Tom Perrotta - The Abstinence Teacher

Es gibt 35 Antworten in diesem Thema, welches 6.457 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

  • Erneutes Augenrollen hat bei mir eine Szene im Gottesdienst des "Tabernacle" hervorgerufen. Pastor Dennis taucht völlig zerrupft auf, nachdem er eine natürlich nicht-christliche (also im Tabernacle-Sinn) Hochzeit besucht hat. Dort hat er erst von einem Gast auf die Nase bekommen, weil er gegen dessen Schwärmerei über ein Pornosternchen gewettert hat, und ihn am Ende tatsächlich bekehrt. Hm, ob das tatsächlich da drüben so einfach funktioniert? Hierzulande hätte ich gewaltige Zweifel!


    Ruth hat sich inzwischen auf die Fahnen geschrieben, gegen Tims Gebet nach dem Spiel ähnlich Sturm zu laufen, wie man gegen ihre Aussage im Unterricht Sturm gelaufen ist, aber sogar die Eltern von Maggies Mannschaftskameradinnen, mit deren Unterstützung sie dabei gerechnet hätte, geben sich zurückhaltend bis ablehnend. Dumm auch, dass selbst ausgiebigstes Studium des Regelwerks des Fußballvereins kein echtes Argument liefert, mit dem Ruth ihrem Anliegen wirklich Gewicht verleihen könnte. Irgendwie verrennt sie sich da meiner Meinung nach ein wenig und ist genauso fanatisch wie die Tabernacle-Leute. Und ihre Tochter ist natürlich stinksauer wegen des peinlichen öffentlichen Auftritts.


    Als Tim das Gespräch mit Ruth sucht, findet sie ihn gar nicht mal so unsympathisch. Bin gespannt, wohin das noch führen wird.


    Und ich hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Eliza, Ruths ältere Tochter, plötzlich gesteht, dass sie an Gott glaubt und es bisher nicht zuzugeben gewagt hat, weil sie fürchtete, sie bekäme deshalb Ärger. Verkehrte Welt irgendwie ... in meinem Umfeld gab es eher Stress mit den Eltern, wenn man nicht mit in die Kirche wollte.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Sodele, nach einer Dienstreisepause bin ich wieder am Ball :smile:


    Ruth, die sich immer noch reichlich einsam fühlt, hat über ein Internetportal den Nachbarsjungen von früher wiedergefunden, mit dem sie ihr erstes Mal hatte, eine interessante Begegnung, die etwas anders verlaufen ist als geplant. Und aufgrund einer kritischen Bemerkung zu dem Infomaterial, das sie vorschriftsgemäß im Unterricht verwenden muss, ist sie zu einer Extrastunde bei der "Abstinenzlehrerin" verdonnert worden, gemeinsam mit drei anderen Lehrern aus anderen Schulen :vogelzeigen: Das grenzt ja schon an Indoktrination, was da vor sich geht. Und diese widerlich perfekte JoAnn geht mir gewaltig auf den Wecker. Voreheliche Keuschheit ist offenbar ihr Religionsersatz, und sie missioniert mit allergrößtem Eifer (aber zumindest in dieser Runde mit mäßigem Erfolg). Ich frage mich, ob der Autor hier doch ein wenig übertreibt, als die "Delinquenten" Aufsätze über ihr schlimmstes sexuelles Erlebnis schreiben und vorlesen müssen und JoAnn selbstherrliche Kommentare dazu zum Besten gibt.


    Tim hat sich entschieden, beim nächsten Fußballspiel auf das Gebet mit der Mannschaft zu verzichten, doch sein Co-Trainer, ebenfalls Tabernacle-Mitglied, versucht ihn mit allen Mitteln umzustimmen und ergreift schließlich selbst die Initiative. Schließlich muss man ja jede Gelegenheit nutzen, das Seelenheil der Kinder zu retten.


    Währenddessen wird in beiden Erzählperspektiven eine gewisse Anziehung spürbar, die Ruth und Tim aufeinander ausüben. Bin mal gespannt, wie sich das noch entwickelt und wie ich das finde ...

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich bin inzwischen fertig und habe auch das Nachwort gelesen, in dem Perrotta erklärt, dass er diesen "Nachhilfeunterricht" erfunden hat. Aber wundern täte es mich auch nicht, wenn es sowas wirklich gäbe. Die Links zur christlichen Reizwäsche waren auch dabei, aber ich habe sie noch nicht getestet :breitgrins:


    Den Schluss fand ich recht gelungen, wenngleich ich gerne noch ein bisschen mehr von Ruth und Tim erfahren hätte. Aber dieses offene Ende hat mir trotzdem gefallen, da kann man so schön noch etwas weiterspekulieren.


    Krass war dieser Gläubige-Männer-Kongress, auf dem Tim mit den anderen Tabernacle-Männern war. Uah, ist das gruselig ... mit dieser Art von Christentum kann ich ja mal gar nichts anfangen.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Das kann ich mir vorstellen!


    Mich graust einfach dieses "gleichgeschaltete" Denken, von oben verordnet, bei dem bloß keiner aus der Reihe tanzen soll ... und das, wo Glaube für mich eher etwas Persönliches ist, das jeder auf seine Art und Weise auslebt. Gut, sicher gibt es auch Leute, denen die Zusammengehörigkeit gefällt und das Nicht-selber-denken-Müssen.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich hab grad ein total spannendes Seminar über die Frage in wie weit Marketing und Megachurches in den USA nicht bestimmen ähnlichen Mustern folgen. und Marketingstrategien auch benutzt werden. Wenn man dann sieht welche Kirchen (auch hier in Deutschland - Stichwort Gospel Forum in Stuttgart als ein Bsp) in den USA am meisten Zulauf haben und man dann schaut was dort zum Teil angeboten wird - wundert mich gar nicht mehr das dort der Zulauf dann enorm ist. Und grade in dem Spektrum hab ich bisher eben solche Kirchen wie im Roman beschrieben kennengelernt - nicht nur, aber es fällt schon auch auf.

  • Das krasse ist ja das dann auch suggeriert wird, man würde frei denken und frei entscheiden. Es ist den meisten gar nicht bewusst das sie sich dabei in einem bestimmten Rahmen bewegen den sie dabei nie verlassen.
    Das ist ungefair so wie ich unbewusst immer eine Markenbutter kaufe, ohne es damit in Verbindung zu bringen, das ich gerade diese Butter ständig in der Werbung gesehen habe.


    Für mich ist halt Glaube an eine wie auch immer geartete vorgestellte übermenschlichte Instanz (wie auch immer die gestaltet ist - und ja jetzt bin ich doch wieder ganz Religionswissenschaftler *gg* wird langsam schlimmer :lachen: ) auch persönlich erstmal schwierig weil ich selbst eben absolut nicht an so etwas glaube. An den christlichen Gott jedenfalls definitiv nicht (und bisher auch nicht an andere Möglichkeiten die es sonst noch so gäbe - aber naja Yoga find ich dann trotzdem nicht schlecht *gg*)

  • Ich finde, unter anderem dieser Aspekt macht dieses Buch so lesenswert, weil Perrotta beide Seiten zu Wort kommen lässt, so unterschiedlich und extrem sie auch sind.


    Das macht er nicht nur in diesem Buch, sondern auch sehr schön in Little children :winken: Mir gefällt es, wenn ein Autor alle seine Charaktere zu Wort kommen läßt. Deshalb habe ich mir The abstinence teacher auch notiert.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Das war sicher nicht mein letztes Buch von ihm. Eins habe ich eh noch auf dem SUB (wobei mir der Titel gerade nicht einfällt), aber auch die anderen Sachen klingen sehr interessant.


    Die Parallelen zwischen Marketing und der Vorgehensweise in diesen US-Kirchen sind tatsächlich nicht zu übersehen, wenn man mal genauer hinschaut. Danke, Holden! Ich wusste auch nicht, dass es hierzulande auch solche komischen Vereine gibt :entsetzt: Wobei ich auch schon (wenngleich flüchtig) junge Baptisten kennengelernt habe, die es mit der vorehelichen Keuschheit und überhaupt mit ihrem Glauben sehr genau nahmen. Die eine war Auszubildende bei uns und mit 19 verheiratet. Ähmtja.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Valentine
    Nimmt auch hier immer mehr zu. Grad auch so kreationistische Denkweisen verbreiten sich von den USA aus nach Europa. Da stehn mir die Haare zu Berge.
    Ich hab auch vor endlich mal ein weiteres Buch von Perrotta zu lesen. Election interessiert mich momentan am meisten *g*

  • Ich glaube, ich muss mir das Buch auch notieren. Ich interessiere mich ja sowieso für Glaubensfragen und hier scheint die Darstellung der verschiedenen Ansichten ja gelungen.

    Wir sind irre, also lesen wir!


  • Ich interessiere mich ja sowieso für Glaubensfragen und hier scheint die Darstellung der verschiedenen Ansichten ja gelungen.


    Auf jeden Fall! Tim ist zwar unterm Strich kein ganz typischer Vertreter für diese Art von Glaubensgemeinschaft, aber trotzdem kamen beide Seiten glaubwürdig und sogar sympathisch rüber.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Es war eigentlich nur eine Randbemerkung im Aufklärungsunterricht, doch auf einmal findet sich Ruth Ramsey mitten im Kreuzfeuer der Kritik wieder. Die Lehrerin an einer US-Highschool hat es tatsächlich gewagt zu sagen, dass manche Leute Oralverkehr mögen! Eine Menge konservativer Eltern läuft Sturm, ein Elternpaar droht gar, die Schule zu verklagen. Also bleibt Ruth nichts weiter übrig, als öffentlich zu Kreuze zu kriechen und sich der Entscheidung der Schulleitung zu beugen, dass künftig Sexualkunde nach dem Lehrplan einer christlichen Organisation unterrichtet wird und eine Sprecherin dieses Vereins vor der ganzen Schule für Abstinenz werben soll.


    Wenig später kommt es wieder zu einem Eklat mit Ruths Beteiligung, doch diesmal ist sie diejenige, die sich beklagt: Tim, der Fußballtrainer ihrer Tochter, hat mit seiner Mannschaft nach einem knapp gewonnenen Spiel spontan gebetet. Ruth empfindet das als übergriffig und missionarisch, stürmt wütend aufs Feld und stellt den Trainer zur Rede. Dass Tim dem "Tabernacle" angehört, jener rechtskonservativen Kirche, deren Anhänger Ruth das Leben nach dem Skandälchen so schwer gemacht haben, trägt natürlich noch sein Übriges dazu bei, dass Ruth die Wände hochgeht.


    Tim ist seinerseits nicht schon immer beim Tabernacle gewesen, sondern hat ein ausschweifendes Musikerleben hinter sich. Erst mit Hilfe der Kirche gelang es ihm, sich von Alkohol und Drogen freizumachen und auf ganzer Linie von vorn zu beginnen - neuer Job, neue Ehe, Ehrenamt als Trainer und Engagement im Tabernacle. Doch ganz allmählich schleichen sich leise Zweifel ein, ob er sich in dieser Glaubensgemeinschaft eigentlich wirklich wohlfühlt.


    Tom Perrotta legt hier einen ausgezeichneten Roman über die amerikanische Gesellschaft vor. Geschickt stellt er mit Ruth und Tim zwei Extreme gegenüber - die liberale Freidenkerin Ruth, der alle organisierte Religion ein Greuel und sexuelle Freiheit ein wichtiges Anliegen ist, und der geläuterte Alkoholiker Tim, der sich nun innerhalb der engen Grenzen einer evangelikalen Kirche bewegt und exemplarisch für die US-typischen "Megachurches" steht - und schafft dabei das Kunststück, dass man beide irgendwie sympathisch und ihre Handlungen nachvollziehbar findet, auch wenn ich weder mit ihm noch mit ihr in allem konform gehen konnte. Dafür war mir Tims Glaube an seine Kirche zu unreflektiert, und Ruths Ablehnung jeglicher religiöser Praktik erschien mir genauso fanatisch wie die Abstinenzpredigten der Vorzeigejungfrau, die in der Schule Vorträge gegen vorehelichen Sex hält.


    Das Buch ist aber kein trockenes Lehrstück, sondern lebt von seinen authentischen Protagonisten und dem leisen ironischen Humor, der sich immer wieder Bahn bricht. Hier und da gibt es ein paar satirische Übertreibungen, aber wie ich im höchst informativen Anhang feststellen konnte, gehörten die christlichen Sexratgeber und Dessouswebsites nicht dazu. Der verbohrte Konservatismus des Tabernacle hat mir ein paarmal wirklich das Messer in der Tasche aufgehen lassen, aber ich fürchte, da hat Perrotta nicht oder nur wenig übertrieben.


    Der eher offene Schluss hat mich zunächst ein wenig enttäuscht zurückgelassen, weil ich gerne noch mehr von Ruth, Tim, ihren Familien und von Ruths schwulem Freundespärchen gelesen hätte, aber letztendlich fand ich ihn auch nicht unpassend.


    Der schon erwähnte Anhang rundet das Buch mit einem Autoreninterview, weiteren Informationen und ein paar Literaturtips zum Thema ab.


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Meine Meinung

    Ich habe gerade mal 25 Seiten gelesen und schon "so nen Hals". Ich mag kaum glauben, dass es solche Leute gibt, aber nach dem, was ich aus seriösen Quellen über die USA weiß, fürchte ich, dass in dem Buch mehr Realitätsnähe steckt, als mir lieb ist.

    Du sprichst mir aus dem Herzen. Wobei man die Geschichte durchaus auch hierher verlagern kann. Und gerade das, was Ruth an ihrem Arbeitsplatz erlebt, zeigt auch dass man in anderen Bereichen klein beigibt, um Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen.


    Tims Wandlung nehme ich ihm nicht ab und das Buch gibt mir in dieser Hinsicht recht. Vielleicht wäre es für ihn einfacher gewesen mit einem Priester, der ihm wirklich zuhört und der ihn nicht behandelt als ob er sein Eigentum wäre. Eine echte Vertrauensperson hätte ihm sicherlich gut getan.


    Die unterschiedlichen Erzählperspektiven haben mir auch gut gefallen. Der Blick von innen und außen auf die Ereignisse hat mich manche Sachen in einem anderen Licht sehen lassen, weil ich Ruth und Tim so besser verstehen konnte.


    Aufgrund der Vorschusslorbeeren hatte ich hohe Erwartungen an The abstinence teacher und die wurden nicht enttäuscht.

    4ratten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Ich frage mich gerade, warum ich nicht schon längst mal wieder einen Perrotta gelesen habe. Bisher kenne ich neben diesem Buch hier nur das ebenfalls ausgezeichnete "The Leftovers".

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen