Milena Michiko Flašar - Ich nannte ihn Krawatte

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  • Da Milena Michiko Flašars Roman "Ich nannte ihn Krawatte" nun auch auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012 gelandet ist, und ich das Buch für ein Literaturkritik Seminar an der Uni gelesen habe: hier meine Rezension.



    Die Begegnung zweier Seelen
    In dem Roman „Ich nannte ihn Krawatte“ schreibt Milena Michiko Flašar über die Gedankenwelt zweier Menschen.


    Der zwanzigjährige Japaner Taguchi Hiro lebt zwei Jahre lang ohne sozialen Kontakt zur Außenwelt in seinem Zimmer und beobachtet die Welt lediglich aus seinem Fenster. Er ist ein sogenannter Hikikomori, jemand, der sich absichtlich vom gesellschaftlichen Leben fern hält. Als er sich erstmals aus seinem dunklen Zimmer heraus traut begibt er sich in den städtischen Park und trifft dort jeden Tag auf einen krawattentragenden Büroangestellten, der von morgens bis abends auf der gegenüberstehenden Parkbank sitzt und Zeitung liest oder sein mitgebrachtes Essen verspeist. Beide sitzen sich lediglich gegenüber und ohne dessen Namen zu wissen nennt er ihn intuitiv „Krawatte“. Nach einiger Zeit kommen die beiden Charaktere in ein vorerst zurückhaltendes Gespräch, später berichten sie einander über ihre Erlebnisse.


    Der Büroangestellte, Ohara Tetsu, erzählt, dass er vor einiger Zeit seine Arbeit verloren habe und sich nicht traue seiner Frau davon zu berichten. Er erzählt von dem Leistungsdruck unter dem er bei seiner Arbeit ständig stand, der Befreiung aus dem Alltag und dem Schmerz dem er täglich beim Anlügen seiner Frau ausgesetzt sei. Zudem verschweigt er im Gespräch vorerst den gemeinsamen, geistig behinderten, Sohn. „Als du mich fragtest ob ich Kinder. Kyoko und ich. Wir haben. Wir hatten einen Sohn“. Der jugendliche Taguchi berichtet über die Zeit in der er sich selbst von der Außenwelt abgeschottet habe, von der Abgrenzung zu seinen Eltern und von dem Grund wieso er sich für ein Leben als Hikikomori entschieden habe. So unterschiedlich die beiden Charaktere in diesem Roman auch zu sein scheinen, eines haben sie gemeinsam – sie sind Einzelgänger.


    Die japanisch-österreichische Autorin Milena Michiko Flašar, schafft mit diesem Roman, 2012 im Verlag Klaus Wagenbach erschienen, eine Geschichte voller Lügen, Trauer und Einsamkeit verpackt in einen vielleicht schon zu einfach gehaltenen Schreibstil. Die Sprachverwendung der Autorin, die hier ihren dritten Roman vorlegt, mag anfangs gewöhnungsbedürftig sein, dennoch fühlt man sich in einen realistischen und vor allem mitfühlenden Erzählstrang hineinversetzt, der die Gedanken der beiden Protagonisten inklusive aller Hemmungen zwar stark fragmentarisch aber authentisch ausdrückt. Nicht zuletzt die Erzählweise, bei der man oft nicht weiß aus wessen Sicht erzählt wird oder ob es Gedanken oder gesprochene Worte sind die dem Leser da in kürzesten Sätzen präsentiert werden begeistern nach einer kurzen Gewöhnungsphase. Formal fällt vor allem die hohe Anzahl der kurzen Kapitel auf, von denen die Autorin jedoch davon viele hätte zusammenführen können.


    Inhaltlich befasst sich der Roman mit einem Thema, was nicht zwingend in Japan sondern auch in der westlichen Welt spielen könnte. Der Gesellschaftsdruck unter dem heute auch in Europa viele Menschen leben und arbeiten müssen, die Angst zu versagen und seinen engsten Verwandten und Freunden die Wahrheit über seinen Misserfolg zu beichten ist heute so enorm, dass der Roman geradlinig den wunden Punkt unserer Zeit trifft. Auch das Schicksal Jugendlicher, sich von der Außenwelt abzuschotten und den Kontakt zu den engsten Bezugspersonen abzubrechen ist in unserer Gesellschaft kein Einzelfall mehr. Der Leser bekommt in dem kurzen aber inhaltlich stimmigen Roman mit, wie sich der Protagonist der Geschichte nach und nach wieder an das städtische Leben und den Alltag gewöhnt. Gerade die Dichotomie zwischen Jung und Alt wird hier zu einem Dialog, der aus einer eher mürben Bekanntschaft eine Freundschaft zeugt, die bis zum Tod geht und in Tränen endet.


