Thomas Hardy - Der Bürgermeister von Casterbridge/The Mayor of Casterbridge

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  • Aber ich möchte doch eine Sache erwähnen: Was mir sehr gefällt und was ich für einen genialen Schachzug Hardys halte, ist aber die Lage von Lucettas Haus: Hardy bereitet hier für seine breit schildernde Erzählweise eine wunderbare Bühne!


    Es mag etwas weit hergeholt klingen, aber das erinnerte mich an eine Szene aus Prousts Recherche, wo der Ausblick aus einem Fenster auf den Marktplatz beschrieben wird. Das war allerdings reine Kulisse und nicht die Bühne selbst.



    Bis einschl. Kapitel 36: Elizabeth beobachtet Henchard, wie er bei einer Gelegenheit im Getreidespeicher den Arm nach Farfrae ausstreckt und anscheinend selbst überlegt, ob er ihn durch die Bodenluke nach unten in den sicheren Tod stoßen soll oder nicht. Das ist wieder die dunkle Seite von ihm. Noch ist nichts passiert, aber wie lange noch? Später bei der Situation, als Henchard Farfrae die alten Briefe von Lucetta vorliest, hat er Skrupel, ihren Namen zu nennen. Mir scheint, er weiß selbst nicht, wie er mit dem ganzen Malheur umgehen soll. Im Zusammenhang mit den Briefen wird auch Jopp mehr in den Mittelpunkt gebracht. Es ist schon ziemlich blauäugig von Lucetta, ihm so zu vertrauen, vor allem, nachdem sie seiner Bitte um Fürsprache bei einem möglichen Arbeitgeber nicht nachgekommen ist.

  • Auch wenn es momentan still ist im Thread, schreibe ich weiter, so lange meine Eindrücke noch frisch sind. Diesmal bis einschließlich Kapitel 41.


    Ungefähr im Kapitel 37 zeigt sich, dass Farfrae langsam in der Gunst der einfachen Bürger sinkt. Früher war er noch der einfache Bursche, der in der Schänke für alle sang, aber mit seiner zunehmenden Verantwortung als Bürgermeister und dem Wunsch, neue Methoden im Getreidehandel einzuführen, wird deutlich, dass er nach mehr strebt. Selbst bei den Frauen sind ihm die heiratswilligen Töchter der Stadt nicht gut genug.


    Im Kapitel 38 gibt es einen Kampf zwischen Henchard und Farfrae, doch als Henchard den Jüngeren töten könnte, lässt er von ihm ab. Zeigt sich hier endlich doch der Charakter, von dem im Untertitel "Leben und Tod eines Mannes von Charakter" die Rede ist? Irgendwann muss das doch zum Vorschein kommen. Ich verstehe immer noch nicht, was Henchard eigentlich will. Er ist nicht leicht ihn einzuschätzen, denn wie finsbury am Anfang schon schrieb, kann man nicht in ihn hineinsehen. Man bekommt eine Außenansicht, anhand der man sich über seine Gedanken ein Bild machen kann. Bei den anderen Protagonisten ist das genauso, aber da sind die Informationen meines Erachtens noch spärlicher.


    Und dann kommt dieser Skimmington-Ritt, der für mich eine wesentliche Bedeutung hat. Lucetta kann sich sofort als eine der Personen erkennen und ist davon so tief getroffen, dass sie einen Anfall erleidet. Mir ist leider nicht klar, ob ihr die Verachtung der Gesellschaft so zu schaffen macht oder die Erinnerung an ihr Verhalten damals mit Henchard. Letzterer entdeckt bald darauf sein Ebenbild im Fluss, weiß aber im ersten Moment nicht, dass es nur sein Puppen-Ebenbild ist. Auch er ist zutiefst betroffen. Sieht er da sein Ende im Fluss, und wäre der Tod für ihn eine Bedrohung oder die Erlösung?


    Newson, der Matrose, taucht auch wieder auf (das war der Spoiler, von dem ich geschrieben hatte). Henchard belügt ihn und erklärt, dass Elizabeth tot sei, was Newson fraglos hinnimmt. Hier kann ich Henchards Verhalten sogar verstehen. Er möchte nicht, dass Elizabeth ihm auch noch genommen wird. Vielleicht geht ihm langsam das Licht auf, dass sie die Einzige ist, die ihm einfach zur Seite steht, ohne etwas von ihm zu erwarten oder um gesellschaftlichen Konventionen zu genügen.

  • Ich bin inzwischen fertig, hatte aber noch keine Zeit, mehr zu schreiben.



    Im Kapitel 38 gibt es einen Kampf zwischen Henchard und Farfrae, doch als Henchard den Jüngeren töten könnte, lässt er von ihm ab.


    Da habe ich ganz schön die Luft angehalten. Einerseits war Henchard ja durchaus auf einen fairen Kampf bedacht, andererseits wusste er wohl, dass er selbst mit nur einem kampffähigen Arm die Oberhand behalten würde.


    Was Henchard will? Ich glaube, das weiß er manchmal selbst nicht so genau, außer vielleicht, nicht noch mehr zu verlieren. Er handelt immer wieder unbedacht, aus einem Augenblick heraus, und denkt erst später über die Konsequenzen nach (oft genug mit einiger Reue). Für mich ist er ein Mensch, der seine stark schwankenden Gefühle nicht unter Kontrolle hat.


    Zitat

    Zeigt sich hier endlich doch der Charakter, von dem im Untertitel "Leben und Tod eines Mannes von Charakter" die Rede ist? Irgendwann muss das doch zum Vorschein kommen.


    Da fand ich das Nachwort meiner Ausgabe ganz aufschlussreich. Charakter wird da nicht im Sinne von "guter Charakter" gedeutet, sondern eher als "starker Charakter", weil Henchard mit all seinen Launen und impulsiven Handlungen der wichtigste Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist und die anderen Figuren eher Beiwerk bleiben.


    Zitat

    Lucetta kann sich sofort als eine der Personen erkennen und ist davon so tief getroffen, dass sie einen Anfall erleidet. Mir ist leider nicht klar, ob ihr die Verachtung der Gesellschaft so zu schaffen macht oder die Erinnerung an ihr Verhalten damals mit Henchard.


    Ich hatte den Eindruck, dass sie völlig geschockt darüber war, dass ihre Vorgeschichte nicht nur ans Licht gekommen ist, sondern auf diese groteske, demütigende Weise für alle sichtbar gemacht wurde. Das ist aber auch fies, Menschen so an den Pranger zu stellen!


    Zitat

    Letzterer entdeckt bald darauf sein Ebenbild im Fluss, weiß aber im ersten Moment nicht, dass es nur sein Puppen-Ebenbild ist. Auch er ist zutiefst betroffen. Sieht er da sein Ende im Fluss, und wäre der Tod für ihn eine Bedrohung oder die Erlösung?


    Ich glaube fast, letzteres.


    Zitat

    Newson, der Matrose, taucht auch wieder auf (das war der Spoiler, von dem ich geschrieben hatte). Henchard belügt ihn und erklärt, dass Elizabeth tot sei, was Newson fraglos hinnimmt. Hier kann ich Henchards Verhalten sogar verstehen. Er möchte nicht, dass Elizabeth ihm auch noch genommen wird. Vielleicht geht ihm langsam das Licht auf, dass sie die Einzige ist, die ihm einfach zur Seite steht, ohne etwas von ihm zu erwarten oder um gesellschaftlichen Konventionen zu genügen.


    Ich fand es zwar schon heftig, dass er zu einer solchen Lüge greift, aber verständlich war es dennoch, aus genau dem Grund, den Du anführst.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Da fand ich das Nachwort meiner Ausgabe ganz aufschlussreich. Charakter wird da nicht im Sinne von "guter Charakter" gedeutet, sondern eher als "starker Charakter", weil Henchard mit all seinen Launen und impulsiven Handlungen der wichtigste Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist und die anderen Figuren eher Beiwerk bleiben.


    Das habe ich mittlerweile auch gelesen und das Buch beendet. Zum Ende hin zeigt Henchard dann ja wirklich Charakter, indem er seine Beerdigung so gestalten lässt, dass Elizabeth nicht davon erfährt und auch alles andere fast anonym ablaufen soll. Immerhin muss sie so nicht damit rechnen, plötzlich über sein Grab zu stolpern, hat aber die Möglichkeit, seinen Verbleib mit ein bisschen Herumfragen in Erfahrung zu bringen, sofern sie das einmal möchte.


    Es ist mutig von Elizabeth, sich wieder mit Farfrae einzulassen. Ich habe zwar damit gerechnet, aber dazu geraten hätte ich ihr nicht. Farfrae hat ihr Vertrauen und ihre Zuneigung schon einmal enttäuscht. Ich an ihrer Stelle hätte kein gutes Gefühl, wenn ich ihn mit anderen Frauen im Gespräch sähe. Das wäre ein ewiges Überlegen, ob da etwas im Busch ist.


    Newson ist auch eine Enttäuschung. Er kommt zurück, um dann wieder zu gehen. Elizabeth hat es nicht einfach mit den Männern in ihrem Leben. Wirklich Verlass ist da auf keinen. Ich finde überhaupt, dass die männlichen Figuren im Roman nicht gut abschneiden. Es gibt keinen, der sich positiv heraushebt, aber solche Typen ist man bei Thomas Hardy gewohnt. Manchmal sind sie einfach nur zutiefst menschlich, aber es ist schon erschreckend zu sehen, was dabei herauskommt.


    Das Nachwort war sehr aufschlussreich. Eigentlich sollte ich das Buch mit der Kenntnis dieser Zusammenfassung gleich noch einmal lesen. Es rückt einige Sachverhalte in ein anderes Licht, z. B. das oft unerklärliche Gebahren von Henchard.


    Mal sehen, was finsbury noch schreibt.

  • Sorry, ich wollte eigentlich gestern noch was schreiben, aber das tatsächliche Leben kam mir dazwischen :breitgrins:


    Dass Elizabeth Farfrae am Ende dann doch noch heiratet, hat mich überrascht. Ebenso Newsons Auftauchen (wie blöd, dass Du da gespoilert warst!) Damit hatte ich gar nicht gerechnet, ich dachte, der sei wirklich tot. Irgendwann schwirrte mir förmlich der Kopf von all den vermeintlichen Fakten, die am Ende über den Haufen geschmissen wurden, und all den Täuschungen, die meist in allerbester Absicht geschehen sind, um irgendwen zu schützen.


    Henchards Tod in dieser simpelsten Hütte, von fast allen Menschen verlassen, fand ich ziemlich traurig, auch wenn er gewissermaßen die logische Folge seines kontinuierlichen Abstiegs war. Auch sein Testament und sein Wunsch, dass alles anonym ablaufen soll, war konsequent, aber auch bitter irgendwie. Ich finde es schade, wenn von einem Menschen nach seinem Tod überhaupt keine Spur bleibt.



    Es gibt keinen, der sich positiv heraushebt, aber solche Typen ist man bei Thomas Hardy gewohnt. Manchmal sind sie einfach nur zutiefst menschlich, aber es ist schon erschreckend zu sehen, was dabei herauskommt.


    Bei Hardy beobachtet man ja ganz oft Figuren in einer Abwärtsspirale. Ein Happy End habe ich bei ihm selten gelesen. Und auch hier bin ich mir nicht sicher, wie glücklich Elizabeth am Ende tatsächlich ist.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen






  • Mal sehen, was finsbury noch schreibt.


    Bis Kap. 44
    Es tut mir wirklich leid, dass ich mich so selten und knapp melde, ist sonst nicht meine Art, aber der Beruf geht halt vor.


    Ich bin jetzt im Kapitel 44.


    Irgendwo hatte ich gelesen, dass Hardys Stil für nicht immer perfekt gehalten wird, was aber nicht näher erklärt wurde. Ich kann das eigentlich nicht finden, bis auf die Flut von z.T. an den Haaren herbeigezogenen Vergleichen, für die auch der meiste Platz in den Anmerkungen gebraucht wird.


    Aber das "Setting": Ich kenne kaum einen Autor, der das so beherrscht wie Hardy. Kap. 36: Die Szene im Wirtshaus in der Mixen Lane sowie die Beschreibung der Umgebung sind sehr intensiv und ein düsterer Hintergrund für den Skimmity-Ritt, der dort geplant wird. Und dieser Umzug dann selbst (Kap.39), der kontrastreich gleich nach Lucettas gesellschaftlichem Höhepunkt, dem Händeschütteln mit dem Prinzgemahl stattfindet, das ist schon ein weiterer Höhepunkt des Romans, besonders auch durch die indirekte Art, den Kommentar der Dienstmädchen, die den schauerlichen Umzug durch die oberen Fenster beobachten. Diese Fenster-Perspektive scheint mir überhaupt für den Roman typisch.
    Gegenüber diesen Schilderungen sind mir die Personen gar nicht so wichtig, insbesondere Elizabeth Jane ist mir auch ein bisschen zu fade in all ihrer Gutmenschenart, auch Farfrae verliert gegenüber dem Anfang später sehr an Profil. Und wie Doris schon schreibt, Newson kommt nur als Durchlauferhitzer vor und gewinnt wenig eigenes Profil. Dagegen Henchard selbst, Lucetta und auch die Nebenpersonen, die das Schicksal durch den Skimmity-Ritt in Gang setzen: Was für eine Farbigkeit!
    Nun hoffe ich, den Roman dieses Wochenende noch beenden zu können.


  • Aber das "Setting": Ich kenne kaum einen Autor, der das so beherrscht wie Hardy. Kap. 36: Die Szene im Wirtshaus in der Mixen Lane sowie die Beschreibung der Umgebung sind sehr intensiv und ein düsterer Hintergrund für den Skimmity-Ritt, der dort geplant wird.


    Ja, die Bedeutsamkeit dieses Rittes fällt schnell ins Auge. Mir kam er vor wie ein verfrühter Showdown. In dem Zusammenhang fällt mir wieder auf, dass die Damen damals sehr sensibel auf Schicksalsschläge aller Art reagierten. Eine Ohnmacht war fast schon obligatorisch, heftiges Fieber gab es auch häufig, und die Skala für noch schlimmere Reaktionen war nach oben offen. Mir kommt das immer sehr übertrieben vor. Zum Glück sind die Frauen unserer Zeit robuster. An solchen Erlebnissen kann man entweder wachsen oder zugrunde gehen. Die Lucettas von damals sind selten gewachsen.


    Gegenüber diesen Schilderungen sind mir die Personen gar nicht so wichtig, insbesondere Elizabeth Jane ist mir auch ein bisschen zu fade in all ihrer Gutmenschenart, auch Farfrae verliert gegenüber dem Anfang später sehr an Profil.


    Aber so ist das Leben. Unscheinbare Menschen gibt es zuhauf; das Problem ist nur, dass sie naturgemäß kaum wahrgenommen werden. Bei Elizabeth kann ich das nachvollziehen. Als Frau hat sie ohnehin weniger Chancen, sich zu profilieren. Von Farfrae hingegen war ich auch ein bisschen enttäuscht. Er hatte alle Möglichkeiten, sich zu einem echten Widersacher von Henchard zu entwickeln, aber dazu fehlte es ihm an Feuer.



    Es tut mir wirklich leid, dass ich mich so selten und knapp melde, ist sonst nicht meine Art, aber der Beruf geht halt vor.


    Macht doch nichts. Manches lässt sich nicht voraussehen.

  • Nun bin ich auch mit dem Roman fertig.



    Aber so ist das Leben. Unscheinbare Menschen gibt es zuhauf; das Problem ist nur, dass sie naturgemäß kaum wahrgenommen werden. Bei Elizabeth kann ich das nachvollziehen. Als Frau hat sie ohnehin weniger Chancen, sich zu profilieren.


    Na, aber da hat Hardy durchaus interessantere Frauentypen geschaffen, man denke an Tess und deren Mutter. Es muss ja auch nicht die Heldin sein; Die Lucetta gestaltet Hardy z.B. viel farbiger. Und sie tut mir auch ein bisschen leid. Aus unserer heutigen Warte hatte sie sich ja gar nichts zuschulden kommen lassen, und dass sie sich nun verpflichtet fühlte, Henchard zu heiraten, ist der Zeit geschuldet, dann doch einen anderen vorzog, das kann man dann wiederum sehr gut verstehen. Sicherlich ist sie nicht sonderlich sympathisch, aber ein realistischer Durchschnittsmensch, den Hardy sehr glaubhaft präsentiert.


    Elizabeth-Jane dagegen empfinde ich genauso, wie sie Hardy im Kapitel 45 präsentiert:
    Ihre Gesichtsfarbe war ein wenig kräftiger als früher und eine beginnende matronenhafte Würde, die die heiteren Minerva-Augen einer, "deren Gesten Geist ausstrahlten" kleidsam machte, lag auf ihrem Gesicht.


    Sie bleibt ein wenig unbewegt in der Geschichte, ist die Hinnehmende, die reflektiert, aber nicht kämpft, sondern zurücktritt. Dass sich für sie - sofern man bei einer Ehe mit Farfrae, der am Ende den sagenhaften schottischen Geiz zu entwickeln scheint, das so sehen kann - alles zum Guten zu wenden scheint, ist wohl auch wichtig als Kontrast zu dem Kraft-Menschen Henchard, der voller Gefühl und Tatkraft sein Schicksal in seine Hände nimmt und dabei zu wenig nachdenkt und überhastet handelt. Gerade bei seiner Getreide-Spekulation sieht man das: Obwohl sein Verfahren, auf einen Wahrsager zu vertrauen, schrill abenteuerlich ist, hätte er damit tatsächlich reüssieren können, wenn er nur ein wenig länger auf die Wahrsagung vertraut hätte, aber so hat er zweimal verloren.
    Henchards Ende passt zu ihm, er verkündet, dass er von dieser Welt nichts mehr will: Der Tod ist ihm nicht genug, er will alle Erinnerungen an sich ausgelöscht sehen.


    Auch ich habe die Insel-Ausgabe gelesen und kann ebenfalls bestätigen, dass das Nachwort erhellend ist: Schön fand ich auch den Hinweis auf die parallelen Untertitel von Tess - Eine reine Frau - und dem Bürgermeister - Ein Mann von Charakter -: Bei beiden muss man erstmal nachdenken und dann die tiefere Wahrheit erkennen, die sich darin jeweils verbirgt.


  • In dem Zusammenhang fällt mir wieder auf, dass die Damen damals sehr sensibel auf Schicksalsschläge aller Art reagierten. Eine Ohnmacht war fast schon obligatorisch, heftiges Fieber gab es auch häufig, und die Skala für noch schlimmere Reaktionen war nach oben offen. Mir kommt das immer sehr übertrieben vor.


    Das ist mir auch aufgefallen. Wäre mal interessant, ob es dafür eine medizinische Erklärung gibt (ich müsste vielleicht mal meinen Mann fragen, der hat sogar in Geschichte der Medizin Staatsexamen gemacht :breitgrins: ).


    finsbury: manchmal hat einen das wirkliche Leben halt stärker im Griff, als man es gerne hätte. Keine Sorge.


    Farfrae hat auch in meinen Augen als Figur zum Ende hin abgebaut, anfangs hatte eher mehr "Feuer" und war mir auch irgendwie sympathischer. Elizabeth-Jane ist vom Naturell her halt eher ein graues Mäuschen und ein passiver Charakter. Wahnsinnig spannend fand ich sie nicht, aber glaubwürdig. Solche Menschen gibt es ja genug.



    Dass sich für sie - sofern man bei einer Ehe mit Farfrae, der am Ende den sagenhaften schottischen Geiz zu entwickeln scheint, das so sehen kann - alles zum Guten zu wenden scheint, ist wohl auch wichtig als Kontrast zu dem Kraft-Menschen Henchard, der voller Gefühl und Tatkraft sein Schicksal in seine Hände nimmt


    ... und am Ende doch verliert, während sie doch noch einen Mann findet, und zwar sogar den, den sie eigentlich mal wollte. Ja, das passt.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Das ist mir auch aufgefallen. Wäre mal interessant, ob es dafür eine medizinische Erklärung gibt (ich müsste vielleicht mal meinen Mann fragen, der hat sogar in Geschichte der Medizin Staatsexamen gemacht :breitgrins: ).


    Mehrfach habe ich gelesen, dass es an der engen Schnürung der Mieder in den Kreisen der vornehmen Damen lag. Außerdem darf man nicht vergessen, dass sie sich, wenn sie nicht landadelige Jägerinnen waren, wenig bewegten, und daher kaum Kondition hatten. Da raffte es einen halt schnell dahin ... und so eine Ohnmacht war ja auch taktisch manchmal recht angebracht ;-l


  • Elizabeth-Jane dagegen empfinde ich genauso, wie sie Hardy im Kapitel 45 präsentiert:
    Ihre Gesichtsfarbe war ein wenig kräftiger als früher und eine beginnende matronenhafte Würde, die die heiteren Minerva-Augen einer, "deren Gesten Geist ausstrahlten" kleidsam machte, lag auf ihrem Gesicht.


    Sie bleibt ein wenig unbewegt in der Geschichte, ist die Hinnehmende, die reflektiert, aber nicht kämpft, sondern zurücktritt. Dass sich für sie - sofern man bei einer Ehe mit Farfrae, der am Ende den sagenhaften schottischen Geiz zu entwickeln scheint, das so sehen kann - alles zum Guten zu wenden scheint, ist wohl auch wichtig als Kontrast zu dem Kraft-Menschen Henchard [...]


    Elizabeth hat sich eigentlich nach dem Frauenbild von damals verhalten. Es war nicht an den Frauen, den ersten Schritt zu machen oder lautstark für sich selbst einzustehen. Damals galt vornehme Zurückhaltung, und wer Pech hatte und nicht auserwählt wurde, blieb auf der Strecke. Frauen wie Lucetta waren wohl eher die Ausnahme. Sie war auf sich allein gestellt und hatte einen Ruf zu verlieren. Aber letztlich war es ja Lucetta, bei der das Schicksal dann zuschlug. Die seelische Last war doch zu groß.


    Die Erklärung mit dem eng geschnürten Korsett klingt für mich sehr einleuchtend. Gibt es nicht sogar ein Märchen, in dem eine Prinzessin zu eng geschnürt wurde und deshalb in Ohnmacht fiel?

  • Dass sich die Damen im Sinne der Schönheit oft bis zur Bewusstlosigkeit einschnürten, ist mir hinterher auch eingefallen, das erklärt zumindest die häufigen Ohnmachten.


    Bliebe noch die Frage, weshalb es nach einem Schock so häufig zu schwerer Erkrankung oder gar zum Tod kam. Ersteres könnte natürlich daran liegen, dass man seinerzeit psychische Krankheiten noch nicht großartig erkannt hat.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Bliebe noch die Frage, weshalb es nach einem Schock so häufig zu schwerer Erkrankung oder gar zum Tod kam. Ersteres könnte natürlich daran liegen, dass man seinerzeit psychische Krankheiten noch nicht großartig erkannt hat.


    Es gab ja noch kein Penicillin und andere wirksame Medikamente, und wenn dann auf einen durch einen Schock geschwächten Körper eine Erkältung oder gar eine Grippe oder eine Bronchitis traf, dann konnte das eben leicht zum Tode führen. Für Lucetta traf ja dann auch noch zu, dass sie schwanger war, und dann konnte es ja auch eine dieser Schwangerschaftserkrankungen sein, die Hardy dann sozusagen nur noch taktisch an die richtige Stelle einfügte.


    Ich weiß auch nicht, ob die Frauen früher wirklich oft so schnell nach einem Schock starben, oder ob das die Schriftsteller nicht als literarischen Topos benutzten ... .


  • Es gab ja noch kein Penicillin und andere wirksame Medikamente, und wenn dann auf einen durch einen Schock geschwächten Körper eine Erkältung oder gar eine Grippe oder eine Bronchitis traf, dann konnte das eben leicht zum Tode führen.


    Klingt einleuchtend!


    Zitat

    Ich weiß auch nicht, ob die Frauen früher wirklich oft so schnell nach einem Schock starben, oder ob das die Schriftsteller nicht als literarischen Topos benutzten ... .


    Das sei natürlich mal dahingestellt ;)

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen