Samjatins "My" (Wir) gehört sicherlich zum SF-Kanon schlechthin, zumal das Buch dermaßen streffend die Verhältnisse in der damaligen Sowjetunion anprangerte, dass es dort bis in die 80er Jahre nicht veröffentlicht werden durfte.
    Allerdings ist es nicht die erste Dystopie überhaupt. Die älteste, die mir bekannt ist, wäre "The Machine Stops" von Edward M. Forster, erschienen 1908. Vielleicht gibt es sogar Älteres.

    Zitat von "Bartlebooth"

    Du wirst dich also doch noch ein bisschen vorwagen müssen, wenn wir diese These diskutieren sollen.


    Das habe ich auch befürchtet ... :traurig:


    Zitat von "Bartlebooth"


    Neologismen können unmöglich als Kriterium für SF herhalten, sie sind ein völlig gängiges dichterisches Mittel. 7/8 aller Lyrik würde mit diesem Kriterium zur SF.


    Das stimmt natürlich, aber ich wollte das auch in so verkürzten Form nicht behaupten. Die Erschaffung von Neologismen und fiktiven Worten war in der Argumentation von Angenot nur der absolute Einstieg, damit auch der "normale" Leser versteht, worum es ihm geht. Nun muss ich nochmal in seinem Essay nachlesen, was die Stufe II wäre.

    Zitat von "sandhofer"


    Drehen wir uns da nicht irgendwie im Kreis? Ich verstehe jetzt "SF ist, was wie SF klingt" - aber die Frage ist meines Dafürhaltens, warum etwas wie SF klingt.


    Ich dachte, genau diese Frage beantwortet Angenot. Es sind weniger die Themen, als die Struktur, die das Genre heute definieren. Ich sehe es allerdings keineswegs als ein unverrückbares Axiom. Die Gewichtung zwischen "Thema" und "Struktur" scheint sich allerdings immer mehr in Richtung des zweiten Begriffes zu verschieben.


    Die eigentliche Frage lautet auch: "Wieviel "Science" braucht diese "Fiction"?" Und die Antwort wäre: Fast gar keins, denn auch solche Social Fiction ist denkbar. Man denke nur an alternative Geschichten a la "die Nazis haben den II Weltkrieg und die Südstaatler den Bürgekrieg gewonnen". Es gibt sogar, glaube ich, entsprechendes Werk von Ph. K. Dick. Entscheidend wäre, DASS überhaupt der Versuch einer solchen Erklärung unternommen wird.