Alice Munro - Zu viel Glück

Es gibt 21 Antworten in diesem Thema, welches 5.652 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

  • Ich habe keinen Thread zu diesem Buch gefunden. Falls dennoch einer bestehen sollte, bitte verschieben! :winken:


    Inhalt:


    Zehn Geschichten - zehn Schicksale. Jeder sucht es, nicht jeder findet es: Das Glück. Doch was ist Glück überhaupt? Bemerkt man sein Glück erst, wenn es nicht mehr da ist?


    Meine Meinung:


    2013 erhielt Alice Munro den Nobelpreis für Literatur. Höchste Zeit, dass ich mir das Phänomen "Alice Munro" mal genauer ansehe.


    In zehn Geschichten folgen wir unterschiedlichen Figuren auf der Jagd nach dem Glück. Doch Munro arbeitet vor allem mit der dunklen Seite des Glücks. Gewalt, Verlust, Einsamkeit, Krankheit, Anderssein. Während der Lektüre wartet man ständig auf die grosse Katastrophe. Erst recht dann, wenn eine Zeit lang alles gut geht.


    Irgendwann in der Mitte hatte ich einen Hänger. So viel Unglück, Trauer und Schmerz. Das kann doch nicht das ganze Leben sein? Ist es nicht, doch meistens beschäftigt sich die "hohe/höhere Literatur" gerne mit diesen Themen. Deshalb ist es gut, dass es auch andere Bücher gibt. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf stürzte ich mich ein weiteres Mal in Munros Geschichten.


    Es ist unglaublich, was Alice Munro alles in fünfzig Seiten reinpacken kann. Es gibt genug Autoren, die erst nach 250 Seiten entdecken, wie man Spannung aufbaut. Munro schafft dies vom ersten Satz an. Sich kurz zu halten ist eben auch eine Kunst. Eine Kunst, die gar nicht so einfach ist. Aber die Kanadierin schafft es, was sonst nur schwer zu erreichen ist: Eindrückliche Kurzgeschichten zu schreiben, die einem im Kopf bleiben.


    Alle Figuren sind eigenständig, keine gleicht der anderen. Auch die Themen sind unterschiedlich. Die Geschichten stehen für sich selber. Munro schreibt flüssig, aber tiefgründig. Unter ihren einfachen Sätzen verbergen sich Welten. Was die Figuren bewegt verschliesst sich oft vor dem Leser, ich hatte das Gefühl, oft sogar vor der Autorin selbst. Faszinierend.


    Obwohl ich kein grosser Fan von Literaten bin, war es schön, die Bekanntschaft von Alice Munro gemacht zu haben. Den Literaturnobelpreis gönne ich ihr, denn sie hat ihn wirklich verdient!


    Fazit:


    Man muss auf die finsteren Täler des menschlichen Lebens gefasst sein, wenn man sich mit Alice Munro einlässt. Ist man sich dessen bewusst, findet man eine Fülle von Möglichkeiten vor, Geschichten, die einen nicht mehr loslassen, und eine Schriftstellerin, die ihr Handwerk beherrscht.


    Vor allem für Lesekreise ist Munro ein Tipp, denn über die Geschichten kann man stundenlang diskutieren.


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    4ratten & :marypipeshalbeprivatmaus:

    //Grösser ist doof//

  • Eigentlich habe ich dieser schönen Rezi gar nichts hinzuzufügen ;)


    Ich mag Kurzgeschichten in der Regel nicht so gerne, weil ich mich lieber in eine längere Geschichte hineinfallen lasse und bei der Kurzform häufig keinen rechten Bezug zu den Protagonisten herstellen kann. Oder mich ärgere, weil die Begegnung mit ihnen schon wieder vorbei ist.


    Ich mag auch eigentlich so arg schicksalsbeladene Storys nicht, vor allem, wenn kein großartiger Hoffnungsschimmer zu sehen ist.


