Leo Tolstoi - Anna Karenina

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  • Leo Tolstoi - Anna Karenina


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    Mit der „Karenina“ hat Tolstoi meiner Meinung nach ein sagenhaftes Werk vollbracht. Inhaltlich, stilistisch wie sprachlich ist dieser Roman sehr gelunen.
    Es ist wohl einer der bekanntesten Ehebrüche der Literaturgeschichte, den Anna Karenina mit dem Grafen Wronski begeht und man ahnt, dass es nicht gut enden kann. Tolstoi wird stets nachgesagt, ein fantastischer Beobachter mit psychologischem Feingefühl und ein minutiöser Analytiker gewesen zu sein - in diesem Roman findet man all das bestätigt.


    Schon der Einstieg in das Werk ist dem Autor sehr unterhaltsam gelungen, denn er fängt den Leser gleich mit einem seiner buntesten Charaktere ein. Annas Bruder, Stiwa genannt, wurde von seiner Ehefrau beim Seitensprung erwischt und muss es nun wieder einmal gerade biegen. Er empfindet keine wirklich Reue, denn schließlich könne niemand von ihm verlangen, dass er seine mittlerweile alt gewordene Frau noch attraktiv finde und doch ist ihm viel an dem Hausfrieden gelegen und er bestellt seine Schwester Anna zu sich, um seine Frau wieder zur Besinnung zu bringen. So ist es denn der Fall, dass sich Tolstoi den Witz erlaubt, seine Hauptfigur als Schlichterin eines Ehebruchs in die Handlung einzuführen und letztendlich als verzweifelte Ehebrüchige Selbige wieder zu entlassen.
    Tolstoi versteht mehrerer solcher aberwitzigen Verstrickungen und Wirrungen zu konstruieren, was wohl nichts anderes darstellen soll als die bekanntliche Ironie des Schicksals.


    In seinen Charakteren findet man sich wieder und wieder. Sie sind ein Spiegel aller erdenklichen Basisemotionen und dabei so facettenreich aufgebaut, dass man zu keinem Zeitpunkt an ihrer tatsächlichen Existenz zweifelt.
    Anna Karenina blendet den Leser anfangs in ihrem Gewand aus bezaubernder Schönheit, unnatürlicher Selbstbeherrschung und liebevoller Anteilnahme, bis die Liebe zu Wronski die Maske der kühlen Selbstsicherheit zerstört und Anna schließlich komplett aufreibt. Ihr Bruder Stiwa, ein Opportunist und unverbesserlicher Genussmensch will einem nicht unsympathisch erscheinen, obwohl er nicht viel für Frau und Kinder übrig hat, aber wahrscheinlich einer der wahrhaftigsten Charaktere des ganzen Romans ist. Lewin, der Denker auf ständiger Suche nach dem Lebenssinn und phasenweisen Erleuchtungsmomenten setzt einem immer wieder die eigenen Zweifel vor die Nase. Wronski, verzweifelt liebend und trotzdem abweisend, lässt ähnlich wie Anna eine Fassade bröckeln, die einen unsicheren, ziellosen und in jeder Hinsicht tragischen Charakter hinter einem stattlichem, eindrucksvoll selbstbewusstem Manne versteckt hielt. Man würde nie an diesen und noch vielen weiteren Figuren zweifeln, da sie alle eine Entwicklung durchmachen, immer dynamisch und nachvollziehbar sind, nie in ihren Charkterzügen versumpfen, wie es nicht selten bei vielen Romanfiguren selbst talentiertester Schriftsteller der Fall ist.


    Desweiteren kann Tolstoi problemlos dem Urteil nachkommen, dass kaum jemand so zu erzählen verstand wie die Autoren im Russland des 19. und Anfang 20. Jahrhunderts. Man kann sagen, dass er sich einfach nur sehr bequem lesen lässt. Schachtelsätze, unverständliche Ausdrücke und verwirrende Formulierungen sucht man bei ihm vergebens. Anna Karenina ist in einem wunderbar flüssigem Stil geschrieben und trotzdem keinesfalls anspruchslos in seiner Sprache. Tolstoi kann mit Wörtern umgehen und haucht so nicht nur seinen Figuren, sondern auch den Schauplätzen sehr viel Leben ein. Genannt sei hier der Abschnitt, in welchem er Lewin bei der Heuernte begleitet und man wahrhaftig das Gefühl hat, man könne die glühend heiße Sonne auf dem Rücken spüren, würde die staubige, warme Luft einatmen und die gespannten, straffen Muskeln der schwitzenden Bauern bei jeder Bewegung beobachten.


    Und deshalb also hat Tolstoi meiner Meinung nach mit diesem Roman ein sagenhaftes Werk vollbracht. Seine Charakterstudien und lebendigen Beschreibungen sind meisterhaft und unbedingt lesenswert. Weiter oder noch unendlich viel mehr lässt sich zu diesem Roman nicht sagen.


    5ratten

  • Entschuldige, ich habe deine Verwirrung erst zu spät bemerkt.


    Der Satz ist tatsächlich etwas wirr, denn zu dem "weiter" müsste es nichts heißen.
    Also ich wollte nur sagen, dass man entweder gar nichts mehr zu diesem großartigen Roman sagen kann, sondern ihn einfach selber lesen muss oder eben einen ausufernden Kommentar schreiben müsste, um dem Buch gerecht zu werden.

  • Seit ich Anna Karenina im Frühjahr gelesen habe, fällt mir erst auf, wie häufig sie oder zumindest Tolstoi in sehr vielen anderen Büchern erwähnt wird. Andauern bezieht sich jemand darauf. Das habe ich vorher gar nicht bemerkt.

    Bücher sind Magie zum Mitnehmen.

  • Bei mir war es umgekehrt. Anna war überall, also wollte ich sie mal lesen. Interessant, wie die Literatur in der Literatur wahrgenommen wird :smile:

    //Grösser ist doof//

  • Hallo!


    Seit ich Anna Karenina im Frühjahr gelesen habe, fällt mir erst auf, wie häufig sie oder zumindest Tolstoi in sehr vielen anderen Büchern erwähnt wird.


    Das ist mir auch aufgefallen, allerdings nicht wegen Anna Karenina :winken: Ich führe seit zwei Jahren eine Liste, auf der ich alle Bücher notiere, die mir in anderen Büchern über den Weg laufen (und die ich irgendwann auch mal lesen will). Tolstoi kommt auf dieser Liste sehr oft vor.


    Liebe Grüße
    Kirsten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Ich hab das Buch vor 2 oder 3 Jahren gelesen und hab mir von diesem berühmten Roman vielleicht zu viel erwartet.
    Gefallen hat mir nur der Handlungsstrang um Anna und Wronsky (meine Sympathie hatte aber eigenartigerweise der betrogene Karenin), während ich Lewin und Kitty gar nicht mochte.
    Aber vielleicht muss ich den Roman nochmals in aller Ruhe lesen; als Buslektüre ist er vielleicht nicht so richtig geeignet.

  • Lew Tolstoi - Anna Karenina


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    "Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise." - Mit diesen weltberühmten Worten startet Rosemarie Tietzes aktuelle Übersetzung Tolstois Meisterwerk. Das Familienportrait zeigt die unglücklichen, aber auch glücklichen Seiten zweier Familien, die über das Geschwisterpaar Anna Karenina und Stepan Oblonski verbunden sind. Die Frauen sind, mit Ausnahme Lewins, die tragenden Figuren: Oblonskis Frau Darja/Dolly, die schwere Zweifel an ihrer Ehe plagen, ihre Schwester Jekatarina/Kitty, im heiratsfähigen Alter zwischen Verehrern und eigenen Wünschen zerrissen und Anna, deren heile und bis dato glückliche Welt durch die Begegnung mit Wronski und die entflammende Liebe zerbricht. Alle drei durchleben Phasen großer Enttäuschung, tiefen Leidens und großer Zweifel - ebenso wie schier überbordende Glücksgefühle. Zwischen diesen Gefühlen, Vernunft und gesellschaftlicher Erwartung lässt Tolstoi sie lebendig werden und den Leser an ihren Gedanken teilhaben.


    Anna Karenina besticht nicht durch Handlung, gemessen an der Länge des Werks passiert wenig. Es ist das Sittengemälde der russischen Gesellschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit all ihren Problemen - es ist die Zeit der großen Reformen Alexanders II., die durch Lewin diskutiert werden. Fragen nach der Rolle des Adels werden ebenso aufgeworfen wie kommunistische Gedanken, die das Land viele Dekaden später prägen werden. Die zentrale Problematik spiegelt sich jedoch in Anna Karenina wieder, die als verheiratete Frau aus dem Gefängnis der Ehe ausbrechen möchte und an den Konventionen, aber auch an ihrem eigenen Unvermögen zu kommunizieren und mangelnder Empathie zerbricht. Die Intensität mit der Tolstoi die Zerrissenheit der Frauen, insbesondere Annas und Kittys, schildert, überbrückt alle zeitlichen Distanzen und ist heute aktuell wie zur Zeit der Erstveröffentlichung.


    Erstaunlich ist, dass die titelgebende Figur erst nach rund 100 Seiten zum ersten Mal auftaucht. Vorher schwebt sie zwar über der Handlung, ist aber nicht präsent. Mit ihrer Ankunft am Bahnhof bereitet Tolstoi ihr jedoch einen roten Teppich und legt den Grundstein für ihr Unglück. Der Kreis schließt sich, indem man sie auch am Bahnhof ein letztes Mal sieht - unter anderem darin zeigt sich die Kunst Tolstois, die Tragik auf einen einsamen Höhepunkt zu bringen.


    Einen großen Beitrag hat sicherlich auch Rosemarie Tietze geleistet, deren Übersetzung sprachlich absolut gelungen ist. Leicht fliegt der Text dahin und schafft den schwierigen Spagat zwischen modernem Ausdruck und der Handlungszeit angemessener Formulierung.


    5ratten :tipp:


    weitere Anmerkung: Ich hatte mich bewusst für die aktuelle Übersetzung von Rosemarie Tietze entschieden, nachdem diese in den Feuilletons sehr gelobt wurde. Dem muss ich in jeder Hinsicht zustimmen. Außerdem bietet diese Ausgabe vielfälige Annonationen der Übersetzerin, was beim Verständnis sehr hilfreich ist und es scheint auch eine der wenigen nicht gekürzten deutschen Fassungen zu sein.

  • Kann jemand etwas zu den Übersetzungen von Fred Ottow (Artemis & Winkler) oder Bruno Goetz (Manesse) sagen? :winken: