Hallo,
ich habe in letzter Zeit drei Bücher von Müttern behinderter Kinder (an-) gelesen:
Julia Latscha: Lauthals leben,
Gabriele Noack: Mein Glück kennt nicht nur helle Tage (beide angelesen bis ca. Mitte des Buches) und
Sandra Schulz: Das ganze Kind hat so viele Fehler.
Alle drei Bücher wurden als besonders positiv und Argument im Kampf für die Akzeptanz Behinderter gelobt.
Ich muss dazu sagen, dass ich mit einem behinderten Bruder (mit Downsyndrom) aufgewachsen bin und NIE von beiden Eltern oder anderen Verwandten ähnliche Klänge gehört habe wie in diesen drei Büchern vorkamen, und das, obwohl zu der Zeit, in der mein Bruder aufwuchs (80er) deutlich weniger Informationen und Hilfe verfügbar waren.
Als Erstes habe ich Sandra Schulzs Buch gelesen. Mein Fehler: Ich wusste nicht, dass 70% des Buches von ihrer Schwangerschaft handelten. Hut ab, dass man so viel über die eigene Schwangerschaft schreiben kann! Aber: Sie hat zwei Kider mit Downsyndrom im Bekanntenkreis und denkt die ganze Zeit an Abtreibung, weil sonst ihr Leben vorbei wäre, wenn ihr Kind Downsyndrom hat (pränatale Diagnostik). Dann bekommt sie die Info, dass eine weitere schwere Behinderug dazu kommt und ganz langsam erwärmt sie sich für den Gedanken, das Kind doch zu bekommen. Erst im letzten Drittel, nach der Geburt des Kindes, wird das Buch sehr positiv. Vorher werden behinderte Kinder als Lebnesende der Eltern und Bürde betrachtet. Ich war beim Lesen ziemlich schockiert und teilweise angewidert und mich wunderten die vielen positiven Rezensionen.
Dann kam das Buch "Mein Glück kennt nicht nur helle Tage". Okay, schweres Schicksal: Schwangerschaft verläuft super, Kind ist bei der Geburt schwerbehindert, Mutter erfährt, dass es evtl. "ihre Schuld" sein könnte (so legt sie das aus). Kind kann sich kaum bewegen und spricht erst mal nicht bzw. gar nicht (bin erst ca. bei einem Viertel des Buches). Mutter weint ständig, weil ihr Kind behindert ist. Eine sehr berührende Szene gab es, als der fünfjährige Bruder des Kindes (!) die Eltern fragt, wer sich denn um den Bruder kümmert, wenn sie sterben würden und anbietet, dass er das dann tun würde (Hut ab, wenn das wirklich so passiert ist! Woher hat ein Fünfjähriger solch düstere Gedanken?) Der Fünfjährige verteidigt den behinderten Bruder ständig, während die Mutter teilweise weinend ins Krankenhaus geht, weil ihr Kind behindert ist.
"Lauthals Leben": Da bin ich auch erst im ersten Viertel und die Mutter weint ständig, weil ihr Kind behindert ist (komisch aussieht, nicht alleine laufen kann, viel schreit). Ja, ich kann die Belastung durch extremes Schreien nachvollziehen, aber nicht diese Scham "mein Kind ist behindert, alle schauen mich an, mein perfektes Leben ist vorbei" in der heutigen Zeit.
Sind wir so auf "perfekt" getrimmt, dass ein Kind nur Erwachsenenwünsche erfüllen muss?
Woher kommt dieses, sorry, Rumgeheule im Wortsinne?
Mein Bruder hat die positivsten Erfahrungen außerhalb der Familie mit völlig Fremden "Nicht-Pädagogen" gemacht: Treffen auf der Straße, Verkäufern, Servicekräften. Teilweise haben die sich nach seinem Tod noch über ihn unterhalten wollen, wenn man sie zufällig traf - also keine Freunde der Familei, zufällige Bekannte. Daher kann ich nicht verstehen, dass Behinderungen von den Eltern heutzutage als Scham, Schnade, "Ende des eigenen Lebens" wahrgenommen werden. Woher kommt das?
Und warum werden diese Bücher so positiv wahrgenommen?
Ich habe, als Schwester, mit meinem Bruder auch schwere Zeiten durchgemacht, oft wurde ihm erlaubt, uns andere Geschwister qausi zu ärgern (treten, ansprucken etc.), "weil er ja behindert ist und Verbote nicht versteht", von daher würde ich Frust und Ärger über bestimmte Verhaltensweisen durchaus verstehen. Aber dieses Rumgeheule, weil das eigene Kind auffällt, nicht so ist, wie man erwartet hat, "Fehler" hat, finde ich teilweise wirklich ekelhaft.
Man stelle sich vor, die Tochter von Sandra Schulz wäre nicht behindert - und würde später mal lesen, wie ihre Mutter über 200 Seiten darüber nachdenkt, sie abzutreiben. Wäre das nicht grausam? Aber weil das Kind behindert ist, kann man so etwas veröffentlichen. Ich habe gar nichts gegen die Idee, ein Buch über Schwangerschaft und Abtreibungsgedanken zu schreiben, das finde ich wichtig, aber diese ganzen Gedanken "das Kind könnte mich in meinem Leben stören" finde ich krass. Auch, dass eine werdende Mutter auf die Idee kommt, sie könnte ihr eigenes Kind wegen Ausspracheproblemen nicht verstehen (da wächst man doch rein, Babys brabbeln auch erst mal Unverständliches).
Jedenfalls würden mich mal eure Gedanken zu Büchern dieser Art, die in den letzten ca. 10 Jahren erschienen sind, interessieren. Werden die Kinder nur negativ wahrgenommen (oder über weiter Strecken des Buches)? Findet ihr das Anspruchsdenken "mein Leben soll durch das Kind schöner werden" übertrieben? Widert es euch an, wenn Eltern sich schämen, dass ihr Kind nicht perfekt ist oder sein könnte? Könnt ihr die Gedanken solcher Eltern nachvollziehen? Ist das der allg. Tenor solcher Bücher in den letzten Jahren oder habe ich mir nur die "Rosinen rausgepickt"?
LG von
Keshia