Thomas Glavinic - Der Kameramörder

Es gibt 9 Antworten in diesem Thema, welches 15.763 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

  • Huhu, ihr Lieben!


    Ich habe es gewagt, mich ziemlich weit aus meinem gewohnten Genre-Fenster hinauszulehnen und endlich mal etwas vom Österreicher Thomas Glavinic gelesen, von dem mir alle in letzter Zeit nur noch vorschwärmen.


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    Inhalt:
    Das erschütternde Protokoll eines für die Medien arrangierten Doppelmordes und ein ebenso verstörender wie atemberaubender Kriminalroman über die gefährliche Macht des Fernsehens und die Abscheulichkeit von Reality- TV.
    »Ich wurde gebeten, alles aufzuschreiben.« Mit diesem Satz beginnt der Ich-Erzähler seinen Bericht über ein Osterwochenende, an dem er und seine Lebensgefährtin ein befreundetes Paar in der Steiermark besuchen. Während die Medien minutiös über einen am Karfreitag begangenen Doppelmord an zwei Kindern berichten, den der Mörder mit einer Videokamera aufgenommen haben soll, pendeln die vier Freunde zwischen Fernseher und Kartenspiel, Küche und Gesprächen hin und her. Angewidert und zugleich voller Lust an der Sensation, kommentieren sie das Vorgehen der Medien. Draußen, in der »wirklichen« Welt, wird unterdessen fieberhaft nach dem Mörder gesucht.


    Meine Meinung.
    Was mir als erstes aufgefallen ist, war die seltsame Erzählweise. Der Ich-Erzähler spricht teilweise sehr hochgestochen und ausschließlich im Passiv. Es kommt keine einzgie direkte Rede in diesem Buch vor und seine Lebensgefährtin Sonja nennt er auch nur "meine Lebensgefährtin". Das ist einerseits seltsam und lässt den Leser keine so richtig enge Verbindung zum Erzähler aufbauen, andererseits aber auch furchtbar interessant. :breitgrins:
    Der grausame Doppelmord kommt gleich zu Anfang der Geschichte ins Gespräch. In den Medien ist das Thema dauerpräsent. Ein Mann zwang vor laufender Kamera zwei kleine Jungen zum Selbstmord, indem er sie zwingt auf einen Baum zu klettern und herunterzuspringen. :entsetzt:


    Das Schlimme an diesem Buch ist aber nicht nur die Beschreibung der Morde, sondern vor allem das Sich-Ertappt-Fühlen. Als die Diskussion im Buch etwa dahin führt, dass ein deutscher TV-Sender das tatsächliche Mordvideo zeigen will und vor dem Sendergebäude Demonstrationen stattfinden, habe ich mich dabei erwischt, wie ich mit mir selbst streite, ob es nun moralisch vertretbar sei so etwas zu zeigen. Einerseits gilt es ja, den Täter (auch mithilfe der Stimme auf dem Video) zu identifizieren, andererseits kann man so etwas einfach nicht im Fernsehen zeigen.
    Genau das war wohl auch Thomas Glavinic' Ziel beim Schreiben dieses Romans. Ich mochte, dass verschiedene Charaktere verschieden über dieses Thema denken. So findet man auf jeden Fall immer einen, mit dessen Meinung man übereinstimmt.


    Ein kurzes (156 Seiten) Buch, das erstmal ziemlich viel Grauen enthält und bei mir noch stark nachringt. Von diesem Autor werde ich definitiv noch mehr lesen, denn ich glaube, er ist eines dieser Talente, das es schafft auf wenigen Seiten ganz viel Nachdenken beim Leser zu erzeugen.


    4ratten


    Liebe Grüße,
    Wendy

    Jahresziel: 2/52<br />SLW 2018: 1/10<br />Mein Blog

  • Wow, das klingt echt spannend... und irgendwie ein wenig anders als das, was ich sonst lese! Glaube, ich werde das auch mal lesen, um zu gucken, ob's mir liegt. Danke :smile:

  • Ich hab gestern gesehen, dass das Buch sogar verfilmt wurde. Auf der Homepage des Films kann man sich den Trailer ansehen. Der wirkt zwar, als wäre einiges dazugedichtet worden, damit die Geschichte auch einen ganzen Film ausfüllt, sieht aber gar nicht so schlecht aus. Steht auf jeden Fall auf meiner Anzusehen-Liste.
    Dabei handelt es sich - lt. imdb - um eine österreich-ungarisch-schweizerische Kooperation. Der Film scheint auch in Ungarn zu spielen. Zumindest reden die da zwischendurch eine Sprache, die ich so dermaßen nicht verstehe, dass es durchaus ungarisch sein könnte. :breitgrins: Es gibt auch einen Link zu youtube-Videos vom Film, da kann man sich ein paar Szenen ansehen. Ich muss mal schaun, wo ich den Film am besten herkriege. *hibbel*

    Jahresziel: 2/52<br />SLW 2018: 1/10<br />Mein Blog

  • Meine Meinung
    Der Kameramörder ist ein sehr bedrückendes Buch. Der Mord an den beiden Jungen ist an sich schon schrecklich genug, und dass die Fernsehzuschauer und der Leser nach und nach die Tat erleben dürfen, ist noch einmal eine Steigerung. Interessant finde ich, dass sowohl die Lebensgefährtin als auch die Partnerin des Freundes die Übertragung zunächst verweigern, dass aber die Neugier später doch siegt. Würde ich mich ähnlich verhalten? Ich kann aber auch den Einwand eines der beiden Männer verstehen der sagt, dass andere schreckliche Dinge, die weiter weg von Zuhause passieren, die Menschen viel weniger belasten als diese Tat.


    Die Erzählweise mochte ich zuerst überhaupt nicht. Sie war umständlich und unpersönlich. Der Erzähler wirkte auf mich sehr arrogant, weil er immer auf die Fehler der anderen hingewiesen hat, selbst anscheinend aber alles richtig zu machen schien. Im Verlauf der Erzählung habe ich mir immer mehr überlegt, was für ein Mensch er wohl ist. Sympathisch war er mir allerdings nie, wie keiner der vier Freunde.


    Mir geht es wie Wendy: das Buch wirkt immer noch nach bei mir.
    4ratten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Das Buch ist bedrückend. Und zwar nicht nur wegen des Themas. Sondern auch, weil sowas einen Krimipreis bekommen hat. Meine Rezension dazu kocht gerade vor Wut :grmpf:


    Wirklich gelesen habe ich nur bis Seite 59 und dann war's im Prinzip schon erledigt. Weil :grmpf: :grmpf: :grmpf: :krank:

    ☞Schreibtisch-Aufräumerin ☞Chief Blog Officer bei Bleisatz ☞Regenbogen-Finderin ☞immer auf dem #Lesesofa


  • Ich hab gestern gesehen, dass das Buch sogar verfilmt wurde. Auf der Homepage des Films kann man sich den Trailer ansehen. Der wirkt zwar, als wäre einiges dazugedichtet worden, damit die Geschichte auch einen ganzen Film ausfüllt, sieht aber gar nicht so schlecht aus. Steht auf jeden Fall auf meiner Anzusehen-Liste.
    Dabei handelt es sich - lt. imdb - um eine österreich-ungarisch-schweizerische Kooperation. Der Film scheint auch in Ungarn zu spielen. Zumindest reden die da zwischendurch eine Sprache, die ich so dermaßen nicht verstehe, dass es durchaus ungarisch sein könnte. :breitgrins: Es gibt auch einen Link zu youtube-Videos vom Film, da kann man sich ein paar Szenen ansehen. Ich muss mal schaun, wo ich den Film am besten herkriege. *hibbel*


    Ich habe Buch und Film in einer Hausarbeit miteinander verglichen. Den Film mag ich nicht besonders, was unter anderem daran liegt, dass Schwerpunkte verschoben wurden.
    Das Voyeuristische und perverse des Mordvideos stehen eher im Hintergrund, während die Bedrohung des Täters viel direkter ist. Im Film ahnt man auch relativ schnell, wer der Mörder ist. Im Buch hingegen war ich am Ende sehr überrascht.

