Ich glaube auch, dass ich heute verstanden habe, was an "Klassikern" interessant sein kann: Es geht nicht nur um die Geschichte, die erzählt wird. Mit dem Schreibstil und den Worten der Zeit wird einem ein Einblick in die Vergangenheit gewährt. Man erfährt, wie das Leben damals war, welche Probleme die Leute damals hatten und welche Einstellung sie zum Leben hatten.
Ja, na ja, das ist aber noch längst nicht alles. Die historische Komponente ist besonders dann interessant, wenn man ein Faible für diese Raum-Zeit hat. In Deinem Fall brauchst Du Dich wahrscheinlich erst mal nicht um die deutsche Literatur des, sagen wir 18./19. Jh. zu bemühen. (ist übrigens auch nicht mein Lieblingsding, allerdings habe ich auch keine Blockade dagegen, hat bloß keine Priorität, vielleicht mit sechzig). Insofern hat der Schulkram Deiner Geschmackausbildung gedient. Überleg mal, wieviel tausend Filme Du bis heute gesehen hast, und dass Du jetzt einen Filter installiert hast, der Dir sagt, welche Filme du sehen willst und welche nicht. Dieser Prozess geht immer weiter. Es geht darum, wer Du bist und wohin Du gehst. Also musst Du Deinem Herzen folgen.
Des Weiteren hat der Schulkram einen mit verschiedenen Textsorten konfrontiert und eine gewisse Flexibilität eingeübt. (rein theoretisch zumindest) Jedes Buch muss anders gelesen werden und wenn man mal risikofreudig ab und an zu etwas ganz anderem greift, muss man sich auch ganz neu einlassen (das mag anfangs schwierig sein, dafür bekommt man dann neue Welten offeriert).
Dann find ich es schick, dass "Klassiker" sozusagen schon vorgefiltert sind. Abertausende von Leuten haben ihnen irgendetwas abgewinnen können, und damit ist für mich die Chance höher, dass ich das Buch auch gut finde. Nicht so bei zeitgenössischen Autoren.
Aber ganz wichtig, "Klassiker" haben imho etwas Allgemeingültiges, Universelles. Es klang hier schon an. Da gibt es philosophische Gedanken, spirituelle Konzepte, vielleicht auch noch etwas "gutes Rundes", was es zu beinah zeitloser Kunst macht. Nehmen wir mal Herr der Ringe. Ein "Klassiker", millionfach gelesen, kommt bald nach der Bibel. Bestimmt nicht, weil es perfekt ist, oder so superspannend. Das Buch hat eindeutig seine Längen. Aber es gibt da noch: gut vs. böse, natur vs. technik, Jahrtausende von "Menschheitsgeschichte". Ein ausgetüfteltes Universum. Wobei das auch in ein paar anderen Büchern auf andere Weise zu finden sein wird.
Oder sagen wir mal Vonneguts Schlachthaus 5. Ob man nun den Schreibstil mag oder nicht, das Buch in sich ist eine runde Sache mit Aussage (allgemeingültiger). Kann ich diese Aussage entdecken und löst sie in mir einen Erkenntnisgewinn aus (Gänsehaut), weil es vielleicht gerade auf dem Wegabschnitt, auf dem ich bin, von Bedeutung ist, kann ich diesen Klassiker schätzen.
Ich kenn nicht so arg viel Fantasy, habe aber gehört, dass es da gute Sachen gibt, Mary Gentle oder so. (Ehrr, sagtest Du Fantasy? mir war so.) Als Science Fiction Fan weiß ich, wie sehr diese Sparten stigmatisiert werden. Ich kann gar nicht anfangen zu beschreiben, wieviel mir einzelne Werke gegeben haben und wieviel Wichtiges ich durch sie gelernt habe. Du musst Deiner Liebe nach gehen, aber: und das gilt für alle Leute, Klassikphobikern wie Science Fiction Phobikern etc.: Ich würde mir wünschen, dass jeder mal ab und an etwas Neues ausprobiert und sei es auch nur, um die Gehirnzellen frisch zu halten und sich selbst zu fordern. Dann kommt man automatisch zu den Perlen und lässt den Schrott hinter sich. Es mag Leute geben, die 30 Jahre lange Agatha Christie oder Stephen King oder Vampirgeschichten lesen, aber die sind kein Vorbild für mich.
Natürlich ist es schön, wenn man "klassisch" literarisch bewandert ist und den kulturellen Impact auf das Jetzt verstehen kann (Anspielungen aus Klassikern in Zeitung, anderen Büchern oder Filmen). Aber der intellektuelle Reiz, die Tiefenschichten zu durchblicken, ist nicht jedermanns Begehr. Du interessierst Dich ja nicht so für Statussymbole. Hast aber ein kleine nagende Stimme, die sich fragt, ob Du etwas ändern müsstest. Ich würde sagen, nicht, wenn Du nicht Geistes- oder Kulturwissenschaftler werden willst. Und jeder Akademiker kennt sich eh nur in seinem Feld aus. Es gibt heute nurmehr eine kleine Reihe von Universalgelehrten humanistischer Fasson.
Kostenlose, ungefragte Anregung : kurz und schnell vielleicht einfach mal Dietrich Schwanitz' Bildung lesen. Ich meine der schreibt sehr kurzweilig, bringt dann einen - sehr kompakten - Kurzüberblick (u.a. auch über Literatur). Man könnte einen Hinweis darauf bekommen, was einen interessieren könnte und vor allem im zweiten Teil: erklärt er, dass eh alles Schall und Rauch ist, die meisten Laberfritzen nur mit Wasser kochen.