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Ich habe die Ur-Pippi natürlich im gleichnamigen schwedischen Original gelesen.
Es handelt sich dabei um das Manuskript, das Astrid Lindgren für ihre Tochter zu deren zehntem Geburtstag geschrieben und mit einer eigenen Zeichnung von Pippi auf dem Titelblatt verziert hatte. Für diese war Pippi damals schon eine alte Bekannte, denn ihre Mutter hatte ihr in den vergangenen zwei Jahren viele Gute-Nacht-Geschichten über Pippi erzählt.
Selbiges Manuskript schickte Astrid Lindgren auch zu Bonniers, dem größten schwedischen Verlag, der es aber nach einigem Überlegen zurückwies, was allgemein als die größte Fehlentscheidung des schwedischen Verlagswesens bezeichnet wird. Lindgren überarbeitete dann das Manuskript und schickte es Rabén&Sjögren, die das Buch bekanntermaßen veröffentlichten.
In den Siebzigern schrieb die Literaturwissenschaftlerin Ulla Lundqvist ihre Doktorarbeit über Pippi Langstrumpf und Astrid Lindgren lieh ihr dazu auch ihr erstes Manuskript, das zwar in die Doktorarbeit einfloss, aber erst 2007 zu Lindgrens hundertstem Geburtstag veröffentlicht wurde. Lundqvist schrieb dazu einen vierzigseitigen Kommentar, in dem sie die Unterschiede zwischen Ur-Pippi und der endgültigen Fassung analysiert.
Parallel zur Ur-Pippi habe ich die endgültige Fassung gelesen und eifrig verglichen.
Sehr viel ist wortwörtlich gleich geblieben, einiges aber auch geändert worden. Manchmal wurden nur einzelne Wörter ausgetauscht. Manchmal Sätze oder Absätze hinzugefügt oder gestrichen. Die größte Änderung betrifft das 2. Kapitel. Die "Sachensucher"-Episode gab es in der Ur-Pippi überhaupt nicht und auch der Konflikt mit dem Bösewicht Bengt, der zusammen mit 4 Kameraden einen kleinen Jungen verprügelt, sah ziemlich anders aus. Abgesehen davon, dass Bengt Ove hieß, griff er Pippi direkt an und ärgerte sie wegen ihrer roten Haare und riesigen Schuhe (in der Endfassung auch enthalten), aber Pippi trat eben nicht als Verteidigerin eines Schwächeren auf. Nachdem sie Ove dann erledigt hatte, rannte der zu seinem Vater, der auch nicht netter als sein Sohn war, und dann seinerseits Pippi verprügeln wollte, was ihm aber natürlich nicht gelang.
Bei vielen Änderungen muss ich sagen, dass sie meiner Meinung nach gerechtfertigt waren und das Buch zu einem besseren machten. Nur bei einzelnen frechen Repliken Pippis und ein paar weiteren Szenen, die gestrichen oder geändert wurden, finde ich es schade, dass sie verschwunden sind. Aber es sind ja genug Frechheiten übrig geblieben!
Auch ein paar Hinweise auf Bier und Schnupftabak sowie auf Körperausscheidungen sind verschwunden. Ulla Lundqvist vertritt im Nachwort die Meinung, dass diese Streichungen dem Zeitgeist (Mitte der 40er) zu "verdanken" sind, der solcherlei Dinge gerade in Kinderbüchern nicht zuließ. Sie führt einige Beispiele auf, wie aus der "Ur-Pippi" gestrichene Sachen in Lindgrens späteren Büchern auftauchen.
Pippi in der Endfassung ist eine "rundere" Person und wird besser eingeführt. Vor allem bekommt sie durch die Absätze über ihre Mutter im Himmel und ihren Vater, den Negerkönig eine bessere Verankerung in der Welt. Außerdem ist sie netter und empathischer geworden. Weniger frech ist sie auch, gerade gegenüber Erwachsenen, wobei sie aber auch in der Endfassung noch genug Grenzen übertritt und damit reichlich Aufsehen erregte und Kritik erhielt. Wie die Reaktion auf eine unveränderte Ur-Pippi gelautet hätte, möchte ich mir gar nicht vorstellen!
An Tommy und Annika wurde kaum was verändert; nur Pippis erste Bezeichnung der beiden "små rutiga barn" ("kleine, karierte Kinder") wurde gestrichen. In ihrem Nachwort schreibt die Literaturwissenschaftlerin, dass man nur raten kann, was Lindgren mit diesem Ausdruck meinte und wie sie auf ihn kam, aber ich musste natürlich sofort an das deutsche "kleinkariert" denken. Lindgren sprach gut Deutsch (ich habe im Radio mal ein deutsches Interview mit ihr gehört) und es könnte gut sein, dass sie den Ausdruck irgendwann aufgeschnappt hatte und dann auf Schwedisch benutzte. Aber wie gesagt ist er in der Endfassung verschwunden, genauso wie an mehreren Stellen der Ausdruck "die lieben, kleinen Kinder", ebenfalls auf Tommy Annika bezogen, wodurch eine gewisse Abstandshaltung und Herablassung ihnen gegenüber entstanden war, die später weggenommen wurde. Schon interessant, was Kleinigkeiten ausmachen!
Gestrichen wurden auch die meisten (Unsinns-)Gedichte, die mal mehr, mal weniger gut gelungen waren. Um dieses Gedicht ist es meiner Meinung nach besonders schade:
ZitatAlles anzeigen
Jag haver en syssling
vid namn Olle Kvissling,
nu har han fått mässling,
oj oj oj oj!
Min syssling har mässling,
min myssling har sässling,
Olle Kvyssling har myssling,
oj oj oj oj!
Min kvässling har syssling,
min mässling har sässling,
min myssling har kvyssling,
oj oj oj oj!(Ich habe einen Vetter
namens Olle Kvissling
der hat Masern bekommen.)
Lest es einfach mal laut und guckt, ob ihr euch dafür genauso begeistern könnt wie ich.
Insgesamt kann ich guten Gewissens sagen, dass sich die Lektüre der Ur-Pippi gelohnt hat. Besonders ein Vergleich mit der Endfassung ist interessant, und wenn man die beiden Bücher nicht wie ich parallel lesen möchte, so gibt das sehr informative und gut geschriebene Nachwort von Ulla Lundqvist genug Information über die Unterschiede.
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