  • Ich habe den Roman völlig anders wahrgenommen und bin nach dem sacken lassen noch weniger begeistert.


    Meine Eindrücke
    „Ich wurde gebeten, alles aufzuschreiben.“ Ein ganzes Buch lang werden wir den Namen des Erzählers nicht erfahren, der aus seiner Perspektive ein Osterwochenende bei Freunden schildert. Überschattet wird der Aufenthalt durch den Mord an zwei kleinen Kindern am Karfreitag, geschehen ganz in der Nähe. Bereits der perfide Mord gibt den zwei befreundeten Paaren ausreichend Gesprächsstoff über den unsäglichen Charakter des Täters. Kurz darauf erfahren sie nicht nur, dass der Täter seine Tat gefilmt hat und die Aufnahmen gefunden worden sind. Ein deutscher Privatsender will die Bänder sogar im Fernsehen zeigen.


    Über weite Strecken spannt sich die Geschichte um die Frage, ob das Fernsehen überhaupt solche Bänder zeigen darf und ob man sich diese Aufnahmen ansehen soll. Während Gastgeber Heinrich von sämtlichen Sondersendungen zu diesem Fall ungeniert begeistert ist, stößt er bei den Frauen auf Kritik. Wenngleich sie sich selber später teilweise an der kombinierten Medienschau von Fernsehen, Teletext und Radio beteiligen, ist ihnen Heinrichs Spott sicher. Der Erzähler zeigt sich eher als Mitläufer. Zugleich wird die Wochenendgesellschaft belastet von der Bedrückung und Fassungslosigkeit, die von der sehr bösartigen Mordmethode ausgeht und dem Versuch, das Geschehen zu begreifen. Kann man das überhaupt? Und wenn ja, helfen Bilder, das kollektive Gespräch oder Wut?


    Die kleine Gesellschaft setzt sich im späteren Verlauf auch mit der Frage auseinander, wie die Menschen auf Verdächtige reagieren und wem man solche Taten überhaupt zutraut. Reflexartig werden die Einheimischen verteidigt - auch bei den Einwohnern der betroffenen Region läuft das so. Dass die Festnahme eines jungen Mannes aus der Nachbarschaft nur ein Irrtum gewesen sein kann, steht nach dessen Freilassung außer Frage (dass man ihm vorher übelste Strafen verordnen wollte, wird gnädig verschwiegen).


    Der Erzählstil gerät sehr distanziert, da der Erzähler einen von Dritten verlangten Bericht abliefert. Das Bürokratendeutsch, in der er sich versteigt, ist mühsam zu lesen. Zwischendurch „verfügt sich jemand zur Toilette“ und über eine Hausdurchsuchung klingt der Bericht zum Beispiel so: „Mir als letztem oblag die Aufgabe, die Luke zum Dachboden zu schließen und mittels eines metallenen Riegels zu versperren. Ich entledigte mich ihrer ungesäumt.“ Später gibt es Essen: „In der Küche entnahm meine Lebensgefährtin einem Kästchen ein ca. 100 cm langes und 50 cm breites Tablett." Das ist mehr als holprig, geht aber das ganze Buch über so.


    Ein Krimi ist das Buch nicht. Was einen Krimi ausmacht, fehlt hier völlig. Es gibt keine Ermittlungen, keine Fährten, kein Rätsel, keine Täterprofile und keinerlei Überlegungen zum Motiv. Es könnte ein lang geratenes Essay über Moral und Sensationsgier geworden sein, das vielleicht einem realen Anlass entsprungen ist. Als solches gibt es viel eher einen Sinn, aber lesen muss man es dennoch nicht. Denn es gibt ein grundlegenderes Problem.