    Alice Munros Figuren erleben in diesen 10 Kurzgeschichten sehr einschneidende Dinge, sind enttäuscht, verletzt, traurig, desillusioniert, doch die Autorin beschreibt das alles so wunderbar leise, eindringlich und irgendwie liebevoll, dass ich das Buch trotz eher melancholischen Grundtons gerne gelesen habe.


    Sehr gut gefallen hat mir auch die schlichte, klare Sprache. Gewollt kreative Experimente hat Munro gar nicht nötig, ihre Erzählweise hat gerade durch die einfachen, treffenden Worte, die sie findet, Klasse.


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Wie immer bestärken mich Valentines Rezensionen gewisse Bücher zu lesen, so wird mein Erzählband von Munro wohl das nächste Buch sein, welches ich zur Hand nehme.


    Alice Munro - Die Liebe einer Frau

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    Kennst Du dieses Buch?

  • "Zu viel Glück" war mein erstes Buch von ihr. (Ich muss jetzt auch nicht sofort noch eins lesen, aber irgendwann mal wieder gerne.)


    Wenn ich an kalumas Rezi zu dem Erzählband denke, den sie in der letzten Monatsrunde gelesen hat, sind Munros Geschichten aber wohl alle von dieser leisen, treffenden Art.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich kann die hier vorherrschende Meinung leider nicht teilen. Habe mir "Zu viel Glück" gekauft, nachdem sie den Nobelpreis gewonnen hatte, vorher kannte ich sie nicht. Hatte mich drauf gefreut, da ich das Medium der Kurzgeschichte grad für mich wieder entdecke, aber zwei Sachen haben mich extrem gestört:
    Viele Geschichten wirken wie Inhaltsangaben von längeren Werken. Da wird in windeseile durch ganze Leben durchgejagt, aber nichts erzählt sondern immer nur beschrieben. Show it don't tell it hat sie irgendwie vergessen. So konnte ich dazu keinerlei Beziehung aufbauen, das meiste ließ mich völlig kalt. Dass das auch anders geht hat Jean Echenoz in "14" bewiesen, wo er fünf Jahre erster Weltkrieg in 120 Seiten abhandelt.
    Das zweite ist diese Überdramatisierung. So viel wird da gestorben, ständig das nächste totale Unglück. Auf der anderen Seite dann irgendwie banal wirkende Beziehungsprobelem. Ich fühlte mich an Hollywood-Filme erinnert.
    Nur die Geschichte mit dem Jungen, der diese Entstellung im Gesicht hatte und den zwei Mädels,

    haben mir zugesagt, beim Rest war ich froh, dass ich es hinter mir hatte.
    Was man daran stundenlang diskutieren kann ist mir ebenso schleierhaft wie der Nobelpreis.
    Deswegen leider nur:


    2ratten

    Einmal editiert, zuletzt von Valentine ()

  • Garfield: ich habe an einer Stelle einer Spoilermarkierung gesetzt, um die Pointe der Geschichte nicht vorwegzunehmen.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Hi Garfield,


    Jean Echenoz habe ich mal notiert. Die Leseprobe ist ganz interessant. Solche versteckten Hinweise sind doch das Schönste hier im Forum. Viel Spaß weiterhin.


    Gruß, Thomas

  • Hey Valentine,


    alles klar, an diese Option hatte ich gar nicht gedacht, ist wirklich besser so, danke :)


    @klassikfreund


    Freut mich, darauf aufmerksam gemacht zu haben, ich kann dieses kurze Werk wirklich sehr empfehlen!

  • Wie einige meiner Vorposter griff auch ich zu Alice Munro, um die Literaturnobelpreisträgerin mal kennen zu lernen.



    [...] Munro arbeitet vor allem mit der dunklen Seite des Glücks. Gewalt, Verlust, Einsamkeit, Krankheit, Anderssein. Während der Lektüre wartet man ständig auf die grosse Katastrophe. [...] Das kann doch nicht das ganze Leben sein? Ist es nicht, doch meistens beschäftigt sich die "hohe/höhere Literatur" gerne mit diesen Themen. Deshalb ist es gut, dass es auch andere Bücher gibt. [...]


    - Definitiv! Deiner Erfahrung, Jari, schließe ich mich an. Es scheinen irgendwie die dunklen Seiten des Lebens, der Psyche des Menschen, der Beziehungen zwischen Menschen zu sein, denen sich solche Literatur oft widmet. Durch die Frankfurter Buchmesse 2012 mit dem Ehrengast Neuseeland bin ich an die Autorin Katherine Mansfield geraten, die auch Kurzgeschichten geschrieben hat, auch einige wirklich gute, aber die fand ich teilweise auch umso niederschmetternder, je näher sie den dunklen Seiten kamen. Das macht sie wohl so ungemein gut, aber auch so ... ja ... grausig.


    Vor allem für Lesekreise ist Munro ein Tipp, denn über die Geschichten kann man stundenlang diskutieren.


    - Oh ja. Ich hätte auch gerne an einem Munro-Lesekreis teilgenommen, denn jede einzelne Geschichte bietet einfach so viel Stoff! Fast hinter jedem Satz verbirgt sich eine Welt. Und wie du schon schreibst, Jari, drückt sie mit so wenigen Worten so viel aus. Manches ist dann schon fast zu gezwungen, aber besonders die Geschichten "Dimensionen", "Erzählungen", "Der Grat von Wenlock", "Gesicht" und "Kinderspiel" fand ich von der Sicht echt genial. Und es sind ja nicht nur die Sätze, sondern es ist der Aufbau. Gerade in "Dimensionen", "Der Grat von Wenlock" und "Kinderspiel" schafft sie es, wie ich finde, anhand von ein paar nicht chronologischen Szenen, die oft auch nur Banales zum Thema haben, Komplexes rüber zu bringen. Die Szenen sind wie Puzzlestücke, wobei man als Leser, so ging es zumindest mir, in den meisten Fällen keine Ahnung hat, was als nächstes geschieht und worauf alles hinaus läuft, wobei mit der Zeit des Lesen eine gewisse Tendenz klar wird, was ich irgendwann negativ fand, also bezüglich der Ausgänge der Geschichten.


    die Autorin beschreibt das alles so wunderbar leise, eindringlich und irgendwie liebevoll, dass ich das Buch trotz eher melancholischen Grundtons gerne gelesen habe.


    - Ich finde auch, dass die Art, wie Munro schreibt, das inhaltlich oftmals doch recht Traurige wieder wett macht. Das war auch der Grund, weswegen ich immer weiter gelesen habe, obwohl es auch Ausreißer gab...
    Ergänzen würde ich noch, dass die Charaktere, obwohl natürlich "nur" Kurzgeschichten-Charaktere oft so authentisch gezeichnet sind, dass ich mich in den meisten Geschichten wohl gefühlt habe.


    Wie Jari schon schreibt, wurden auch mir manche Motive der Figuren oder eigentlich ein Großteil nicht klar. Aber gerade in diesem Nicht Nachvollziehbaren spiegelt sich etwas Realistisches. Ist man sich selbst nicht auch oft ein Geheimnis? In seinen Bedürfnissen, seiner Unzufriedenheit, dem, was man tut, nicht tut?


    Wie Valentine werde auch ich nicht gleich wieder ein weiteres Munro-Buch lesen, aber in Zukunft bestimmt wieder, wenn ich für so was wieder empfänglicher bin und das kommt wieder. ^^ Die Faszination der menschlichen Abgründe ist zu groß. ;)
    Ich fände es auch toll dann, es in einer Leserunde zu lesen, da mich oft während des Lesens der Drang befällt, drüber zu diskutieren.


    Seltsamerweise, wobei - das macht wahrscheinlich die Faszination aus - konnte ich Geschichte für Geschichte lesen und hatte danach trotzdem immer den Eindruck, gerade irgendwie keine "richtige Geschichte" gelesen zu haben, es war so unfassbar. Was war da gerade vor sich gegangen? Wem war ich begegnet? Ich wusste nur, es war gut gewesen und ich hätte es gern durchschaut.
    ... Seltsam.


  • Und es sind ja nicht nur die Sätze, sondern es ist der Aufbau.


    Genau, Munro ist eine Meisterin des gekonnten Aufbaus. Von Anfang an zielt sie auf einen bestimmten Moment hin, lässt den Leser aber lange im Umgewissen, was genau es ist.



    Aber gerade in diesem Nicht Nachvollziehbaren spiegelt sich etwas Realistisches. Ist man sich selbst nicht auch oft ein Geheimnis? In seinen Bedürfnissen, seiner Unzufriedenheit, dem, was man tut, nicht tut?


    Sehr schön ausgedrückt. Auf diese Weise öffnet uns die Autorin die Augen für alles, was hinter dem direkt Ersichtlichen liegt.



    Seltsamerweise, wobei - das macht wahrscheinlich die Faszination aus - konnte ich Geschichte für Geschichte lesen und hatte danach trotzdem immer den Eindruck, gerade irgendwie keine "richtige Geschichte" gelesen zu haben, es war so unfassbar. Was war da gerade vor sich gegangen? Wem war ich begegnet? Ich wusste nur, es war gut gewesen und ich hätte es gern durchschaut.
    ... Seltsam.


    Eine interessante Schilderung deinerseits.

    //Grösser ist doof//

  • Danke für deine Antwort, Jari. Total spannend!


    Dass Munro von Anfang an auf einen bestimmten Moment hin zielt und den Text so aufbaut, dass das Ziel nicht klar wird, wie du es ausdrückst (ich krieg grade die Zitat-Funktion nicht hin) ist wahrscheinlich einer der Gründe für den Preis. Dass man das einfach nicht zu durchschauen vermag, in keiner Geschichte, und es, zumindest in den meisten ihrer Texte, trotzdem nicht erzwungen wirkt, im Gegenteil: irgendwie ergibt eins das andere, gleichzeitig schleicht sich in die Zusammenhänge auch Widersprüchliches oder Paradoxes. Eben wie im normalen Leben, wenn man an blöde Zufälle denkt oder auf lange Sicht an Entwicklungen ...


    Du schreibst, dass uns die Autorin die Augen öffnet für alles, was hinter dem direkt Ersichtlichen liegt.
    - Was mir an ihrem Schreibstil auch gefallen hat und zu diesem Punkt zählt, war dass sie nie geurteilt hat, nie bewertet, das war manchmal auch schwierig, da man als Leser so selber öfter nicht wusste, wie man etwas, ob nun ein Verhalten oder ein Gefühl einer Figur, einschätzen sollte, aber es hat eben, ja, die Augen geöffnet irgendwie, bewirkt, dann man selbst nicht urteilte, sondern mehr ... was eigentlich? mitbeobachtete vielleicht, sich einfach darauf einließ. Das ist eine hohe Kunst jedenfalls.

  • Eigentlich müsste man die Geschichten, nachdem man sie beendet hat, mit dem Wissen um die komplette Story noch mal von vorne lesen. Da würde man sicher einiges ganz anders verstehen und deuten.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen






  • Dass Munro von Anfang an auf einen bestimmten Moment hin zielt und den Text so aufbaut, dass das Ziel nicht klar wird, wie du es ausdrückst (ich krieg grade die Zitat-Funktion nicht hin) ist wahrscheinlich einer der Gründe für den Preis. Dass man das einfach nicht zu durchschauen vermag, in keiner Geschichte, und es, zumindest in den meisten ihrer Texte, trotzdem nicht erzwungen wirkt, im Gegenteil: irgendwie ergibt eins das andere, gleichzeitig schleicht sich in die Zusammenhänge auch Widersprüchliches oder Paradoxes. Eben wie im normalen Leben, wenn man an blöde Zufälle denkt oder auf lange Sicht an Entwicklungen ...


    Das denke ich auch. Dass diesem schriftstellerischen Können gehuldigt wird, finde ich super. Munros Talent erkennt man erst während des Lesens, bzw. vielleicht sogar erst später, wenn man das Gelesene verdaut hat und mit anderem Blick auf die Geschichten zurückblicken kann.



    - Was mir an ihrem Schreibstil auch gefallen hat und zu diesem Punkt zählt, war dass sie nie geurteilt hat, nie bewertet, das war manchmal auch schwierig, da man als Leser so selber öfter nicht wusste, wie man etwas, ob nun ein Verhalten oder ein Gefühl einer Figur, einschätzen sollte, aber es hat eben, ja, die Augen geöffnet irgendwie, bewirkt, dann man selbst nicht urteilte, sondern mehr ... was eigentlich? mitbeobachtete vielleicht, sich einfach darauf einließ. Das ist eine hohe Kunst jedenfalls.


    Das stimmt. Unbewusst fiel mir das schon früher auf, aber ich konnte es nicht wirklich in Worte fassen. Aber du drückst das sehr schön aus. Sie urteilt wirklich nicht. Sie berichtet nur und wir schauen zu. Munro nimmt sich nicht heraus, zu sagen, was Recht und Unrecht ist. Wer sind wir schon, um sowas beurteilen zu können? Die Situationen sind so speziell und ausserhalb unseres Alltages (finde ich zumindest), dass ich keineswegs einfach sagen könnte, in der und der Szene hätte ich so und so gehandelt.



    Eigentlich müsste man die Geschichten, nachdem man sie beendet hat, mit dem Wissen um die komplette Story noch mal von vorne lesen. Da würde man sicher einiges ganz anders verstehen und deuten.


    Finde ich auch. Man würde die ganze Mini-Welt der Geschichte aus einem völlig anderen Blickwinkel sehen.

    //Grösser ist doof//


  • Eigentlich müsste man die Geschichten, nachdem man sie beendet hat, mit dem Wissen um die komplette Story noch mal von vorne lesen. Da würde man sicher einiges ganz anders verstehen und deuten.


    Das wäre sicher interessant. Auch von dem Aspekt her, Munros raffinierten Stil bewusster zu betrachten. Ich glaub, sie schreibt keinen Satz "einfach so". Gleichzeitig wäre es interessant zu beobachten, ob die Lesewirkung dieselbe ist, sprich dieser, in jeder Geschichte steckende Überraschungseffekt. Und ich glaub, das ist der Haken. Ihre klare Sprache ist schön und lohnenswert, mehrmals gelesen zu werden - auch das Munro-Phänomen ein Stück weit zu entschlüsseln zu versuchen. Aber das Faszinierende des ersten Lesens und nicht Wissens, was als nächstes passiert und welchen Ausgang die Geschichte in all ihren Verwicklungen findet, wäre bei mir glaub weg.



    [...] Munros Talent erkennt man erst während des Lesens, bzw. vielleicht sogar erst später, wenn man das Gelesene verdaut hat und mit anderem Blick auf die Geschichten zurückblicken kann.


    - Auf jeden Fall. Das Coole ist auch, dass ihre Schreibe so was an sich hat, dass man sich mitnehmen lässt und gar nicht so viel darüber nachdenkt, dass die das absichtlich macht (ich mein, klar, man weiß es zwar, sie ist ja Profi), aber sie schreibt das, wie auch schon erwähnt wurde, im Thread, ohne lästige Verschnörkelungen und so, nicht so aufgesetzt. Mir macht es immer am meisten Spaß, wenn ich gar nicht merke, dass jemand mich da gerade mit seinem Können beeindrucken will, sondern erst nach dem Lesen denke: Boah, das war ja der Hammer.



    [...] Die Situationen sind so speziell und ausserhalb unseres Alltages (finde ich zumindest), dass ich keineswegs einfach sagen könnte, in der und der Szene hätte ich so und so gehandelt.


    - Das ist eine sehr gute Bemerkung, die du machst. Mir ging es auch so. In manchen Geschichten sind die Situationen so ungewohnt, wie du schon schreibst, und eigentlich müsste man deshalb auch die Perspektive wechseln irgendwie, was man auch tut und weswegen man auch nicht urteilt, sondern mitgeht, gleichzeitig wirken die Situationen natürlich. Munro schreibt davon nicht irgendwie abgehoben oder so, sondern von ... manchmal ja auch kranken, kriminellen Menschen ... wie ganz normalen. Also, klar, das sind ja auch Menschen, aber sie schafft es, dass man sie wertfrei sieht. Ich weiß gar nicht, es entsteht nicht unbedingt Nähe, auch keine Identifikation, aber trotzdem wirkten auf mich die Handlungen, waren sie auch noch so freaky oft, eigentlich normal.


    Ihr Zwei ^^ danke für die Diskussion so zwischendrin mal, es ist irgendwie interessant, sich darüber auszutauschen, gerade weil Munros Stil was hat und es ist cool, Meinungen zu erfahren und warum das alles so ist. Aber auch einfach was anderen auffällt.

    Einmal editiert, zuletzt von Elsie ()

  • Das wäre sicher interessant. Auch von dem Aspekt her, Munros raffinierten Stil bewusster zu betrachten. Ich glaub, sie schreibt keinen Satz "einfach so". Gleichzeitig wäre es interessant zu beobachten, ob die Lesewirkung dieselbe ist, sprich dieser, in jeder Geschichte steckende Überraschungseffekt. Und ich glaub, das ist der Haken. Ihre klare Sprache ist schön und lohnenswert, mehrmals gelesen zu werden - auch das Munro-Phänomen ein Stück weit zu entschlüsseln zu versuchen. Aber das Faszinierende des ersten Lesens und nicht Wissens, was als nächstes passiert und welchen Ausgang die Geschichte in all ihren Verwicklungen findet, wäre bei mir glaub weg.


    Ich denke, beim zweiten Mal lesen wäre es eine andere Art von Überraschung. Wie du sagst, kein Satz steht "einfach so" da, ich habe auch das Gefühl, dass Munro jedes Wort genau platziert und so noch viel mehr aussagt, als wir beim ersten Lesen gemerkt haben. Vielleicht würde uns eine neue Ebene auffallen - die wiederum ebenfalls überraschen kann. Oder man würde Hinweise entdecken, die man zuerst überlesen oder -sehen hat.



    Mir macht es immer am meisten Spaß, wenn ich gar nicht merke, dass jemand mich da gerade mit seinem Können beeindrucken will, sondern erst nach dem Lesen denke: Boah, das war ja der Hammer.


    Geht mir ebenfalls so. Während des Lesens konnte mich Munro teilweise vielleicht nicht ganz so überzeugen, aber jetzt, durch das Zurückblicken und die Diskussion hier, entpuppt sich das Talent Munros erst richtig.



    - Das ist eine sehr gute Bemerkung, die du machst. Mir ging es auch so. In manchen Geschichten sind die Situationen so ungewohnt, wie du schon schreibst, und eigentlich müsste man deshalb auch die Perspektive wechseln irgendwie, was man auch tut und weswegen man auch nicht urteilt, sondern mitgeht, gleichzeitig wirken die Situationen natürlich. Munro schreibt davon nicht irgendwie abgehoben oder so, sondern von ... manchmal ja auch kranken, kriminellen Menschen ... wie ganz normalen. Also, klar, das sind ja auch Menschen, aber sie schafft es, dass man sie wertfrei sieht. Ich weiß gar nicht, es entsteht nicht unbedingt Nähe, auch keine Identifikation, aber trotzdem wirkten auf mich die Handlungen, waren sie auch noch so freaky oft, eigentlich normal.


    Munro scheint sich sehr gut in ihre Figuren hineinversetzen zu können. Diese für uns so seltsamen Handlungen und Begebenheiten sind für diese Personen teilweise normal und alltäglich. Deshalb schafft es Munro, sie auch so darstellen zu können.


    Danke auch dir für eine tolle und spannende Diskussion. Genau deswegen sind wir doch hier gelandet, nicht wahr? :smile:

    //Grösser ist doof//


  • Aber das Faszinierende des ersten Lesens und nicht Wissens, was als nächstes passiert und welchen Ausgang die Geschichte in all ihren Verwicklungen findet, wäre bei mir glaub weg.


    Klar, den Überraschungseffekt hat man so nur beim ersten Lesen. Aber trotzdem wäre es spannend, noch mal zurückzugehen.


    Zitat

    Mir macht es immer am meisten Spaß, wenn ich gar nicht merke, dass jemand mich da gerade mit seinem Können beeindrucken will, sondern erst nach dem Lesen denke: Boah, das war ja der Hammer.


    Das hat mir bei Alice Munro auch sehr gut gefallen. Ich mag es nicht sonderlich, wenn jemand künstliche Sprachexperimente anstellt, nur um zu beweisen, dass er ach so kreativ und innovativ ist. Munro macht das ganz leise, in ganz alltäglichen Worten, und besticht eher durch ihr Einfühlungsvermögen und ihre Ideen als durch gewollt "andere" Sprache.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





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    Klappentext: Zu viel oder zu wenig – für das Glück gibt es kein Maß, nie trifft man es richtig. Alice Munros Heldinnen und Helden geht es nicht anders, aber sie haben das Zuviel und Zuwenig erlebt: eine Balance, die nur schwer zu finden ist. Auf ihrer Suche macht Alice Munro ihre Leser zu Komplizen dieser spannenden Mission.


    Inhalt: In zehn Erzählungen werden verschiedene Arten des Glücks beschrieben. Eine verwaiste Mutter rettet ein Leben, unterschiedliche Arten von Liebe in Beziehungen, die Bewunderung eines Kindes für seine Lehrerin, die Frage nach der „richtigen“ Gestaltung des Lebens und dies ist nur ein Ausschnitt aus der Themenvielfalt, die in diesem Erzählband aufgegriffen wird.


    Meine Meinung: Ich habe schon lange keine Erzählungen mehr gelesen und ich bin sehr froh, dass mir nun dieses Buch in die Hand gefallen ist. Der Schreibstil gefällt mir außerordentlich gut. Die Charaktere erhalten so schnell eine tiefe Darstellung, die bei manchen Romanautoren nie erreicht werden. Der Spannungsaufbau ist immer sehr gelungen und nicht selten saß ich am Ende der Erzählung da und war erstaunt welche Wendung die Geschichte genommen hat und dabei immer glaubwürdig geblieben ist. Das Buch ist auf jeden Fall eine absolute Leseempfehlung.


    5ratten


    Ich habe eure Leseeindrücke erst nach meiner Rezension gelesen - ich finde ihr beschreibt es super schön. :daumen:

  • Da ich das Buch für meine Verhältnisse sehr langsam lese, alle paar Tage eine Kurzgeschichte, möchte ich nach der Hälfte ein Zwischenfazit ziehen.


    Ich kann mich meinen Vorrednern nur anschließen. Die bisherigen Geschichten haben allesamt eine enorme Tiefe, sodass man nach wenigen Seiten bereits das Gefühl hat, man würde die Protagonisten viel besser kennen, als es bei vielen anderen Büchern nach viel mehr Seiten der Fall ist. Die Autorin schafft es, die Ausschnitte der Leben der Personen so zu erzählen, dass sie gänzlich vorurteilsfrei sind und sich jeder seine eigenen Gedanken dazu machen kann. Gerade das führt bei mir dazu, dass ich das Buch nur häppchenweise lese. Alle diese Geschichten haben mich bisher zum Nachdenken angeregt. Zum Teil waren die Geschichten eher befremdlich, es gab aber auch Geschichten, die mich emotional mitgenommen haben und ich mich gefragt habe, wie Menschen eine solche Entwicklung machen können. Obwohl es bisher zwei Geschichten gab, bei denen ich mich gefragt habe, ob das wirklich passieren könnte, gab es bisher keine, die völlig absurd gewirkt hat.


    Ich bin sehr gespannt und freue mich schon darauf, was noch kommen wird!


    Das hat mir bei Alice Munro auch sehr gut gefallen. Ich mag es nicht sonderlich, wenn jemand künstliche Sprachexperimente anstellt, nur um zu beweisen, dass er ach so kreativ und innovativ ist. Munro macht das ganz leise, in ganz alltäglichen Worten, und besticht eher durch ihr Einfühlungsvermögen und ihre Ideen als durch gewollt "andere" Sprache.


    Das gefällt mir auch enorm an ihrem Schreibstil. Er wirkt so einfach, aber am Ende einer jeden Geschichte bin ich sehr begeistert, was alles in diesen paar Seiten transportiert worden ist.

    Wer Bücher kauft, kauft Wertpapiere! - Erich Kästner<br /><br />SLW 2016 9/30

  • Mittlerweile habe ich das Buch zu Ende gelesen. Es hat etwas länger gedauert, da all die Geschichten ihre Zeit brauchen, um richtig gewürdigt werden zu können. Auch die zweite Hälfte des Buches zeugt von einer guten Menschenkenntnis. Insbesondere werden hier auch die dunkleren Seiten der Menschen gezeigt ohne jedoch diese als "böse" darzustellen, sondern eher als eine Momentaufnahme, in der gezeigt wird, wozu Menschen fähig sein können.


    Des Weiteren empfand ich es auch als spannend, wie die Beziehungen der Protagonisten zu ihren Mitmenschen dargestellt wird. Es gibt in diesen Kurzgeschichten keine glatten Menschen. Alle Menschen sind facettenreich und haben sympathische, aber auch weniger sympathische Züge an sich. Manchmal werden einem diese Wesenszüge auch erst beim Reflektieren der Geschichte bewusst. Einige der Geschichten zeigen kurze Momentaufnahmen in einem Leben eines Menschen, andere decken einen Großteil des Lebens ab und zeigen, wie sich die Menschen entwickelt haben. "Glück" vereint all die Kurzgeschichten, obwohl dieses nicht immer offensichtlich ist, sondern sich manchmal verbirgt und erst nach einer Weile sichtbar wird. Teilweise haben sie zu viel Glück, andere wiederum zu wenig, aber dies macht auch einen besonderen Reiz der Geschichten aus, da man nie weiß, was kommen wird.


    Dies war mein erstes Buch von Alice Munro, aber es wird sicherlich nicht mein letztes sein. Sie schafft es, beobachtend zu schreiben, ohne sich ein Urteil zu bilden. Dadurch kann jeder Leser für sich selbst entscheiden, was er von der Person/Geschichte/Entwicklung hält. Alles in allem ein wunderbares Buch, das mir über einen längeren Zeitraum sehr viel Lesefreude bereitet hat.


    5ratten

    Wer Bücher kauft, kauft Wertpapiere! - Erich Kästner<br /><br />SLW 2016 9/30

    Einmal editiert, zuletzt von YRachel ()