Carson McCullers - Das Herz ist ein einsamer Jäger

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    Klappentext:
    Der taubstumme John Singer muss erleben, wie sein Freund Spiros Antonapoulos, mit dem er sich jahrelang die Wohnung geteilt hat, in einer Irrenanstalt gebracht wird. Singer zieht zur armen Familie eines Uhrmachers und wird nun selber der Mittelpunkt einer Gruppe von allerlei Außenseitern: Bill Brannon, dem eine Cafeteria gehört. Jake Blount, der Marxist ist, die kapitalistische Gesellschaft verachtet und am liebsten als Wanderprediger herumzöge. Mick Kelley, die von der Liebe träumt, und der schwarze Arzt Benedict Copeland, der ins Gefängnis kommt, weil er dagegen protestiert, wie sein Sohn behandelt wird. So unteschiedlich diese bunt zusammengewürfelte Außenseiterbande sein mag, sie setzt ihr ganzes Vertrauen und alle Hoffnung auf den behinderten John Singer.


    Teilnehmer:
    Saltanah
    rubenselfe
    knödelchen
    stefanie_j_h (eventuell)
    finsbury


    [hr]


    Viel Spaß!

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Heute Morgen habe ich die Lektüre begonnen und bin ganz beeindruckt. Ein Buch wie Bilder von Edward Hopper! Jedenfalls habe ich die bei meiner Lektüre immer vor Augen.


    Immer wieder bin ich beeindruckt, wie leicht in vielen Romanen der amerikanischen Literatur Schweres daherkommt. Ganz sachlich und locker erzählt die junge Carson McCullers (die ja selbst auch ein schweres Schicksal durchlebte: mit 23 schon der erste Schlaganfall!) von den beiden Taubstummen John Singer und Spiros Antonapoulos. Es ist rührend, ohne dass es rührend geschrieben wäre, wie John Singer sich um seinen Freund kümmert und ihn bewundert, obwohl doch völlig unklar ist, wie viel dieser überhaupt von Johns Mitteilungen mitbekommt.


    Und auch der Cafébesitzer Biff, der mit einer kaltherzigen und verständnislosen Frau verheiratet ist, wirkt sehr sympathisch, wie er sich um den ständig besoffenen Blount kümmert, obwohl der sein Geschäft ruiniert.
    Wenn es mehr solche Menschen gäbe, wären die Herzen wohl gar nicht so einsam :zwinker:.


  • Ein Buch wie Bilder von Edward Hopper! Jedenfalls habe ich die bei meiner Lektüre immer vor Augen.


    Das ist ein toller Vergleich!


    (Sorry, wenn ich hier einfach so reinplatze, aber das musste ich loswerden. Eure Leserunde werde ich interessiert verfolgen, weil ich das Buch so toll fand.)

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen






  • Ein Buch wie Bilder von Edward Hopper! Jedenfalls habe ich die bei meiner Lektüre immer vor Augen.


    Kein Wunder - eines von ihnen ist ja auch auf dem Cover der Diogenes-Ausgabe drauf. :zwinker:
    Edward Hopper - Automat (1927)



    Eure Leserunde werde ich interessiert verfolgen, weil ich das Buch so toll fand.


    Und ich werde die Leserunde verfolgen, weil mich das Buch interessiert, es aber noch nicht gelesen habe. :smile:


  • Schön gesagt und sehr treffend. Ich finde die Autorin hat eine ganz besondere Art zu erzählen, das spürt man schon in den ersten Zeilen. Ganz leicht aber auch einfühlsam und zärtlich gegenüber ihren Figuren.


    Durch das Bild von Edward Hopper auf der deutschen Taschenbuch-Ausgabe von "Das Herz ist ein einsamer Jäger" bin ich vor Jahren in einer Buchhandlung überhaupt erst auf das Buch aufmerksam geworden. (Für mich ist diese Leserunde ein Re-Read)


    Ich bin noch nicht sehr weit gekommen, aber schon in den ersten beiden Kapiteln treten bereits alle fünf Hauptfiguren auf und wir lernen einige von ihnen schon etwas näher kennen. Ich mag dieses episodenhafte (auch in Filmen), jeder geht für sich allein, und doch kreuzen sich ihre Wege immer wieder.

    Ich hieß hier mal caithlin.<br /><br />&quot;If I had a dollar for every time i felt more emotion for a fictional character than people in real life, I could pay for the psychiatric help I obviously need.&quot;

  • Kein Wunder - eines von ihnen ist ja auch auf dem Cover der Diogenes-Ausgabe drauf. :zwinker:
    Edward Hopper - Automat (1927)


    Ich lese die Ausgabe aus der "Süddeutsche Zeitung Bibliothek":
    Es sind solche Stellen, die mich auf Hopper brachten, von dem wir einen Bildband besitzen:


    In einer dunklen schwülen Gewitternacht stand Biff Brannon hinter der Registrierkasse des Café New York. Es war zwölf Uhr. Die Straßenlaternen waren schon abgedreht, so dass das Licht aus dem Café ein scharf gezeichnetes gelbes Rechteck auf den Gehsteig warf. Die Straße war menschenleer, aber im Café saßen noch ein paar Gäste. (Anf. Kap.2)
    nighthawks
    oder


    Mick ging langsam die Treppe hinauf. Sie ging über den ersten Absatz weiter zum zweiten Stock. Einige Türen standen, des Durchzugs wegen, offen; das Haus war voller Geräusche. Mick hielt auf der obersten Treppe an und setzte sich.(Ende Kap. 3)
    [url=http://e-edwardhopper.com/images/Stairway%20at%2048%20rue%20de%20Lille,%20Paris.jpg]stairway at 48 rue ...[/url]
    oder


    Jake blieb vor einem Haus stehen, vor dem im blaßgelben Lichtschein drei Männer auf den Stufen saßen.... (Mitte Kap.4)
    sunday

    Natürlich sind diese Bilder keine 1:1-Illustrationen zum Buch, aber es liegt ihnen eine ähnliche Stimmung zugrunde.


    Auf Seite 17 meiner Ausgabe, in Kap. 2, habe ich übrigens eine Aussage gefunden, von der ich meine, dass sie sehr gut auf den ganzen Roman passt, der die Personen so schön unkommentiert bei sich bleiben lässt. Biff Brannon sagt zu seiner Frau:


    Aber das verstehst du eben nicht - ne Unmasse von Einzelheiten zusammentragen, bis man was ganz Wirkliches bekommt.


    Und ein neues Wort habe ich gelernt: Egrenierwerk: eine Baumwolleentkörnungsfabrik, eine von mehreren Industriebetrieben, für die sich Jake Blount interessiert.


    Ich bin nun im 5. Kapitel.

  • Hallo allerseits :winken: ,


    ich bin auch am lesen, allerdings nur sehr langsam, da ich im Moment nur in der U-Bahn dazu komme, mein Buch aufzuschlagen. Auf der Arbeit ist die Hölle los und entsprechend k.o. bin ich morgens. Aber nur noch eine Nacht, dann habe ich eine Woche frei.


    Dem Vergleich mit Hoppers Bildern kann ich nur zustimmen. Bei der Beschreibung der Kneipe kam mir auch gleich das Nighthawks-Bild in den Kopf, die anderen von finsbury verlinkten kannte ich allerdings noch nicht.


    Auch mir gefällt die Art und Weise, wie McCullers ihre Geschichte erzählt, sehr gut. Leise und mit Abstand, aber nicht kalt, sondern mit Mitgefühl.


    In Micks Kapitel (3. Kap.) ging mir die mögliche Bedeutung von Kunst, Musik (oder auch Literatur) durch den Kopf. "Motsarts" Musik (ich war mir erst nicht ganz sicher, ob Mick Chopin oder Mozart gehört hatte) trifft Mick direkt ins Herz und öffnet ihr eine neue Welt außer- oder überhalb ihres begrenzten Kleinstadterfahrungsraumes. Ähnliches gilt auch für die Kunst (welch ein Glück, dass es den kostenlosen Malkurs gab), aber für Mick ist Musik noch wichtiger. Sie bräuchte einen Lehrer und ein Instrument. Oder auch nur ein Instrument - ich traue ihr zu, sich selbst einiges erarbeiten zu können. Jedenfalls freut es mich, dass sie (noch) träumt, und Ziele hat, die sie zu verwirklichen sucht. Sie will mehr vom Leben, als ihr so ohne weiteres geboten wird. Hoffentlich wird sie nicht irgendwann resignieren.


    Noch ein losgerissener Gedanke: Singers Name. Ist der eigentlich äußerst ironisch - wenn einer der Protagonisten garantiert nicht singt, dann doch der Taubstumme - oder will er sagen, dass man auch mit anderen Mitteln singen kann, dass Gesang nicht unbedingt hörbar sein muss, aber doch vorhanden sein kann?

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hallo ihr Lieben :winken:,


    ich habe gerade das erste Kapitel des 2. Teils gelesen und bin noch ganz hin und weg von der Szene, in der Mick Beethovens dritter Sinfonie lauscht und nicht weiß, wie sie mit den Gefühlen, die die Musik in ihr hervorruft, umgehen soll. Welche Talente schlummern wohl in dem Mädchen, was könnte aus ihr werden wenn jemand entdecken würde, welch musikalisches Gespür sie hat? Aber sie vertraut sich niemandem an, die Nächte und die Musik sind ihr Geheimnis. Wahrscheinlich weiß sie schon, dass niemand Verständnis für sie hätte, in ihrer Familie geht darum, irgendwie nach dem Unfall des Vaters über die Runden zu kommen, da gibt es für solche "Flausen" keinen Platz.


    Den anderen Hauptfiguren geht es ja wie Mick, sie sind einsam, möchten sich mitteilen, wissen aber nicht wie und wem. Da passt das "Nighthawks"-Bild natürlich wie die Faust aufs Auge, aber auch das Bild "Automat", welches Diogenes für seine Taschenbuchausgabe gewählt hat. Danke finsbury und MacOss fürs Verlinken.


    Besonders nahe ging mir auch das letzte Kapitel des ersten Teils, in dem Singer seinen griechischen Freund in der Anstalt besucht. Er, der sonst immer allen anderen zuhört, versucht sich in Antonapoulos Gegenwart alles von der Seele zu "reden", sein Freund ist aber nur noch an Essen interessiert und der Besuch endet eher traurig. Singer ist wahrscheinlich die tragischste Figur von allen, den auch wenn er oft Besuch bekommt und die Menschen ihn schätzen und sich bei ihm wohlfühlen, kann er seine Gefühle und Gedanken gar nicht zum Ausdruck bringen, auch scheinen all seine Besucher zwar gerne bei ihm ihr Herz auszuschütten, doch interessiert sich tatsächlich auch jemand auch für ihn?



    Noch ein losgerissener Gedanke: Singers Name. Ist der eigentlich äußerst ironisch - wenn einer der Protagonisten garantiert nicht singt, dann doch der Taubstumme - oder will er sagen, dass man auch mit anderen Mitteln singen kann, dass Gesang nicht unbedingt hörbar sein muss, aber doch vorhanden sein kann?


    Hm, das ist eine gute Frage. Ironisch ist es schon, dass gerade ein Taubstummer Singer heißt. Singer ist ja geradezu das Gegenteil von Gesang, er ist Ruhe und Frieden für die Menschen um ihn herum.


    Auch wenn es nicht gerade ein aufmunterndes Buch ist, bin ich schwer begeistert.

    :lesen: Anthony Powell - The Kindly Ones <br /><br />Mein SUB<br />Meine [URL=https://literaturschock.de/literaturforum/forum/index.php?thread/32348.msg763362.html#msg763362]Listen

    Einmal editiert, zuletzt von knödelchen ()

  • Ich habe jetzt mal mein Lesetagebuch von 2003 hervorgekramt, da habe ich "Das Herz ist ein einsamer Jäger" nämlich zum ersten Mal gelesen und mit einer 1 bewertet. Toll dass ich das Buch durch die Leserunde nun wieder in die Hand genommen habe :klatschen:.

    :lesen: Anthony Powell - The Kindly Ones <br /><br />Mein SUB<br />Meine [URL=https://literaturschock.de/literaturforum/forum/index.php?thread/32348.msg763362.html#msg763362]Listen

  • Ja, Singer, in der Tat ein sprechender, hier scheinbar paradoxer Name: Er singt zwar nicht, bringt aber die anderen zum "Singen".


    Überhaupt spielt die Musik eine große Rolle: Wie knödelchen gefällt mir die Szene, in der Mick Beethovens Dritte zum ersten Mal hört. Neben der hohen literarischen Qualität. mit der diese Begegnung geschildert wird, erkenne ich hier auch, wie es ist, wenn einem Musik nicht überall zur Verfügung steht. Ich hatte das Glück, durch meinen Vater früh an die klassische Musik herangeführt zu werden. Aber welche Urgewalt Mozart und Beethoven für ein Kind sein können, die sich diesen Zugang selber erarbeiten muss, das zeigt dieser Roman in sehr schön poetischer Weise.

  • Hallo zusammen,


    auch von mir Danke für die Verlinkung der Bilder von Edward Hopper. Die Ähnlichkeiten zwischen McCullers sprachlichen Bildern im Roman und den Gemälden von Hopper finde ich so frappierend, dass ich mich gefragt habe, ob nicht auch im realen Leben eine Verbindung zwischen den beiden bestand. Gefunden habe ich dazu nicht wirklich etwas. In der Autobiographie von McCullers wird Hopper auch nicht erwähnt, zumindest finde ich ihn nicht hinten im Personenregister. Allerdings habe ich dank Wikipedia festgestellt, dass beide im Jahr 1967 verstorben sind, McCullers im Stadtteil Nyack, New York, was wiederrum der Geburtsort von Hopper ist. Auch wenn sie sich nicht getroffen haben, so haben sie sich vielleicht künstlerisch gegenseitig inspiriert.


    Nun, jedenfalls komme ich auch eher langsam voran, habe heute mittag das 1. Kapitels des 2. Teils beendet.



    Ich habe jetzt mal mein Lesetagebuch von 2003 hervorgekramt, da habe ich "Das Herz ist ein einsamer Jäger" nämlich zum ersten Mal gelesen und mit einer 1 bewertet. Toll dass ich das Buch durch die Leserunde nun wieder in die Hand genommen habe :klatschen:.


    Wie ich glaube ich schon einmal geschrieben habe, ist das Buch auch für mich eine WihoLek und für mich war es damals auch ein absolutes Highlight.



    und bin noch ganz hin und weg von der Szene, in der Mick Beethovens dritter Sinfonie lauscht und nicht weiß, wie sie mit den Gefühlen, die die Musik in ihr hervorruft, umgehen soll.


    Ja, diese Szene ist mir auch all die Jahre hinweg im Kopf geblieben. Auch Elke Heidenreich hat in einer ihrer Kolummen darüber geschrieben:
    "Kam mir zu Hause alles eng und klein vor und ich sehnte mich nach Schönheit, dann saß ich mit Mick aus Das Herz ist ein einsamer Jäger von Carson McCullers unter den Fenstern reicher Leute und hörte Mozart."



    Besonders nahe ging mir auch das letzte Kapitel des ersten Teils, in dem Singer seinen griechischen Freund in der Anstalt besucht. Er, der sonst immer allen anderen zuhört, versucht sich in Antonapoulos Gegenwart alles von der Seele zu "reden", sein Freund ist aber nur noch an Essen interessiert und der Besuch endet eher traurig.


    Das hat mich auch traurig gestimmt. Singer freut sich zwar über seine Besucher aber so richtig glücklich ist er nur in Gegenwart des dicken Griechen, und gerade der behandelt ihn so mies.


    Besonders interessant war für mich auch das Kapitel über Doktor Copeland. Der ist seiner Zeit einfach weit voraus, denn die amerikanische Bürgerrechtsbewegung beginnt erst 1955 mit dem Montgomery-Busboykott, also 15 Jahre später als das Buch spielt (Erstveröffentlichung des englischen Originals 1940). Damit ist auch er ein Außenseiter, wie die anderen Figuren. Er gilt zwar als hochgeschätzter Arzt und die Leute benennen ihre Kinder nach ihm, doch sich jemanden mitteilen und anvertrauen kann er nicht. Seine Ideen und Hoffnungen für die Zukunft der afroamerikanischen Bevölkerung sind zwar richtig und im besten Sinne, doch hat er offenbar den falschen Weg dafür gewählt, als er seine eigenen Kinder auf Biegen und Brechen für seine Mission rekrutieren wollte.

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  • Nachtrag:
    So paradox wie es an ein, zwei Stellen im Roman angesprochen wird, dass die vier anderen sich ausgerechnet einem Taubstummen anvertrauen, so verwunderlich finde ich das auf den zweiten Blick gar nicht. Bei manchen Dingen kann man sich gegenüber einem Außenstehenden viel besser öffnen als bei einer sonst nahestehenden Person. Das Singer dazu taubstumm ist, ist der Sache sogar behilflich. Schließlich brauchen die anderen bei dieser stillen, immer sanften und lächelnden Person so keine Angst oder Scham empfinden, keine Ablehnung oder unbequeme Fragen zu fürchten.

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  • rubenselfe, so ähnlich sehe ich das auch wie du in deinem Nachtrag. Übrigens meine ich, dass Singer ein ganz ähnliches Verhältnis zu seinem griechischen Freund hat. Dieser hat zwar die gleiche Behinderung und kann, zumindest anfangs auch ein wenig die Taubstummensprache, deshalb ist er derjenige, dem sich Singer seiner Meinung nach nur mitteilen kann, andererseits bleibt er für Singer ebenso ein Rätsel und ein Gefäß für die eigenen Gedanken,wie es Singer für die anderen drei ist. Sogar die besonders geistreichen und gleichzeitig rätselhaften Augen teilen sich die beiden.
    Nachdem ich im ersten Buch noch dachte, dass diese Menschen vielleicht in wirkliche Kommunikation treten und einander helfen könnten, wird mit dem Fortschreiten des zweiten Buches immer klarer, dass eben doch alle einsam bleiben müssen, weil sie sich selber im Wege stehen.

  • Ich habe noch ein wenig in McCullers Autobiographie "Illumination and Night Glare" geblättert und folgende interessante Passage über den Entstehungsprozess des Romans gefunden, die ich gerne mit euch teilen möchte:


    "Als ich siebzehn war, wurde mein Arbeitsleben mehrere Jahre lang durch einen Roman, den ich einfach nicht verstehen konnte, fast zunichte gemacht. Ich hatte mindestens fünf oder sechs Personen, die ich deutlich vor mir sah. Diese Personen, die ich verstand, waren ständig mit der Hauptfigur im Gespräch, aber die Hauptfigur selbst blieb verschwommen, obwohl ich wußte, daß sie für das Buch von zentraler Bedeutung war.


    (...) fiel mir die Lösung ganz plötzlich ein. Bis dahin hatte die Hauptfigur, die immer schwieg Harry Minowitz geheißen, aber als ich grübelnd auf und ab marschierte ging mir plötzlich auf, daß Harry taubstumm war. Das war der Grund, warum die anderen städnig auf ihn einredeten, und natürlich auch, warum er nie antwortete. Diese Erkenntnis war eine echte Erleuchtung (...) Harry Minowitz wurde sofort in Singer umbenannt , da dieser Name die neue Konzeption besser zum Ausdruck brachte (...)" (S. 35f.)


    Saltanah hatte also recht mir ihrer Vermutung über Singers Namen. :winken:





    Noch ein Gedanke zu Portia. Auf Seite 134 meiner Ausgabe sagt sie über sich, Highboy und Willie. "Wir waren immer wie Drillinge.". Damit stehen die drei natürlich im Kontrast zu den fünf einsamen und einzelgängerischen Hauptfiguren.


    Und Carson McCullers schreibt zu Portia, Highboy und Willie ihrer Autobiographie:
    "Highboy, ihr Mann, und Willie, ihr Bruder, sind nicht von ihr zu trennen. Die drei Charaktere sind insofern das genaue Gegenteil von Dr. Copeland und den anderen zentralen Charakteren, als sie keinerlei Versuch unternehmen, gegen die Umstände anzukämpfen."
    (S. 327)

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    Einmal editiert, zuletzt von rubenselfe ()

  • Vielen Dank, rubenselfe, für die interessanten Auszüge aus der Autobiografie. Wie bemerkenswert, dass McCullers dann den Namen "Harry Minowitz" für Micks Jugendfreund benutzte. Auch er ist eine traurige, selbstquälerische Gestalt.


    Bin fertig mit der Lektüre. Ich konnte gestern die Augen nicht aus dem Buch lassen, bevor ich es durchhatte. Da ich im Moment Urlaub habe, war das kein Problem.



    Das Buch zieht einen am Ende ganz schön runter, ist aber toll geschrieben. Ich habe mir jetzt erstmal die anderen Sachen von McCullers besorgt und bedanke mich, dass ihr mich auf diese tolle Schriftstellerin aufmerksam gemacht habt.

  • Das klingt ja super interessant, was ihr hier über dieses Buch schreibt. Ich werde es mir mal beschaffen und eure Meinungsäußerungen hier weiter verfolgen. :winken:

    Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden (R. Luxemburg)

    Was A über B sagt, sagt mehr über A aus als über B.

  • Ich hänge weit hinter euch her, was aber nicht am Buch, sondern an meiner Müdigkeit und dem furchtbaren Wetter liegt.


    Gestern habe ich den ersten Teil beendet und auch die letzten beiden Protagonisten genauer kennengelernt. Jake und der Doktor ähneln sich darin, dass beide eine "Mission" haben, sie das Leben ihrer Mitmenschen verbessern wollen, dabei aber eher auf Desinteresse oder Ablehnung stoßen.


    Der Doktor, dessen Namen ich einfach nicht behalten kann, tut mir dabei besonders leid. Er will so viel, weiß so genau, wie es besser werden könnte, stößt dabei seine Mitmenschen aber vor den Kopf, besonders natürlich seine Kinder. Die mir ihrerseits mindestens genauso leid tun, wie er. Sie hatten keine glückliche Kindheit, da der Druck auf sie einfach zu groß war. Ihr Vater ließ sie nicht selbst wachsen, sondern versuchte (vergeblich), sie in eine von ihm vorgegebene Bahn zu drängen. Glück für sie, dass sie schließlich bei dem Großvater landeten, wahrscheinlich aber zu spät. Portia als die Jüngste hat da am meisten Glück gehabt, und wohl daher als einzige Kontakt zum Vater.
    An dieser Figur zeigt McCullers deutlich (aber ohne es vorzubuchstabieren), wie wenig es möglich ist, eine Person eindeutig als "gut" oder "böse" zu bezeichnen. Der Doktor ist ein "Guter", arbeitet bis zum Umfallen selbstlos für andere, war aber für seine Kinder eine Katastrophe. Eine tragische Figur.


    Noch tragischer erscheint mir aber Singer. Ihm, der allen anderen die Möglichkeit gibt, sich das, was sie bedrückt, von der Seele zu reden, fehlt diese Möglichkeit selbst. Wie sehr er sie braucht, zeigt sich im sechsten Kapitel, als er seinen griechischen Freund besucht, der aber nur Interesse am Essen hat, und Singers verzweifelte Versuche, sich zu "entleeren", ignoriert. Wer hört dem Zuhörer zu? Ich wünschte ihm sehr, dass er jemanden fände, sehe dieWahrscheinlichkeit dazu in diesem Buch aber als eher gering an.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Noch tragischer erscheint mir aber Singer. Ihm, der allen anderen die Möglichkeit gibt, sich das, was sie bedrückt, von der Seele zu reden, fehlt diese Möglichkeit selbst. Wie sehr er sie braucht, zeigt sich im sechsten Kapitel, als er seinen griechischen Freund besucht, der aber nur Interesse am Essen hat, und Singers verzweifelte Versuche, sich zu "entleeren", ignoriert. Wer hört dem Zuhörer zu? Ich wünschte ihm sehr, dass er jemanden fände, sehe dieWahrscheinlichkeit dazu in diesem Buch aber als eher gering an.


    Ja, genauso ist es! Alle, wie großartig sie auch als Persönlichkeit sind, scheitern an der Unmöglichkeit erfüllender Kommunikation. Es findet kein einziger Austausch statt, in dem sich die Protagonisten verstehen und unterstützen.


    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • Bis zum Ende


    Ich habe das Buch gestern Nacht auch noch beendet und habe immer noch einen Kloß im Hals. Wie auch schon beim ersten Lesen ist es besonders Mick, deren Geschichte mich traurig macht, opfert sie doch für ihre Familie ihre innere Welt und ihre Musik. Doch auch die anderen drei scheitern, jeder auf seine Weise. Singer hatte ihnen irgendwie durch seine bloße Anwesenheit und sein "offenes Ohr" Mut und Zuversicht gegeben.



    Alle, wie großartig sie auch als Persönlichkeit sind, scheitern an der Unmöglichkeit erfüllender Kommunikation. Es findet kein einziger Austausch statt, in dem sich die Protagonisten verstehen und unterstützen.


    Bezeichnend fand ich hier die Szene, in denen alle vier, die sonst immer einzeln bei Singer erscheinen und ihm ihr Herz ausschütten, zusammen bei ihm sind, aber keinerlei Zugang zueinander finden. Für Singer ist das ein Rätsel, hatte er doch gedacht, dass zwischen seinen Besuchern ein reger Austausch stattfinden könnte, wenn sie einmal aufeinander treffen.



    Noch tragischer erscheint mir aber Singer. Ihm, der allen anderen die Möglichkeit gibt, sich das, was sie bedrückt, von der Seele zu reden, fehlt diese Möglichkeit selbst. Wie sehr er sie braucht, zeigt sich im sechsten Kapitel, als er seinen griechischen Freund besucht, der aber nur Interesse am Essen hat, und Singers verzweifelte Versuche, sich zu "entleeren", ignoriert. Wer hört dem Zuhörer zu? Ich wünschte ihm sehr, dass er jemanden fände, sehe dieWahrscheinlichkeit dazu in diesem Buch aber als eher gering an.


    Singer ist wohl tatsächlich die tragischste Figur in diesem Buch. Für alle anderen ist er eine Art von Heilsbringer, ihm werden allerlei Gaben und Geschichten angedichtet und dabei ist er nur schrecklich einsam inmitten der Menschen die ihn besuchen, aber ihm nicht das geben können was ihm sein griechischer Freund gegeben hat.



    "Als ich siebzehn war, wurde mein Arbeitsleben mehrere Jahre lang durch einen Roman, den ich einfach nicht verstehen konnte, fast zunichte gemacht. Ich hatte mindestens fünf oder sechs Personen, die ich deutlich vor mir sah. Diese Personen, die ich verstand, waren ständig mit der Hauptfigur im Gespräch, aber die Hauptfigur selbst blieb verschwommen, obwohl ich wußte, daß sie für das Buch von zentraler Bedeutung war.


    (...) fiel mir die Lösung ganz plötzlich ein. Bis dahin hatte die Hauptfigur, die immer schwieg Harry Minowitz geheißen, aber als ich grübelnd auf und ab marschierte ging mir plötzlich auf, daß Harry taubstumm war. Das war der Grund, warum die anderen städnig auf ihn einredeten, und natürlich auch, warum er nie antwortete. Diese Erkenntnis war eine echte Erleuchtung (...) Harry Minowitz wurde sofort in Singer umbenannt , da dieser Name die neue Konzeption besser zum Ausdruck brachte (...)" (S. 35f.)


    Saltanah hatte also recht mir ihrer Vermutung über Singers Namen. :winken:


    Das ist wirklich sehr interessant, vielen Dank dafür rubenselfe! Die Figur mit dem Namen Harry Minowitz hat Carson McCullers dann doch auch in den Roman mit eingebaut. Ebenfalls ein Einzelgänge und Grübler. Beim ersten Lesen des Romans dachte ich noch dass er vielleicht Micks Freund und Vertrauter werden und Singers Platz einnehmen könnte, aber auch diese Hoffnung zerschlägt sich nach dem Ausflug.



    Ich habe mir jetzt erstmal die anderen Sachen von McCullers besorgt und bedanke mich, dass ihr mich auf diese tolle Schriftstellerin aufmerksam gemacht habt.


    Bei mir stehen ja auch noch die anderen Bände aus der McCullers-Box im Regal, vielleicht können wir ja wieder im Rahmen einer kleinen Leserunde etwas von ihr lesen?

    :lesen: Anthony Powell - The Kindly Ones <br /><br />Mein SUB<br />Meine [URL=https://literaturschock.de/literaturforum/forum/index.php?thread/32348.msg763362.html#msg763362]Listen

  • Ich schleiche hinter euch her und bin nun im 8. Kapitel vom 2. Teil.


    -> Die interessanteste Figur ist für mich weiterhin Doktor Copeland und das Kapitel mit der Weihnachtsfeier und seiner Ansprache habe ich aufmerksam verfolgt. Besonders sein abschließendes Wort zu John Singer finde bemerkenswert:


    Zitat

    "Lehrer" sagte er heiser. "Die brauchen wir am nötigsten. Führer. Jemanden, der uns eint und führt."


    An der Stelle muss ich natürlich sofort an die beiden Führer der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Martin Luther King und Malcolm X denken, auch wenn das Buch 1940 erschien und die beiden Herren da ihren Auftritt auf der großen Weltbühne noch vor sich hatten.



    -> Mir wird das Herz schwer wenn ich lese mit welcher Hingabe John Singer diese einseitige Hingabe zu seinem griechischen Freund pflegt und in ihm eine ganze andere Person sieht als Antonapoulos eigentlich ist. Dass aber plötzlich die ganze Stadt im Umkehrschluss in Singer gerade das zu erkennen meint, was sich die jeweilige Person wünscht, finde ich etwas seltsam. Wenns nur seine vier Besucher beträfe, ja das kann ich noch nachvollziehen, aber diese Legendenbildung um Singers Person ist mir - genau wie Biff - ein Rätsel.



    -> Die "Gesammelten Erzählungen" von McCullers mochte ich sehr. Ansonsten habe ich von ihr nur noch "Die Ballade vom traurigen Cafe" gelesen, was mir ehrlich gesagt nicht besonders in Erinnerung geblieben ist.

    Ich hieß hier mal caithlin.<br /><br />&quot;If I had a dollar for every time i felt more emotion for a fictional character than people in real life, I could pay for the psychiatric help I obviously need.&quot;