Leo Tolstoi - Anna Karenina
Kaufen* bei
Amazon
Bücher.de
Buch24.de
* Werbe/Affiliate-Links
Mit der „Karenina“ hat Tolstoi meiner Meinung nach ein sagenhaftes Werk vollbracht. Inhaltlich, stilistisch wie sprachlich ist dieser Roman sehr gelunen.
Es ist wohl einer der bekanntesten Ehebrüche der Literaturgeschichte, den Anna Karenina mit dem Grafen Wronski begeht und man ahnt, dass es nicht gut enden kann. Tolstoi wird stets nachgesagt, ein fantastischer Beobachter mit psychologischem Feingefühl und ein minutiöser Analytiker gewesen zu sein - in diesem Roman findet man all das bestätigt.
Schon der Einstieg in das Werk ist dem Autor sehr unterhaltsam gelungen, denn er fängt den Leser gleich mit einem seiner buntesten Charaktere ein. Annas Bruder, Stiwa genannt, wurde von seiner Ehefrau beim Seitensprung erwischt und muss es nun wieder einmal gerade biegen. Er empfindet keine wirklich Reue, denn schließlich könne niemand von ihm verlangen, dass er seine mittlerweile alt gewordene Frau noch attraktiv finde und doch ist ihm viel an dem Hausfrieden gelegen und er bestellt seine Schwester Anna zu sich, um seine Frau wieder zur Besinnung zu bringen. So ist es denn der Fall, dass sich Tolstoi den Witz erlaubt, seine Hauptfigur als Schlichterin eines Ehebruchs in die Handlung einzuführen und letztendlich als verzweifelte Ehebrüchige Selbige wieder zu entlassen.
Tolstoi versteht mehrerer solcher aberwitzigen Verstrickungen und Wirrungen zu konstruieren, was wohl nichts anderes darstellen soll als die bekanntliche Ironie des Schicksals.
In seinen Charakteren findet man sich wieder und wieder. Sie sind ein Spiegel aller erdenklichen Basisemotionen und dabei so facettenreich aufgebaut, dass man zu keinem Zeitpunkt an ihrer tatsächlichen Existenz zweifelt.
Anna Karenina blendet den Leser anfangs in ihrem Gewand aus bezaubernder Schönheit, unnatürlicher Selbstbeherrschung und liebevoller Anteilnahme, bis die Liebe zu Wronski die Maske der kühlen Selbstsicherheit zerstört und Anna schließlich komplett aufreibt. Ihr Bruder Stiwa, ein Opportunist und unverbesserlicher Genussmensch will einem nicht unsympathisch erscheinen, obwohl er nicht viel für Frau und Kinder übrig hat, aber wahrscheinlich einer der wahrhaftigsten Charaktere des ganzen Romans ist. Lewin, der Denker auf ständiger Suche nach dem Lebenssinn und phasenweisen Erleuchtungsmomenten setzt einem immer wieder die eigenen Zweifel vor die Nase. Wronski, verzweifelt liebend und trotzdem abweisend, lässt ähnlich wie Anna eine Fassade bröckeln, die einen unsicheren, ziellosen und in jeder Hinsicht tragischen Charakter hinter einem stattlichem, eindrucksvoll selbstbewusstem Manne versteckt hielt. Man würde nie an diesen und noch vielen weiteren Figuren zweifeln, da sie alle eine Entwicklung durchmachen, immer dynamisch und nachvollziehbar sind, nie in ihren Charkterzügen versumpfen, wie es nicht selten bei vielen Romanfiguren selbst talentiertester Schriftsteller der Fall ist.
Desweiteren kann Tolstoi problemlos dem Urteil nachkommen, dass kaum jemand so zu erzählen verstand wie die Autoren im Russland des 19. und Anfang 20. Jahrhunderts. Man kann sagen, dass er sich einfach nur sehr bequem lesen lässt. Schachtelsätze, unverständliche Ausdrücke und verwirrende Formulierungen sucht man bei ihm vergebens. Anna Karenina ist in einem wunderbar flüssigem Stil geschrieben und trotzdem keinesfalls anspruchslos in seiner Sprache. Tolstoi kann mit Wörtern umgehen und haucht so nicht nur seinen Figuren, sondern auch den Schauplätzen sehr viel Leben ein. Genannt sei hier der Abschnitt, in welchem er Lewin bei der Heuernte begleitet und man wahrhaftig das Gefühl hat, man könne die glühend heiße Sonne auf dem Rücken spüren, würde die staubige, warme Luft einatmen und die gespannten, straffen Muskeln der schwitzenden Bauern bei jeder Bewegung beobachten.
Und deshalb also hat Tolstoi meiner Meinung nach mit diesem Roman ein sagenhaftes Werk vollbracht. Seine Charakterstudien und lebendigen Beschreibungen sind meisterhaft und unbedingt lesenswert. Weiter oder noch unendlich viel mehr lässt sich zu diesem Roman nicht sagen.