Kafka meets Edelbauer - Das Schloss und Das flüssige Land. Ein Vergleich, Parallelen und Weiterentwicklungen

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  • Ich möchte die Leserunde starten und beginne mit


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    Meine Version schaut allerdings bei gleicher ISBN etwas anders aus. Ein Fischer Taschenbuch aus 1992

  • Ich habe heute mit Franz Kafkas "Das Schloss" begonnen, und war erstaunlicherweise direkt in der Handlung drin, die ersten 50 Seiten waren ruck-zuck gelesen - bei meinem letzten Versuch mit diesem Roman bin ich ca. bei S. 20 hängengeblieben. Vielleicht liegt es daran, dass ich zwischenzeitlich sehr viel mehr Kafka gelesen habe und mir vieles einfach bekannt vorkam bzw. die Andeutungen im Text dadurch besser verständlich sind.


    Bereits mit der Ankunft des Landvermessers K. im Dorf habe ich mir die Frage gestellt, ob seine Wahrnehmung der Realität und die der anderen Figuren übereinstimmen, und was es mit K.s Auftrag auf sich hat, denn zwei seiner Äußerungen schienen für mich im vermeintlichen Widerspruch zu stehen:

    Zitat

    Auf S. 8 sagt K.: "In welches Dorf habe ich mich verirrt? Ist denn hier ein Schloss?", auf S. 9 erklärt er dann: "Sonst aber lassen sie es sich gesagt sein, dass ich der Landvermesser bin, den der Graf hat kommen lassen."

    Das passt für mich nicht wirklich zusammen.

    Das Schloss selbst scheint über einen umfangreichen Bürokratieapparat zu verfügen, es gibt unter anderem eine Zentralkanzlei, einen Bürochef, verschiedene Kastellane. Die Undurchsichtigkeit dieser Hierarchien führt dann auch direkt zu Spekulationen darüber, über welche Machtfülle die einzelnen Amtsträger wirklich verfügen.


    Das Gebäudeensemble des Schlosses erweckt jedenfalls eine eher dubiosen Eindruck, und die Tatsache, dass K. trotz großer Anstrengungen zunächst nicht in der Lage ist, auf einem der vemeintlich hinführenden Wege das Schloss zu erreichen, lässt auch nichts Gutes erahnen. Ebenso die Tatsache, dass das Dorf, insbesondere die Wirtshäuser, einen eher heruntergekommenen Eindruck vermittelt, und die Bewohner sich abweisend bis feindselig verhalten.


    K. scheint also mehr oder weniger auf verlorenem Posten zu stehen, auch wenn er das selbst nicht wahrhaben will. Bezeichnend dafür ist die Begegnung mit seinen Gehilfen, die er scheinbar nicht erkennt, und die auch seine Geräte nicht dabei haben. Hier hatte ich den Eindruck, dass es um K.s geistige Gesundheit möglicherweise nicht zum Besten steht, und/oder dass vielleicht eine großangelegte Verschwörung gegen ihn besteht. Mal sehen, wie es tatsächlich weitergeht.

  • Ich hab nun auch ein paar Kapitel gelesen, die ersten vier um genau zu sein.


    Das Schloss ist etwas surreales, bei der Ankunft auch kaum sichtbar. Obrigkeitsdenken und Standesdünkel sind vorherrschend. K. kommt an, obwohl er quasi im Auftrag der Obrigkeit gerufen wurde, ist er nicht willkommen und auch nicht erwünscht.

    Der Adel wurde zwar abgeschafft, die Strukturen sind aber nach wie vor da. Bis zu den Menschen ist nicht durchgedrungen, dass sie frei sind zu sagen und zu denken was sie wollen. K. s Gehilfen sollten am nächsten Tag nachkommen, er bekommt allerdings neue. Er hinterfragt es nicht, nimmt es einfach so hin.


    Barnabas wird ihm als Mittelsmann zwischen Auftraggeber und ihm zugeordnet. Er hat lt. Wirtin im Dorf auch keinen guten Stand, da dürfte der Name schon bezeichnend sein. Schon in der Religionstheorie steht nicht fest ob Barnabas wirklich ein Evangelium geschrieben hat. Die Frage ist also, ob Barnabas die Nachrichten auch korrekt übermittelt.


    Beim Lesen musste ich öfter an Viktor Klemperer denken, der in seinen Tagebüchern während der Nazi-Schreckensherrschaft minutiös beschreibt, wie Tag für Tag neue Restriktionen für Juden durchgesetzt wurden.


    Auch hier ist es so, dass die Welt des K immer enger wird, er sitzt irgendwie in einer Schachtel und die wird immer kleiner und kleiner. Er wehrt sich nicht dagegen, er nimmt es hin. Er versucht es sich nicht einmal zu erklären, warum das so ist.


    Frieda wird seine Geliebte, er will sie heiraten. Es geht immer nur um seine persönlichen Belange, nie um seine eigentliche Aufgabe, die Vermessung wegen der er gerufen wurde.

  • Ich habe mir die ersten beiden Kapitel nochmal als Hörbuch zu Gemüte geführt und dabei ist mir aufgefallen, dass K. sehr stark von Gedanken über seinen sozialen Status beeinflusst wird. Das beginnt ja schon in Zusammenhang mit dem Gespräch mit dem Lehrer, als er für sich schon klar hat, dass dieser ein adäquater Gesprächspartner sein könnte, die Bauern hingegegen eher nicht, während das Schloss und seine Bewohner wahrscheinlich über ihm stehen.

    Das setzt sich mit den Überlegungen fort, wie er mit den Anweisungen, die ihn aus dem Schloss erreichen, umgehen soll, dabei sieht er sich selbst als "Dorfarbeiter" und scheint damit nicht zufrieden zu sein.


    Diese Überlegungen des K. in Kombination mit den Informationen zur Bürokratie des Schlosses lassen ihn als ein ganz kleines Rädchen in einer großen Maschine erscheinen - und er selbst scheint das schon zu ahnen, aber noch nicht ganz wahrhaben zu wollen.

  • das Schloss steht ja nicht nur für Bürokratie sondern auch für den Adelsstand, der aber mittlerweile nicht mehr existent ist, in kleinen Dörfern aber dennoch "gelebt" wird.


    K. wird von Klamm diktiert. Zufall, dass dieser Name auch mit K. beginnt? )

  • das Schloss steht ja nicht nur für Bürokratie sondern auch für den Adelsstand, der aber mittlerweile nicht mehr existent ist,

    Und genau das wird durch K.s Überlegungen ja noch mal betont - dass der soziales Status gerade angesichts der unübersichtlichen Verhältnisse in dem Dorf ganz besonders wichtig ist.

  • Ich habe jetzt bis einschließlich Kapitel 5 gelesen und finde, dass sich K.s Situation zuspitzt, er das selbst aber nicht wirklich wahrhaben will. Schon die Tatsache, dass seine Gehilfen ständig anwesend sind (auch wenn er mit seiner Geliebten zusammen ist) ist sehr eigenartig, und würde einen Menschen doch normalerweise stören.


    K. nimmt aber auch die (teils sehr deutlichen) Hinweise der Menschen aus dem Dorf überhaupt nicht ernst, etwa wenn die Wirtin sagt:

    Zitat

    Sie sind nicht aus dem Schloss, Sie sind nicht aus dem Dorfe, Sie sind nichts. Leider aber sind Sie doch etwas, ein Fremder, einer, der überzählig und immer im Weg ist, einer, wegen dessen man immerfort Scherereien hat [...]. Wegen alles dessen mache ich Ihnen ja im Grunde keine Vorwürfe; Sie sind, was Sie sind; [...]. (S. 66f.)

    Noch deutlicher wird der Vorsteher, als er K. zu erklären versucht, dass man keinen Landvermesser benötigt, in dem Kapitel "Beim Vorsteher" prallen zwei Welten aufeinander.

    K. sieht das Ganze zunächst noch sehr gelassen:

    Zitat

    Er suchte es sich dadurch zu erklären, dass nach seinen bisherigen Erfahrungen der amtliche Verkehr mit den gräflichen Behörden für ihn sehr einfach gewesen war. (S. 77)

    K. leitet daraus den Schluss ab, man wolle ihn mit dieser Leichtigkeit quasi einschläfern, findet das aber nicht besorgniserregend, die Suche nach einer wichtigen Akte findet er zum Ärger des Vorstehers noch unterhaltsam.


    Daraufhin gibt ihm der Vorsteher Einblicke in das System des Schlosses, die K. wiederum nicht richtig einzuordnen weiß, auch wenn sie schon recht deutlich klingen:

    Zitat

    Sie sind eben noch niemals wirklich mit unseren Behörden in Berührung gekommen. Alle diese Berührungen sind nur scheinbar, Sie aber halten sie infolge Ihrer Unkenntnis der Verhältnisse für wirklich. (S. 96)

    Ich finde es spannend, wie es mit K. weitergeht - bisher macht er auf mich einen halsstarrigen und ignoranten Eindruck und ich frage mich, wie lange er diese Haltung gegenüber der allumfassenden Bürokratie des Schlosses noch aufrechterhalten kann.

  • Die Frage ist, wenn dir jemand sagt, dass du nichts bist, wie ernst man das überhaupt nehmen soll. Ks Welt wird immer zugeschnürter. Es gibt ja immer die Möglichkeit das Dorf zu verlassen.


    Ich bin schon etwas weiter und habe mich über das Gehabe des Gemeindevorstehers amüsiert. Gewisse Dinge treten auch heute noch in Ämtern auf :) Im Buch wirkt der aufgeblasene Apparat der K.u.K. Monarchie noch nach und vor allem das Sich-Überwichtig-Nehmen des dortigen Personals.


    Ich habe sehr viele Assoziationen beim Lesen, manchmal auch zu dem Forum hier :)

  • Ich habe jetzt bis einschließlich Kapitel 11 gelesen und kann immer weniger verstehen, dass K. nicht einfach die Flucht ergreift. Seine Ernennung zum Schuldiener ist gerade angesichts seines Standesbewußtseins ja eine ganz klare Degradierung, die Gehilfen werden immer merkwürdiger und infantiler, und es gibt deutliche Anzeichen, dass die angeblich so vorbildliche Bürokratie des Schlosses nicht wirklich funktioniert:

    Einerseits ist Klamm, den K. dringend sprechen möchte, nie zu erreichen, andererseits erhält K. ein Schreiben von Klamm, in dem er ihm seine Anerkennung für die gute Arbeit ausspricht. Dass K. trotzdem an seinem Vorhaben festhält, seine Angelegenheiten mit dem Schloss regeln zu können, hat allmählich schon etwas sehr Starrsinniges.

  • HoldenCaulfield : Den Eindruck habe ich auch, aber es ist so furchtbar anstrengend, die Handlungen von jemandem zu verfolgen, der so beratungsresistent ist. ;)

    Andererseits ergibt sich daraus auch eine gewisse Spannung: Wird er irgendwann nachgeben? Gleitet er vielleicht sogar in Verzweiflung ab, wenn ihn sein Starrsinn nicht mehr aufrecht hält?

    (Und im Hintergrund natürlich auch schon die Frage: Wie steht es um Raphaela Edelbauers Protagonistin? Geht es der auch ums Prinzip?)

  • Es drückt auchs K(afkas) Verzweiflung am Apparat aus. Ich denke mal, dass es in Versicherungsgesellschaften damals auch so bürokratisch abgegangen ist wie in Ämtern. Ein bisschen Don Quijote ist auch zu sehen.

  • Endlich bin ich wieder ein Stück vorangekommen und habe gestern bis einschließlich Kapitel 16 gelesen. Die Situation verbessert sich für K. keineswegs, er ist in seiner (minderen) Aufgabe als Schuldiener ganz angekommen, weil er der Meinung ist, jede ihm übertragene Aufgabe bestmöglich ausführen zu müssen. Obwohl er seine Gehilfen davongejagt hat, schleichen sich diese immer wieder an, ich bin gespannt, wie oft sie noch auftauchen werden.


    In einem Gespräch mit Frieda erfährt K. von den Vorbehalten der Wirtin gegen ihn, die wahrscheinlich stellvertretend für die Haltung vieler DorfbewohnerInnen K. gegenüber stehen dürften. Frieda selbst ist unsicher, warum K. mit ihr zusammen sein möchte, ob er sie vielleicht nur als "Eintrittskarte" zu Klamm (= ins Schloss) an seiner Seite haben möchte. Da sich K. nicht eindeutig äußert kann man auch hier wieder nur Vermutungen anstellen.


    Am Ende des 15. Kapitels erhält man immerhin Aufschluss darüber, was K. eigentlich antreibt, im Dorf zu bleiben und sich den Verhältnissen dort nicht einfach zu entziehen:

    Zitat

    "Es ist ein Irrtum", sagte K., "ein großer Irrtum, wenn Du glaubst, dass es mir mit dem Warten auf Barnabas ernst ist, meine Angelegenheiten mit den Behörden in Ordnung zu bringen, ist mein höchster, eigentlich mein einziger Wunsch. (S. 224)

  • Die zweite Hälfte des Romans war für mich anstrengender als die erste Hälfte, weil sich in den Gesprächen, die K. führt, einfach so viele Dinge wiederholen. Anfangs ist noch alles neu, und durch die Frage, ob K. nun bleibt oder nicht, auch eine gewisse Spannung vorhanden. Doch je weiter man im Roman kommt, desto redundanter wird das Ganze.


    Dass einer der Gehilfen zurückkommt und nochmal eine wichtige Rolle spielt (indem er K. Frieda ausspannt) hatte ich erwartet, ebenso dass es noch zu verschiedenen Kontakten mit der Bürokratie des Schlosses kommt, daher tauchen auch keine wirklichen Überraschungen mehr auf. Trotz der fehlenden Handlung und der insgesamt bedrückenden Situation K.s, die wieder und wieder verdeutlicht wird, konnte ich aber gut weiterlesen, weil die sprachliche Gestaltung des Romans so ansprechend ist. Und das ist für mich Kafkas große Kunst: so zu erzählen, dass man trotz fehlenden Handlungsbogens und unsympathischer Figuren weiterlesen möchte. Trotzdem weiß ich nach der Lektüre dieses Romans wieder, warum ich Kafkas Kurzprosa einfach lieber mag als seine Romane.


    Ich bin jetzt gespannt, wie Raphaela Edelbauer im Vergleich zu Kafka abschneidet, ich werde heute oder morgen mit "Das flüssige Land" beginnen.

  • Ich habe die Lektüre auch soeben beendet. Mich hat der Aspekt fasziniert wie aktuell das Buch nach über hundert Jahren ist.


    Es gibt eine Art Zensur sowohl von unten als nach oben. Den Bewohnern wird nicht genau gesagt, was im Schloss (Staat) abgeht, und den Schlossherren oder (Regierenden) ist auch nicht klar, was im Volk abgeht. Die wahren mächtigen sind die Beamten mit ihren Intrigen. Sie bestimmen welche Informationen wo hingeleitet werden.


    Die Dorfgesellschaft an sich ist auf jeden Fall voreingenommen, fremdenfeindlich und ungerecht. Sie suchen sich Sündenböcke, die werden dann geächtet (Barnabas-Familie) Das Barnabas Evangelium hat es nicht in die Bibel geschafft und die Barnabas Familie hat es auch geschafft geächtet zu werden. Sie können sich nur durch Prostitution von der Tochter am Leben halten.


    Es gibt keine Instanz, an die man sich direkt wenden kann. Keinerlei Gerechtigkeit. Das Leben von K. wird immer mehr fremdbestimmt, wer vermag es nicht sich zu wehren. Am Ende ist er auch noch alleingelassen.


    Schade, dass Kafka das Buch nicht zu Ende bringen konnte. Wäre interessant, welchen Ausgang das Leben K.s genommen hätte. ,


    Im Buch sind auch viele Parallelen zum Prozess zu sehen. Dachte immer wieder an die Anklage und keiner wusste eigentlich wieso.

  • Lt Überlieferung soll ja Kafka die Absicht gehabt haben K sterben zu lassen, als ihm endgültig die Genehmigung zu bleiben überbracht wurde. Das sind aber nur Überlieferungen, die Kafka Max Brod angeblich erzählt hat. Passend wäre es ja für die Geschichte.

  • Lt Überlieferung soll ja Kafka die Absicht gehabt haben K sterben zu lassen, als ihm endgültig die Genehmigung zu bleiben überbracht wurde. Das sind aber nur Überlieferungen, die Kafka Max Brod angeblich erzählt hat. Passend wäre es ja für die Geschichte.

    Das finde ich auch. Und der Verlauf der Geschichte lässt eigentlich auch keine Alternative zu, dass K. es doch noch aus dem Dorf schafft würde nicht passen. Der Tod aus Erschöpfung würde sich aber gut an seine zunehmende Ermüdung, die gegen Ende ja eine große Rolle spielt, anpassen.

  • Ich habe heute auch schon die ersten 50 Seiten von Raphaela Edelbauers "Das flüssige Land" gelesen und muss sagen, dass es sich sprachlich auf sehr hohem Niveau bewegt, und dabei eine große Dynamik hat, ich finde die Erzählgeschwindigkeit teilweise sehr hoch. Trotzdem ist es bisher interessant, auch wenn die Ich-Erzählerin mir häufig ähnlich fremd ist wie K.: Wie kommt man auf die Idee, eine Beerdigung vom Zielort des Ganzen her zu organisieren? Und warum wirft man sein Handy weg, weil einen das Klingeln stört, um hinterher ohne Navi im Niemandsland zu stehen?