    Eigentlich stellt der Roman eine interessante Frage zur Abwägung von Sensationslust, Begreifen und Schockverarbeitung. Aber damit stellt sich das Buch selbst ein Bein - oder dem Leser eine Falle. Je nachdem, wie man zu der Frage steht, muss man das Buch nach einem Drittel schon wieder zur Bibliothek zurück tragen. Denn ab Seite 59 bekommt man die ganzen Szenen geschildert, die das Fernsehen aus dem Mitschnitt des Mordes gesendet hat. Dessen Zusammenfassung, die als Beschreibung einer vorhergehenden Nachrichtensendung auf Seite 42 gegeben wird, genügt eigentlich schon völlig, um sich als Fernsehzuschauer bzw. Leser gleichermaßen darüber im Klaren zu sein, dass man sich die Sondersendung, respektive die Lektüre darüber, sparen sollte. Für mich hatte sich das Buch an dieser Stelle bereits erledigt; was ich im Fernsehen ablehne, brauche ich im Buch genauso wenig. Zwar ist das Werk Fiktion, aber es macht sich durch die Spiegelung der Sensationsgierr zu genau dem, was es anprangert. Zu einem Experiment, wie weit der Leser beim Lesen geht mit dem, worüber er beim Fernsehkonsum nachdenken soll.


    Ab Seite 59 hieß es dann Querlesen, blättern, blättern, mal für ein paar Wörter lang gucken, wann das Grauen zu Ende ist, blättern, blättern, und prüfen, ob die Geschichte irgendwo als Geschichte weiter geht. Blättern, blättern. Wird ein Mörder gesucht oder nicht? Oder bleibt es bei dieser grausamen Vorführung? Kriegt man ein Buch oder bleibt es bei Voyeurismus, der in Papierform verkauft wird? Blättern, blättern. Es geht irgendwann weiter. Irgendwie jedenfalls.


    Ich habe ab dieser Seite 59 auf keiner Seite mehr mehr als ein paar Wörter aufgeschnappt, um gerade noch so herauszufinden, ob aus dem angekündigten Krimi noch ein Krimi wird. Oder ob mir weiter zugemutet wird, dass ich zwei fiesen Morden minutiös beiwohne. Ganz hinten im Buch sucht die Polizei tatsächlich und wird am Ende auch jemanden festnehmen. Die Antworten auf die wichtigen Fragen zur Tat, zum Täter und Motiv aber wird das Buch schuldig bleiben. Wie gesagt, mit einem Krimi haben wir es hier nicht zu tun. Das Buch endet, streng genommen, mit einer neuen Frage. Abgesehen von der, die der Autor stellt, stelle ich mir die Frage, warum das Buch einen Krimipreis bekommen hat. Scheint, als hätten sich die Juroren zu Voyeuren machen lassen und es gar nicht gemerkt.


    Wer über die irren Auswüchse einer von Fernsehgier bestimmten Welt lesen will, den verweise ich zum Beispiel besser an Bernhard Jaumann und seinen Roman „Die Augen der Medusa“.


    1ratten

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  • „In der Küche entnahm meine Lebensgefährtin einem Kästchen ein ca. 100 cm langes und 50 cm breites Tablett."


    Wenn da so ein Riesending reinpasst, ist es kein Kästchen mehr!


    Das klingt ja grauenvoll. Und schade um das eigentlich spannende Thema.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich persönlich habe das Buch tatsächlich als grauenvoll wahrgenommen. Aber da Spalten sich die Geister ja ziemlich. Nicht nur hier im Thread. Glavinic hat für das Buch 2002 den Glauser Krimipreis bekommen. Wenn das Thema interessant erscheint, musst Du Dir ggf. Noch andere Stimmen suchen.


    Aber mich schüttelt's. Ich finde, das Buch geht zu weit.

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  • Ich persönlich habe das Buch tatsächlich als grauenvoll wahrgenommen. Aber da Spalten sich die Geister ja ziemlich. Nicht nur hier im Thread. Glavinic hat für das Buch 2002 den Glauser Krimipreis bekommen. Wenn das Thema interessant erscheint, musst Du Dir ggf. Noch andere Stimmen suchen.


    Die Zitate haben mir schon gereicht, ich glaube, mit diesem Stil könnte ich mich nicht über ein ganzes Buch hinweg anfreunden. Das Zitat mit dem Tablett erinnert mich an meine ersten Geschichten-Schreibversuche zu Beginn des Gymnasiums :redface:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen