Charlotte Sandmann - Kalte Zärtlichkeit

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    Charlotte Sandmann: Kalte Zärtlichkeit – Roman, München 2009, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24699-6, 378 Seiten, Softcover, Format 13,5 x 21 x 3 cm, Euro 14,90 [D] 15,40 [A]sFr 25,80.


    München, 1853: Dr. Carl-Ludwig Nicolai – oder eigentlich: Dr. Aaron Marsalla, 27, ist ebenso arm wie ehrgeizig. Der junge Arzt, Sohn einer orthodoxen sephardischen Jüdin, die wegen ihres zweiten Ehemanns zum Katholizismus konvertiert ist, behandelt keine Patienten. Er ist Assistenzarzt von Professor Max Pettenkofer an der Königlich-Bayrischen Universität München und befasst sich mit der Entstehung von Krankheiten. Wie sein Chef vermutet er, dass Miasmen, also üble Dünste, die Krankheiten auslösen.


    Ein ungewöhnliches Geschäft: Mitgift gegen Bildung
    Da dem jungen Mediziner für seine Forschungen und für ein angemessenes Auskommen das nötige Kleingeld fehlt, macht er der albernen jungen Erbin Clara Colberg den Hof. Als Ehemann hätte er die Verfügungsgewalt über ihr Vermögen und damit ausgesorgt. Clara Colberg ist genau so lange interessant, bis er auf einem Debütantinnenball eine noch reichere Erbin kennen lernt: die 16-jährige Henriette Dalbeck, eine Kaufmannstochter aus großbürgerlichem Haus, die einmal die reichste Frau Münchens sein wird. Doch Henriette ist kein albernes Gänschen. In punkto Pragmatismus, Abgebrühtheit und Geschäftstüchtigkeit ist sie Nicolai mindestens ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen.


    Henriette ist bewusst, dass das Interesse ihrer Verehrer auf ihr Vermögen gerichtet ist und nicht auf sie als Person. Und wenn das Heiraten schon ein Geschäft ist, dann will sie sich wenigstens den besten Ehemann kaufen, der für Geld zu haben ist. Gebildet muss er sein, denn Henriette will unbedingt etwas lernen. Freiherr Dr. Rudolf von Lauderbach-Sillern, ein Arzt, der seit längerem um sie wirbt, wäre ein ganz brauchbarer Kandidat, wenn er nur nicht immer mit ihr sprechen würde, als wäre sie ein begriffsstutziges Kind!


    Dr. Nicolai ist da schon die bessere Wahl: intelligent, gut aussehend, exotisch und geheimnisvoll – und so sehr auf Henriettes Geld angewiesen, dass sie ihm die Geschäftsbedingungen diktieren kann: „Wir haben doch beide einen Herzenswunsch, nicht wahr? Sie wollen reich sein. Ich will gebildet sein. Niemand wird uns den Wunsch erfüllen, wenn wir es nicht gegenseitig tun. Nehmen Sie mein Geld und unterrichten Sie mich!“ (S. 162) Dr. Nicolai bleibt nichts anderes übrig, als dem Handel zuzustimmen – und zu hoffen, dass Henriette bald das Interesse am Unterricht verliert.


    Auch wenn Freunde, Verwandte und unbefugte G’schaftlhuber Henriette Dalbeck eindringlich vor einer Ehe mit dem undurchsichtigen Dr. Nicolai warnen, heiraten die beiden. Natürlich hat Schwiegervater Heinrich Dalbeck den Kandidaten zuvor von einem Detektiv durchleuchten lassen. Und Onkel Friedrich, der Rechtsanwalt, hat einen wasserdichten Ehevertrag aufgesetzt. Auch beim Erwerb eines Schwiegersohns überlassen die Dalbecks nichts dem Zufall.


    Schon vor der Geschichte mit Henriette war Freiherr Dr. Rudolf von Lauderbach-Sillern seinem Kollegen Nicolai nicht grün. Auch Lauderbach erforscht die Entstehung der Krankheiten, ist aber ein Anhänger der unpopulären Bazillen-Theorie. Jetzt hasst er „den Moische“, der ihm die Braut ausgespannt hat, aus ganzem Herzen. Auch wenn die Nicolais es nicht ernst nehmen: In Rudolf von Lauderbach haben sie nun einen Todfeind.


    Mit dem Geld aus Henriettes Mitgift richtet sich Dr. Nicolai ein erstklassiges Labor ein und betreibt seine Forschungen. Die beiden Frauen in seinem Leben – Ehefrau Henriette und seine nicht minder bildungshungrige und „frauenbewegte“ Schwester Wilhelmina – haben nur begrenzt Einblick in seine Arbeit.


    Ein altes Lied: Machtspielchen contra Fortschritt
    Im Sommer 1854 kommt es in Dr. Nicolais Labor zu einem dramatischen Zwischenfall, der weitreichende Folgen hat. Selbst seine bisherigen Freunde und Förderer wenden sich von ihm ab. Von heute auf morgen ist Dr. Nicolai beruflich und gesellschaftlich erledigt. Nur seine Frau, seine Schwester und die Dalbecks halten zu ihm.


    Als er im Juli bei einem Nachbarn die cholera asiatica diagnostiziert, will ihm niemand glauben. Vor allem die Behörden sperren sich, denn ein Seuchenalarm würde den Todesstoß für die gerade stattfindende Industrieausstellung bedeuten - und einen Milliardenschaden für die bayrische Wirtschaft. Die beginnende Epidemie lässt sich zwar für kurze Zeit herunterspielen, aber aufhalten ließe sie sich nur, wenn die Herren in den Ämtern und der Ärzteschaft mal einen Moment lang ihre persönlichen Gockeleien und Animositäten beiseite lassen könnten und zum Wohl der Allgemeinheit kooperieren würden. Aber es sieht nicht danach aus ...


    Vieles an diesem Roman ist fiktiv, doch der Streit um die ersten Entdeckungen lebenden Krankheitserregern ist authentisch. Auch Professor Max Pettenkofer ist eine historische Person – ein genialer Forscher, der sich durch das starrsinnige Beharren auf veralteten Theorien ins Zwielicht rückte.


    Dr. Nicolai, der männliche Held des Romans, macht es einem wahrlich nicht leicht, ihn zu mögen. Er ist abwechselnd kalt und jähzornig, oft berechnend und egoistisch. Dazu betreibt er noch recht unappetitliche Forschungen. Anfangs gönnt man ihm jeden Ärger, den er sich mit seiner energischen und naseweisen jungen Gattin eingehandelt hat. Kein Mitleid mit dem Mitgiftjäger! Doch im Verlauf der Geschichte verschieben sich die Loyalitäten. Nicolai mag unsympathisch sein, aber er verfolgt seine wissenschaftlichen Ziele nicht nur aus persönlichem Ehrgeiz, sondern weil er den Menschen mit seinen Erkenntnissen helfen möchte. Dass man so mit ihm umspringt wie seine Gegner es tun, die ihn aus höchst unprofessionellen Gründen beruflich ausbremsen, das hat er nicht verdient. Dass die sympathischen Heldinnen, Henriette und Wilhelmina, ihm zugetan sind, tut ein Übriges. Wenn diese beiden tollen Frauen ihn mögen, kann er dann ein durch und durch übler Kerl sein?


    Dass vor 150 Jahren vieles anders war als heute, wird uns in diesem Roman auf interessante, unterhaltsame und anschauliche Weise vor Augen geführt: die steifen Rituale der großbürgerlichen Gesellschaft, das komplizierte Verfahren der Brautwerbung und das Leben der Frauen, die damals von Bildung, Eigenständigkeit und einer Karriere nur träumen konnten. Und manches ändert sich wohl nie: Neid, Eifersucht, Engstirnigkeit, Eitelkeit, Fremdenfeindlichkeit und Rachsucht. Heute würde man das, was Dr. Nicolai widerfahren ist, wohl „Mobbing“ nennen. Einzelne Menschen mag man damit aus dem Konzept bringen können. Aber der wissenschaftliche Fortschritt lässt sich auf Dauer weder hinwegmobben noch aufhalten.


    Der Roman "Kalte Zärtlichkeit“ ist weit mehr als eine schöne Liebesgeschichte in historischem Ambiente. Er ist ein Sittengemälde des ausgehenden 19. Jahrhunderts und bringt dem Leser zudem ein bedeutendes Stück der Medizingeschichte nahe.


    Die Autorin
    Charlotte Sandmann, Generation 50+, ist in der Erwachsenenbildung tätig, Autorin, Ghostwriterin und Übersetzerin.

  • Wow, eine tolle Rezi! Ich werde mir das Buch "merken"! Danke.


    lg, Frau 32

  • Am Klappentext von „Kalte Zärtlichkeit“ hat mich in erster Linie der medizinische Anteil interessiert und ich war bereit dafür ein bisschen Liebesgeschichte in Kauf zu nehmen, Vandams positive Rezension tat dann ihr Übriges. Wenn das Buch zu viele Liebesszenen enthalten hätte, hätte ich die Achseln gezuckt und gedacht „Pech gehabt.“, doch leider war das Buch letztendlich weder Medizin- noch Liebesroman und hat mich so gar nicht begeistert.


    Die Geschichte selbst war aber nicht die Hauptursache, warum mir das Buch nicht gefiel, ich kam mit dem Stil der Autorin einfach überhaupt nicht zurecht. Meiner Meinung nach beschreibt die Autorin einfach viel zu viel. Statt die gesellschaftlichen Verhältnisse für sich selbst sprechen zu lassen und sie dem Leser durch Handlungen oder Beobachtungen nahe zu bringen, legt die Autorin ihrer Hauptfigur beispielsweise Gedanken über generelle Heiratsmotive in den Kopf. Das wirkt unnatürlich und gestellt, ich kann mir keine lebende Person vorstellen, die so denkt bzw. handelt. Charlotte Sandmann verliert sich ansonsten häufig in generellen Details, die die Geschichte aber nicht erläutern oder ausschmücken, sondern sie billig wirken lassen. Es kommt mir so vor, als würde sie ihren Lesern nicht zutrauen, dass diese auch einmal zwischen den Zeilen lesen können und nicht alles haarklein vorgekaut bekommen müssen.


    Mit der Figurenzeichnung kann sie nichts retten, die Personen sind eher unsympathisch (gerade die Hauptfiguren) und die Autorin konnte mir leider im Allgemeinen auch kein glaubhaftes Motiv für das jeweilige Handeln der Figuren liefern, sondern stattet die Figuren einfach wahlweise mit Jähzorn oder aus diversen Gründen unterdrückten Gefühlen aus, die dann zur Verschlagenheit führen.


    Insgesamt wirkte „Kalte Zärtlichkeit“ auf mich kalt, leblos und unnatürlich und so kommt mir wohl kein weiteres Buch der Autorin ins Haus.


    3ratten

  • Als Tochter eines betuchten Kaufmanns gehört Henriette Dalbeck 1853 auf dem Münchner Heiratsmarkt zu den begehrenswertesten Kandidatinnen und ist schon so gut wie verlobt mit dem jungen Arzt Rudolf von Lauderbach. Doch als sie auf einem Ball kurz einem Berufsgenossen von Rudolf begegnet, kann sie diesen etwas geheimnisvoll wirkenden Dr. Aaron Nicolai einfach nicht mehr vergessen und ist sich nach einer weiteren Begegnung sicher: der oder keiner!


    Rudolf ist mehr als eifersüchtig auf Aaron, nicht nur, weil er ihm Henny ausgespannt hat, sondern auch, weil er ihn gleich aus zwei Gründen verachtet: Aaron ist, wenngleich katholisch getauft, jüdischer Abstammung, und er hängt auf dem Gebiet der Forschung über Krankheitsentstehung der Miasmenlehre seines Chefs Max von Pettenkofer an, die Rudolf für komplett überholt hält.


    Die wissbegierige Henny bekommt trotz aller Widrigkeiten ihren Angebeteten, doch das Glück ist nicht ungetrübt, denn ihre Hoffnungen, von ihrem Gatten viel über Naturwissenschaften und Medizin lernen zu können, werden enttäuscht. Er ist, ganz zeitgemäß, der Meinung, dass Frauen nicht zum Studieren taugen. Allerdings hat er da die Rechnung ohne seine Schwester Minna gemacht, die Henny nur zu gern in ihren Wünschen unterstützt.


    Zu Beginn des Romans steht hauptsächlich das Liebesdreieck zwischen Henny, Rudolf und Aaron im Mittelpunkt, wobei sich die übergroße Anziehung, die Aaron auf Henny ausübt, nicht so ganz hundertprozentig erschließt. Garniert mit einigen gemeinen Intrigen gegen die Verbindung der reichen Erbin mit dem mittellosen Aaron, dessen jüdische Vorfahren gemeinhin als Makel gelten, ist die Liebesgeschichte in der ersten Buchhälfte recht konventionell erzählt.


    Was das Buch aber wirklich interessant macht, ist der medizinhistorische Hintergrund. Der Wettstreit der verschiedenen "Schulen", die zu erklären suchen, wie Krankheiten entstehen und übertragen werden, das gerade erst allmählich aufkommende Verständnis für die Bedeutung der Hygiene nicht nur in Krankenhäusern, sondern auch und gerade bei den sanitären Verhältnissen in Städten und nicht zuletzt die Choleraepidemie, die München im Jahr 1854 heimsucht (und so einige Parallelen zur aktuellen Situation erkennen lässt), sind hochspannende Themen, die zum Weiterrecherchieren einladen und mich ziemlich fasziniert haben. Da lässt es sich auch verschmerzen, dass viele Figuren eher ein bisschen einseitig gezeichnet sind.


    Der Titel allerdings ist mehr als doof.


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen