Ingrid Müller-Münch - Die geprügelte Generation

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    Ein bemerkenswertes Buch, das ich absolut weiterempfehlen kann!


    Die Verwendung von Kochlöffel und Rohrstock zum Zweck der Züchtigung war in den 1950ern und 1960ern weit verbreitet. Beinahe jedes Kind der Nachkriegsgeneration wusste entweder aufgrund eigener Erfahrungen, oder weil es davon in seinem Umfeld etwas mitbekommen hatte, um diese furchtbaren Praktiken. Diese Art der Erziehung zog sich durch alle Schichten und auch wenn viele Kinder dieses Schicksal teilten, wurde es gemeinhin totgeschwiegen.
    Erst mit der Publikmachung der Misshandlungen durch Geistliche oder an Privatschulen und in Heimen ist dieses Thema ins Auge der Öffentlichkeit gerückt. Doch noch immer ist es kaum begreifbar, weswegen Eltern ihren Kindern mit Teppichklopfer und Kochlöffel begegneten. Liegt der Grund in den im Krieg erlittenen Traumata der Eltern oder an einfacher Überforderung, fragt man sich. Auch weswegen niemand eingriff, wenn die Kinder wieder “gezähmt werden mussten” und ihre Schreie in der Nachbarschaft nicht zu überhören gewesen sein mussten, lässt sich nicht einfach beantworten.
    Was wurde aus den geprügelten Kindern und wie denken sie über ihre Eltern und die von diesen praktizierte Schwarze Pädagogik? Und welchen geschichtlichen Verlauf nimmt die Erziehung; in wie weit prägten zum Beispiel Erziehungsratgeber oder die hochangesehenen Eigenschaften wie Ordnung und Fleiß aus NS-Zeiten? Aber auch die Frage, wie es heute mit der Misshandlung der Kinder aussieht, stellt sich, denn dieses Kapitel ist leider noch nicht gänzlich abgeschlossen..
    Auf diese und viele weitere Fragen geht die Autorin Ingrid Müller-Münch in ihrem Buch “Die geprügelte Generation- Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen” ein. Zusammen mit anderen, die diese Erziehung erlitten haben, Traumatherapeuten, Psychologen, Bindungsforschern, Psychotherapeuten und Erziehungwissenschaftlern zeigt sie Antworten auf und zeichnet auf 284 Seiten ein unglaublich dichtes und berührendes Bild einer ganzen geprügelten Generation.


    Jedes mal, wenn Interviewte über die erlittenen Strafen berichten und beschreiben, was sie dabei fühlten und versuchen eine Erklärung für das Verhalten ihrer Eltern zu finden, war das für mich schockierend. Mit welcher Selbstverständlichkeit diese doch eigentlich Liebe und Vertrauen schenken sollenden Menschen zur Züchtigung körperliche oder auch seelische Gewalt anwanden, ist haarsträubend.
    Ich finde es bewundernswert, wie sachlich und fair die Autorin bei einer so aufwühlenden Thematik bleibt und wie es ihr gelingt, so viel Inhalt auf so wenig Seiten zu bringen, ohne dass das Buch erdrückend wirken würde. Auch sehr beeindruckend ist, dass das vermittelte Wissen durch so viele Statistiken, Gespräche mit Fachleuten, Bücher, Studien und so weiter untermauert wird. Die Autorin malt nicht nur schwarz, sondern gibt beiden Seiten eine Stimme, auch wenn sie selbstverständlich stets gegen die Misshandlung von Kindern ist.
    Es werden die verschiedensten Seiten beleuchtet und sehr verständlich und nachvollziehbar ausgeführt. Ob die Spuren der Nazis und des Krieges oder der den Eltern zuspieldenen Justiz- ein facettenreiches und kompaktes Bild wird gezeichnet.
    Ich konnte dieses Buch beim Lesen kaum aus der Hand legen, da es so spannend war- und wenn ich es doch tat, dann nur um Zeit zu haben, über das Gelesene nachzudenken und es zu verarbeiten. Aber auch nach dem Lesen beschäftigte mich das Buch noch lange- und das tut es noch immer- denn ich habe durch das Lesen dieses Buches sehr viel dazulernen und aufgezeigte Zusammenhänge verstehen können.


    Ich kann wirklich jedem empfehlen, dieses Buch zu lesen, da es sehr verständlich ausgesprochen viel Wissen vermittelt. Außerdem denke ich, dass sich mit der im Buch behandelten Thematik wirklich jeder auseinandersetzen sollte! Nicht nur selber Betroffene, sondern auch junge Menschen, um zu verstehen, was die älteren Generationen -Eltern und Großeltern- prägte und um zu verinnerlichen wie wichtig eine gewaltfreie und liebevolle Erziehung ist.


    Ein sehr ergreifendes, schockierendes aber auch aufklärendes Buch, dessen Thematik mehr in der Öffentlichkeit behandelt werden sollte!


    5/5 Sterne


    EDIT: Betreff angepasst. LG, Saltanah


  • Doch noch immer ist es kaum begreifbar, weswegen Eltern ihren Kindern mit Teppichklopfer und Kochlöffel begegneten. Liegt der Grund in den im Krieg erlittenen Traumata der Eltern oder an einfacher Überforderung, fragt man sich. Auch weswegen niemand eingriff, wenn die Kinder wieder “gezähmt werden mussten” und ihre Schreie in der Nachbarschaft nicht zu überhören gewesen sein mussten, lässt sich nicht einfach beantworten.


    Danke für die Rezi!


    Eigentlich lässt sich diese Frage sehr leicht beantworten:
    Was allgemein üblich ist, wird nicht hinterfragt.
    Die Eltern hinterfragen ihr Verhalten nicht, denn "irgendwie muss man die Kinder ja zur Räson bringen", die Nachbarn kennen das schon, die Kinder gewöhnen sich entweder an, Mama und Papa in "gut" und "böse" zu spalten (mal sind sie lieb, mal nicht), oder schlimmer, glauben, dass sie "es verdient" haben, da man ihnen einredet, sich für die Strafe (und ihren "Grund") schämen zu müssen, reden sie auch nicht drüber.
    Es gibt so einen Spruch/ Witz, wie immer man das nennt.
    Kind sagt, dass der Vater ihm eine Ohrfeige gegeben hat. Vater daraufhin:"Lügst du schon wieder? Willst du noch eine?!"


    Ich habe ein älteres Buch von Erika Ziegler-Stege ("Der fremde Reiter"), in dem das Thema unterschiedliche Generationen angeschnitten wird. In dem Buch wird eine Familie beschrieben, in der es sehr viel echten Respekt zwischen Alt (Urgroßmutter) und Jung (Enkeltochter) gibt. Und dann wird lapidar gesagt, "früher nahm man Ohrfeigen (und andere körperliche Strafen) als etwas hin, das man verdient hatte", so als ob körperliche Strafen den Kindern "früher" fast nichts ausgemacht hätten.
    Dass man dabei Schmerzen und Schreck ggf. auch Angst erleidet, das Vertrauen in die Eltern verliert, ggf. lernt, immer besser zu lügen oder sich vor den Eltern zu verstellen und ihnen evtl. Wichtiges aus Angst vor Strafe nicht mitteilt, wird natürlich verschwiegen.


    Ich kannte zwei Menschen, die in der Schule bzw. vom Vater noch "geprügelt" wurden. Beide waren regelrecht stolz darauf. :gruebel:
    Vielleicht war das die einzige Möglichkeit für sie, das Erlebte zu verarbeiten, aber beide erzählten ganz von selbst davon mit dem Fazit, dass die jüngere Generation regelrecht etwas verpasse (!), weil sie nicht geprügelt wurde. Und es ging dabei wohl nicht um "harmlose Ohrfeigen".
    Ich kenne auch aus der Verwandtschaft zwei Geschichten von Sündenböcken, die in der Klasse einfach immer mit dem Rohrstock verhauen wurden, egal, ob sie etwas gemacht hatten. Das waren Kinder armer Eltern, die auch noch als dumm galten (warum wohl, wenn man täglich geprüfelt wird). Einer hat dann angeblich mal Stroh in die Büx gelegt (bin aber nicht sicher, ob das stimmt oder aus einem Film geklaut wurde :zwinker:) und wurde erwischt - und vor der ganzen Klasse auf den blanken Hintern gehauen. Zugetragen hat sich das tatsächlich in Deutschland in den 50er Jahren. Heute würde der Lehrer mehr als eine Anzeige bekommen, damals bekam der Schüler vermutlich zu Hause auch noch "Dresche" für die Strafe in der Schule. :rollen:


    LG von
    Keshia


    PS
    Heute gibt es immer noch zig Sachverhalte, die man regelmäßig mitbekommt, die nicht in Ordnung sind, die man aber ignoriert, teilweise, weil man nicht weiß, ob man etwas tun darf und was (gerade, wenn Eltern ihre Kinder in der Öffentlichkeit demütigen) oder die einfach so verbreitet sind, dass man nichts dazu sagt (die ganzen Beleidigungen in der Öffentlichkeit, teilweise auf Ämtern etc. (herablassende Behandlung) oder von nahestehenden Personen (an den Sündenbock). Oft lacht man verlegen, wenn man das mitbekommt, oder ignoriert das, manchmal teilt man dem Opfer hinterher sein Mitgefühl mit, aber selten schreitet man wirklich ein, weil man nicht weiß, wie und ob das überhaupt angemessen wäre. Obwohl man weiß oder ahnen kann, dass es dem Opfer schlecht dabei geht.

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

  • PPS
    Warum niemand einschritt:
    Denkt mal an unsere Senioren in der häuslichen Pflege und im Pflegeheim und deren Behandlung.
    Selbst, wenn sie nicht "gefoltert" werden (so möchte ich mal die körperlichen Qualen nennen, die in solchen Situationen bedingt durch Frust und Überforderung der Pflegenden auftreten können), werden ihnen selbstverständlich Privilegien entzogen, die allen anderen, jüngeren Menschen normalerweise selbstverständlich gegönnt werden: Sie dürfen nicht (immer) entscheiden, was sie anziehen oder essen, wann sie was machen, teilweise nehmen sie in der Familie nicht am Familienleben teil, sondern bleiben in ihrem Zimmer oder gar Bett, man teilt ihnen nichts mehr mit, redet ruppig im Befehlston mit ihnen, lässt ihnen (fast) keine Entscheidungsfreihet über Alltagsabläufe etc. mehr (und sei es nur darüber, ob ihr Fenster geöffnet wird oder nicht).


    Jeder, das mal einen Verwandten im Pflegeheim hatte oder der einen jemanden kennt, der zu Hause von der Familie gepflegt wurde oder selbst pflegte, kennt Beispiele dafür. Wenige Pfleger reiben sich wirklich auf, viele sind schnell überfordert und begehen dann kleine "Nachlässigkeiten" oder "Sünden", die aber für den Pflegebedürftigen, der auf sie angewiesen ist, kleine bis größere Tragödien sein können.


    Und wenn man in so eine Familie oder in so ein Heim kommt, und der jüngere Pfleger sagt, "sie spinnt wieder rum", "sie ist dement", "er weißt nicht, was er sagt", "er ist verwirrt", dann ignoriert man oft auch den Versuch des Pflegebedürftigen, Hilfe zu bekommen.
    Es ist normal, dass etwa der Pfleger entscheidet, wann man raus geht, wohin, was man dort tut, wie lange man bleibt - und keiner hinterfragt das (Ausnahmen mögen einzelne, insbesondere teurere Heime sein).
    Es ist okay, wenn jemand undeutlich spricht und wiederholt nach etwas fragt, zu akzeptieren, dass der Pfleger dies nicht bringt, weil "der Alte immer nörgelt/ Quatsch redet" oder "er hatte das heute morgen bekommen, aber immer weg geworfen" - man redet mit dem Pfleger, nicht mit dem Pflegebedürftigen und fast keiner scheint daran zu denken, wie es einem selbst in der Lage des Pflegebedürftigen geht.


    Wenn also in 50 Jahren jemand ein Buch schreibt über "die gequälte Generation" und damit unsere pflegebedürftigen Senioren meint (die letzen 20 und die nächsten 20 Jahre), dann wird wieder ein Aufschrei durch die Leserschaft gehen und die Frage, warum das so lange ignoriert wurde, warum keiner eingeschritten ist, warum man das mit seinen Eltern und sich selbst hat machen lassen.


    Immer, wenn ich sage, dass man im deutschen Gefängnis mehr Rechte hat als im deutschen Pflegeheim, höre ich Gegenstimmen, oft von Menschen, die in Heimen arbeiten, aber auch von anderen. Nach allem, was ich persönlich in den 90ern und bis 2005 von Verwandten in Pflegeheimen mitbekommen habe und später bei Breitscheidel und Co. gelesen habe, bin ich aber der festen Überzeugung, dass es im durchschnittlichen deutschen Gefängnis (als Gefangener unter 70) besser ist und gerechter zugeht als im Pflegeheim oder in so mancher häuslicher Pflege (dort aufgrund der Überforderung und mangelndem Wissen um Vereinfachungen in der Pflege) und dass man im Gefängnis noch als Mensch wahrgenommen und behandelt wird, als pflegebedürftiger älterer Mensch oft aber nicht.


    Und wie gesagt, viele, viele wissen das und ignorieren es.


    LG
    von Keshia

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

    Einmal editiert, zuletzt von Keshia ()

  • Interessant wäre ja auch die Frage, wie es gelungen ist, diese Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Also Eltern, die noch selbst geschlagen wurden, aber ihre Kinder heute sehr liebevoll erziehen. Zuvor scheint das Modell des Schlagens von Generation zu Generation weitergegeben worden zu sein. Wer war der Vorreiter? Die Schule, die die Prügelstrafe abgeschafft hatte oder waren die Eltern der Schule schon vorausgeeilt?


    Das PPS von Keshia ist auch sehr interessant und zeigt eine Hilflosigkeit der Gesellschaft ggü. weit verbreiteten Praktiken. Auch viele Themen, die nichts mit Gewalt zu tun haben, werden nur sehr langsam in Frage gestellt. Sei es die Frage, wann Schulunterricht beginnen sollte oder ob jedes Kind wirklich sinnvoll mit 6 Jahren einzuschulen ist (siehe im heutigen Spiegel).


    Gruß, Thomas