    Mit dem Zitat „Krankheit ist das Festhalten an einer Illusion. Die Einsamkeit, während man daran festhält“ lässt sich in zwei kurzen Sätzen ein Fazit für den gesamten Roman festhalten. Beide Charaktere in diesem Buch sind kranke Persönlichkeiten. Der eine lebt lieber in einer Illusion, die seiner Frau die Arbeitslosigkeit verschweigt, der andere hingegen beginnt aus einer Irrealität zu flüchten und sich wieder in die fremdgewordene Welt zurück zu tasten, die er Jahre zuvor verlassen hat. Flašars Roman mag auf den ersten Blick eine schnelle und vor allem bequeme Lektüre darstellen, dennoch birgt diese Geschichte zwei tiefgründige und vor allem tragische Lebensgeschichten.


    Bibliographie:
    Flašar, Michiko Milena: Ich nannte ihn Krawatte. 3. Auflage. Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2012. ISBN: ISBN-10 380313241X, 16,90€, 144 Seiten.


    4ratten

  • Ich habe gestern auf einer mehrstündigen Zugfahrt mit diesem Roman begonnen. Und er gefällt mir schon nach wenigen Seiten sehr gut. Die Ich-Perspektive liegt mir sehr - ich selbst schreibe sogar mit Vorliebe in dieser. Die Autorin spricht mir daher mit dieser Art zu erzählen ein wenig aus der Seele.


    Bisher habe ich nur wenige Seiten gelesen, habe aber den starken Eindruck hier etwas Besonderes zu lesen. :lesen:

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    Das Buch ist mir aufgefallen, als es 2012 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand.


    Da ich meistens reine Unterhaltungsliteratur lese, war ich gespannt, ob das Buch überhaupt etwas für mich ist und tatsächlich hatte ich Anlaufschwierigkeiten. Dadurch dass die Autorin in einem kurzen Satz oft eine wichtige Aussage auf den Punkt bringt, habe ich manche Sätze mehrfach gelesen und auf mich wirken lassen. Ich hatte das Gefühl, der Autorin und ihrer Sprache nicht gerecht zu werden, wenn ich das Buch einfach so schnell weglese.


    Doch irgendwann wurde die präzise Sprache von den Ereignissen in den Hintergrund gedrängt. Zum ersten Mal habe ich von „Hikikomori“ gehört, ein Phänomen in Japan, bei dem vor allem junge Menschen ihr Zimmer nicht mehr verlassen, weil sie das Gefühl haben, den Erwartungen der Gesellschaft und ihrer Familie nicht mehr gerecht zu werden. Sie verweigern sich und ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück, oft Monate oder Jahre.


    Taguchi ist ein solcher Hikikomori und als er sich nach über zwei Jahren wieder vor die Tür traut, trifft er auf einer Parkbank einen älteren Mann mit Anzug und Krawatte. Die beiden sitzen sich von da an täglich schweigend gegenüber, bis sie eines Tages ins Gespräch kommen. Da es einfacher ist, sich einem völlig Fremden anzuvertrauen, erzählen sie sich gegenseitig von den Dingen, die sie aus der Bahn geworfen haben und zeichnen dabei ein Bild des heutigen Japans, ein Land, in dem das gesellschaftliche Ansehen von größter Wichtigkeit ist. Doch hinter der Fassade der lächelnden Gesichter lauern manchmal Abgründe, Grausamkeit, Verzweiflung, Sehnsucht und vieles mehr.


    Immer wieder habe ich während des Lesens die Lektüre unterbrochen um zu googeln und mehr über die Auswüchse von sozialen Fehlentwicklungen in Japan zu erfahren.


    Am Ende habe ich tief bewegt das Buch zugeschlagen und über die Kunst der Autorin gestaunt, mit wenigen Worten und einer präzisen Sprache viel auszudrücken und auf 136 Seiten mehr zu erzählen als so mach anderer Autor in einem dicken Buch.


    5ratten

  • Zum ersten Mal habe ich von „Hikikomori“gehört, ein Phänomen in Japan, bei dem vor allem junge Menschen ihr Zimmernicht mehr verlassen, weil sie das Gefühl haben, den Erwartungen derGesellschaft und ihrer Familie nicht mehr gerecht zu werden.

    Diesen Namen habe ich zwar noch nicht gehört, aber ich kann es mir gut vorstellen. Nicht nur in Japan. Sondern auch hier, wo der Druck auch immer höher wird. Oft ist er selbstgemacht, aber er kann schnell zu groß werden.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Kirsten In Japan kommt noch hinzu, dass es von den Eltern als Stigma angesehen wird, wenn das eigene Kind zum Hikikomori wird. Deshalb verschweigen und ignorieren sie es scheinbar, ohne sich Hilfe zu holen.

    Sie leben im Endeffekt ohne jeglichen Kontakt neben ihrem Kind im gleichen Zuhause her.

