Patrick O'Brian - Die Aubrey/Maturin Reihe

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  • Hallo allerseits,
    ich habe mich eine Zeit lang nicht blicken lassen, war aber keineswegs faul, sondern habe eifrig einige Reihen abgeschlossen, die schon länger bei mir rumdümpelten. Dazu gehörte auch die marinehistorische Aubrey/Maturin-Reihe von Patrick O'Brian. Ich hatte die Reihe (20 Bände) vor 5 oder 6 Jahren angefangen und jedes Jahr 1 bis 2 Bände gelesen. Jetzt wollte ich es aber wissen und habe von Juli bis jetzt die fehlenden 10 Bände gelesen. WOW, was für ein Leseerlebnis! Früher dieses Jahr hatte ich ja über die Hornblower-Reihe berichtet, die den Typus der modernen marinehistorischen Romanreihe begründet hat; Hornblower wird immer ein Klassiker bleiben, aber für mich ist O'Brian der Goldstandard jeder historischen Romanreihe!


    Für diejenigen, die POB (wie Patrick O'Brian unter seinen Verehrern genannt wird) noch nicht kennen: worum geht es? Oberflächlich betrachtet ist dies eine von mittlerweile vielen Reihen, die einen Offizier der Royal Navy zu Zeiten der napoleonischen Kriege durch seine Karriere verfolgt. Hier ist es Captain "Lucky" Jack Aubrey der im ersten Band mit dem Schiffsarzt, Naturforscher und Geheimagenten Stephen Maturin zusammentrifft; zusammen werden die beiden die sieben Weltmeere befahren und zahllose Abenteuer bestehen. Während sich aber die meisten Reihen dieser Art ganz auf die spannenden und heldenhaften Aktionen auf See konzentrieren - Seeschlachten, Verfolgungsjagten, Schiffbruch und Gefangennahme - zielt O'Brian viel höher: er entwirft ein komplettes und komplexes Gesellschaftsbild der damaligen Zeit, unglaublich detailliert und vielschichtig und im englischen Original in einer Sprache, die einer Jane Austen ebenbürtig sein soll. Auch O'Brian versteht sein Seehandwerk: manche Autoren schreiben vielleicht detailliertere Seeschlachten (wer dies braucht, mit allen seinen blutigen Einzelheiten), aber keiner schafft es wie POB, das Leben an Bord eines Segelschiffes mit allen seinen scheinbar unwichtigen Details zum Leben zu erwecken. Auch Pulverdampf gibt es nicht zu kanpp, aber hier kämpfen und sterben nicht Superhelden und Pappfiguren, sondern echte Menschen, die bis in die kleinsten Nebenrollen wunderbar charakterisiert sind. Auch hier lohnt ein näherer Vergleich mit anderen Reihen: da gibt es eine Sorte, die neben dem meist überlebensgroßen und unverwundbaren Superhelden nur gesichtslose Pappfiguren zu bieten hat; und die andere Sorte, in der der Captain mit seinem dream-team an Matrosen und Offizieren von Folge zu Folge segelt, ohne dass sich hier viel ändert. Auch das Duo Jack/Stephen ist viel mehr als das übliche Team aus Held und buddy, der nur dazu da ist, die Größe des Helden widerzuspiegeln (siehe Sherlock Holmes & Watson): zwischen den beiden entwickelt sich eine Freundschaft, die so menschlich, so tief und vielschichtig ist, wie man sie selten in der Literatur findet.


    Wie schon erwähnt, entwirft POB ein komplexes Gesellschaftsbild der damaligen Zeit; dazu gehören Betrachtungen zur Naturkunde (Stephen Maturin ist in Teilen Darwin nachempfunden), Medizin (und was man damals für Medizin gehalten hat), Musik (Jack und Stephen spielen auf ihren langen Reisen gerne Geige und Cello im Duett, und POB beweist auch hier, dass er sich in der Musik der damaligen Zeit meisterhaft auskennt), Politik und Justiz (so geschickt Jack auf See ist, so ungeschickt agiert er oft auf dem Lande und wird deshalb mehrmals in politische und juristische Händel verstrickt, die seiner Karriere überhaupt nicht zuträglich sind) und überhaupt zur conditio humana, zu Liebe und Leid, zu den Grundlagen unseres Fühlens und Handelns. Und in den späteren Bänden merkt man deutlich, dass auch der Autor älter geworden ist (POB starb nach dem 20. Band mit 85 Jahren): die action-geladenen Kampfszenen (wenn auch weiter vorhanden) treten etwas zurück, Stephen und Jack bemerken (überrascht) an sich selbst erste Zeichen des Alterns, die Stimmung der Bücher bekommt einen schwermütig-elegischen Ton und POB scheut sich am Ende auch nicht, einige Charaktere, die praktisch seit dem ersten Band dabei waren, sterben zu lassen.


    Zum Stilistischen: nach all diesen Lobpreisungen verwundert es nicht, dass POB auch in stilistischer Hinsicht ein Meister war und meilenweit über dem Durchschnitt der historischen Romane schrieb. Manchen Lesern, die eher action-geladene Bücher gewohnt sind, mag der Stil mal zu geschwätzig erscheinen, mal zu knapp, wenn POB zB mitten aus einem Gefecht plötzlich um Wochen vorspringt, aber stilistisch sehr geschickt die fehlenden Informationen in Briefen, die Jack an seine Frau schreibt, nachholt. Seine Dialoge sind geschliffen und immer on-spot, und oft von einer solchen hintergründigen Komik, dass ich oft laut losprusten musste (an einer Stelle zB nimmt Stephen ein furchtbar stinkendes Kraut für seine Apotheke an Bord und überlegt, wo er es lagern soll (auf anderen Schiffen wird es hoch am Mast gelagert, weil es sonst zu unerträglich ist); er kommt zum Schluß, dass es im Fähnrichs-Logis, das von pubertären Jungsbewohnt wird, kaum auffallen sollte, während Jack beim Betreten des Raumes fragt, ob dort irgendetwas verwesen würde)


    Manche meinen, die Aubrey/Maturin Reihe wäre keine Folge von 20 Büchern, sondern ein einziges, 7000 Seiten langes Buch, und da ist viel Wahres dran, zumal in der zweiten Hälfte der Reihe, wo die einzelnen Bände nahtlos aneinander anschliessen und es viele übergreifende Handlungsbögen gibt. Das war auch der Grund, warum ich jetzt die fehlenden 10 Bände am Stück gelesen habe: man mag wirklich nicht aufhören und wenn ich die Reihe noch einmal lese (was ich auf jeden Fall und sicherlich recht bald tun werde), werde ich sie von Band 1 bis Band 20 non-stop lesen.


    So, genug geschwafelt, mein Fazit sollte mittlerweile klar erkennbar sein: volle Leseempfehlung für alle, die nautische Abenteuerliteratur, historische Romane im allgemeinen UND überhaupt stilistisch brilliante Bücher lieben. Warnen sollte ich nur davor, dass, hat man die Bücher einmal angefangen, man nicht mehr von ihnen loskommt, und dass man für viele eher mittelmässige Bücher verdorben ist; die eigene Messlatte, was ein gutes Buch ausmacht, hängt bei mir jetzt um einiges höher.


    Morwen

    "What we remember is all the home we need."

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  • Hach, Mensch, jetzt würde ich mich gerne auf der Stelle einem POB-Rausch hingeben. Ich muss gestehen, dass ich bisher nur den ersten Band kenne, aber den fand ich wirklich brillant. Die Paarung Aubrey/Maturin ist eine der besten Männerfreundschaften, die mir literarisch je untergekommen sind, weil sich sowohl ihre Gegensätze als auch ihre Gemeinsamkeiten so wunderbar ergänzen.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Schöner Text Morwen! Trifft wunderbar, was so besonders ist an diesen Büchern. Zum Thema Nicht-Sidekick, ich denke, das ist das hübsche hier, Jack ist genauso Stephens Sidekick, wie umgekehrt. Ich reihe diese Romane nicht unbedingt unter Marinehistorisch ein, für mich sind sie mehr historische Romane, die eben teilweise im Marinemilieu spielen, aber sie sind eben noch sehr viel mehr.


    Ich warte darauf, dass ich eine reiche Pensionistin bin. Dann kaufe ich sie mir alle auf Englisch und lese sie alle noch mal. Leider habe ich mit Englisch lesen erst begonnen, als ich die Reihe auf Deutsch vollständig hatte. Aber das war ein Fest, jedes Mal wenn ein neuer Band auf Deutsch erschienen ist. Immer ein Highlight!