    Ich denke/hoffe, bei uns würden die Eltern reagieren.

  • Ich habe ein Buch auf meinem SuB das diesen Titel trägt. Ob es dabei allerdings um genau die gleiche Situation geht, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls spielt es in Deutschland und handelt von einem Jungen, der sich in sein Zimmer zurückzieht, nachdem er nicht zum Abitur zugelassen wurde.


    Kevin Kuhn - Hikikomori

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  • Ich denke/hoffe, bei uns würden die Eltern reagieren.

    Das hoffe ich auch. Aber ich gefürchte auch, dass bei uns die Eltern nicht immer oder zu spät mitbekommen, wenn der Druck zu groß wird. Gerade, wenn beide Eltern arbeiten und die Kinder lange in der Schule sind, bekommt man nicht immer alles mit.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Milena Michiko Flašar (*1980)

    Ich nannte ihn Krawatte

    Erstveröffentlichung: 2012

    Verlag: btb

    Taschenbuch, 140 Seiten


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    Was für ein schönes, oftmals sehr trauriges und melancholisches, aber unterm Strich ungemein tröstliches Buch.


    Der etwa 20-jährige Hiro ist ein in Japan sogenannter Hikikomori, also jemand, der sich absichtlich der Gesellschaft und seinen Mitmenschen entzieht und sein Zuhause nicht oder so gut wie gar nicht mehr verlässt. Als Hiro eines Tages jedoch die Sehnsucht treibt, fasst er Mut und wagt sich nach zwei Jahren Abgeschiedenheit in seinem Zimmer im Hause seiner Eltern wieder nach draußen. Er sucht den von ihm seit Kindheitstagen so geliebten Park auf, setzt sich auf die vertraute Bank bei der großen Zeder, auf der er so manche glückliche Stunde verbracht hat, und beschließt, beflügelt von seinem Mut und angetrieben von dem Gedanken, wieder Kind sein zu dürfen, nun jeden Morgen hierher zu kommen.


    Eines Tages fällt Hiro dieser Mann auf, der regelmäßig auf der Parkbank gegenüber Platz nimmt, immer wochentags, dort die Zeitung liest, etwas von seinem Bentō (seiner Lunchbox) isst und anschließend eine Zigarette raucht. Dieser Mann, Herr Ōhara, Mitte fünfzig, ist ein sogenannter Salaryman, einer der vielen Anzug tragenden Büroangestellten, die zuhauf die Tokioter Innenstadt bevölkern. Und auch Herrn Ōhara fällt irgendwann der ihm tagtäglich gegenübersitzende Hiro auf. Bis er beschließt, einfach zu diesem rüberzugehen und das Gespräch mit ihm zu suchen.


    Auch wenn beide anfangs noch vorsichtig umeinander kreisen und nicht so recht wissen, was sie mit dem anderen anfangen sollen, so erkennen sie bald, dass sie eines eint: Sie sind beide aus der Gesellschaft Gefallene, jeder auf seine Weise. Und so beginnen sie, einander ihre Lebensgeschichten zu erzählen, von den Menschen und den Ereignissen in ihrem Leben, die sie aus der Bahn geworfen und zu den Menschen gemacht haben, die sie sind. Sie plaudern immer wochentags auf der Parkbank, bei Regen auch mal im Jazz-Café um die Ecke. Und dabei entwickeln sie sogar so etwas wie Freundschaft.


    Den Schluss des Buches möchte ich hier nicht vorwegnehmen, nur so viel: Es wird traurig und versöhnlich zugleich, und am Ende musste ich so manche Träne wegdrücken.


    War ich anfangs skeptisch, was den traurigen und melancholischen Grundton der Erzählung betrifft, weil mir der Sinn derzeit eigentlich nicht nach schwerer, deprimierender Lektüre steht, so legte ich das Buch am Ende doch glücklich und zufrieden beiseite, wahrscheinlich auch, weil das Buch streckenweise – so formulierten es einige Kritiker – hart am Kitsch vorbeischrammt. Aber egal. Ich brauche sowas im Moment.


    Alles in allem hat mir das Buch sehr gut gefallen. Die Sprache ist einfach und verständlich, die Form etwas ungewöhnlich. So verzichtet die Autorin zum Beispiel auf An- und Abführungszeichen in den Dialogen, trotzdem weiß man stets, wer spricht. Darüber hinaus ist das Buch zumeist in kurzen und knappen Sätzen gehalten. Einfach zu verstehen. Oft ohne Subjekt, Prädikat oder Objekt. Manchmal nur drei Wörter lang. Oder zwei. Liest sich trotzdem sehr gut. Oder gerade deswegen.


    Eine Empfehlung. :) Ich vergebe 4ratten und :marypipeshalbeprivatmaus: .

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