Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares

Es gibt 11 Antworten in diesem Thema, welches 3.892 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

  • Eine bemerkenswerte Randnotiz vorweg: dieses Buch befindet sich in manchem SuB, eigentlich sollte inzwischen jemand eine Rezension verfasst haben. Oder geht es den Lesern wie mir - bis vor kurzer Zeit?


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    Es gibt Bücher, zu denen man erwartungsvoll greift, und es gibt solche, zu denen man sich aufrafft. Das Buch der Unruhe gehört zu diesen, und der Vorgang des Aufraffens dauerte in meinem Fall etwa drei Jahre, so lange druckste ich um den Einstieg herum.


    Etwas später bemerkte ich, dass es mit dem Aufraffen zum Einstieg nicht getan ist. Hier gilt es, sich immer wieder aufzuraffen. Tatsächlich hatte ich bei diesem Buch Schwierigkeiten, mir nach etwa 80 mühsamen Seiten vorzustellen, dass ich auch irgendwann einmal wenigstens die knapp 450 Seiten des Kerntextes – also ohne Appendices – bewältigt haben würde. Mission accomplished, was also bleibt?


    Das Buch der Unruhe ist eine Herausforderung an die Duldsamkeit des Lesers, keine Frage. Die haarspalterische und quälende Selbstbespiegelung des Bernardo Soares, der hier in immer neuen Facetten seine Seelenlandschaft ausbreitet und analysiert, hält kaum Lichtblicke bereit. Schlüsselbegriffe, die immer wieder auftauchen, sind der Überdruss, der Schmerz, die Übelkeit, der Ekel. Es ist das Psychogramm einer implodierten Seele, durch eigenen Entschluss abgeschnürt von dem Gang der Außenwelt, abgesehen nur von der mechanisch verrichteten Arbeit als Hilfsbuchhalter und passiv erlebten Wahrnehmungen – wobei der Vorgang des Wahrnehmens aber sofort durch die Mühle der Reflexion und Zergliederung gedreht wird, bis zur völligen Relativierung. Kein weltanschauliches System, kein Glaube, kein gesellschaftliches Ordnungsprinzip kommt hier heil davon. Und am allerwenigsten der Erzähler seiner Befindlichkeiten selbst.


    Es fordert physische Mühe, diese Seelenlandschaften in ihrer ganzen Trostlosigkeit zu durchschreiten. Aber immer wieder erheben sich hier eben auch frappierende und überscharfe Einsichten und Bilder, die den Leser verzaubern können und die man nur rechtzeitig wahrnehmen muss, ehe sie sich in der Atmosphäre der völligen Hoffnungslosigkeit, die hier herrscht, wieder auflösen.


    Das Buch der Unruhe ist, das soll nicht verschwiegen werden, auch insofern eine Herausforderung an den Leser und Rezensenten, als die Konsequenz, mit der hier vor der Folie einer bis an den Rand des Solipsismus getriebenen Subjektivität dekonstruiert wird, schier über Leichen geht. Es ist starker Tobak, wenn Hilfsbereitschaft, Güte, Mildtätigkeit prinzipiell verworfen werden, da sie unter ästhetischen Gesichtspunkten abzulehnen seien. Müsste man die Ausführungen des Titelhelden mit einer authentischen Haltung des Autors identifizieren, wäre das Buch abscheulich. Erträglich ist es, das allerdings auf beträchtlichem Niveau, nur als distanzierte und vom Autor selbst abgelöste Beschreibung einer Geisteshaltung.


  • Eine bemerkenswerte Randnotiz vorweg: dieses Buch befindet sich in manchem SuB, eigentlich sollte inzwischen jemand eine Rezension verfasst haben. Oder geht es den Lesern wie mir - bis vor kurzer Zeit?


    Hallo Gronauer,


    also ich habe mich eben auch gewundert, dass es bislang hier noch keine Rezensionen zu diesem Buch gegeben hat.


    Zu meinen Erlebnissen mit diesem modernen Klassiker: ich habe es mit 19 oder 20 Jahren gelesen, als ich eine mittelschwere Portugal-Phase hatte und registriert habe, dass Pessoa unbedingt von mir gelesen werden muss. Zugegebenermaßen habe ich anfangs sehr gekämpft, aber ich habe durchgehalten und war ziemlich beeindruckt - einerseits wegen der ziemlich depressiven Passagen, andererseits, weil das Werk Pessoas auch wirklich brillante Komponenten hat. Es lag mir eine ganze Weile im Magen, vielleicht ein wenig unverdaulich, aber immerhin so bleibend, dass ich auf meiner nächsten Reise nach Lissabon gleich auf des Schriftstellers Wegen wanderte...
    Nach gut 10 Jahren könnte ich die Lektüre eigentlich fast mal wieder in Angriff nehmen.


    Schönen Gruß
    dubh

    Liebe Grüße

    Tabea


  • Etwas später bemerkte ich, dass es mit dem Aufraffen zum Einstieg nicht getan ist. Hier gilt es, sich immer wieder aufzuraffen.


    Ich habe das Buch der Unruhe vor zwei Jahren im Rahmen der Leserunde im Klassikerforum gelesen, und ich kann mich erinnern, dass ich mich sehr schwergetan habe mit dem Buch, und ich musste mich ebenfalls immer wieder aufraffen, es weiterzulesen.


    Anfangs war ich noch recht angetan von den Aufzeichnungen des Hilfsbuchhalters Soares. Die Fragmente haben etwas von Tagebuchnotizen (als solche wollen sie vielleicht auch gelesen werden), und da ich grundsätzlich ein Faible habe für Tagebücher, haben mir all' die kleinen Alltagsschilderungen und Gedankenfetzen auch ganz gut gefallen. Es gibt jedenfalls eine Menge anrührender Stellen, viele kleine (Lebens-)Weisheiten und den einen oder anderen nachdenkenswerten Geistesblitz.


    Allerdings ist mir die exzessive Nabelschau des Protagonisten irgendwann zu viel geworden. Nabelschau kann ja bisweilen ganz erhellend sein und Menschen mit genügend ausgeprägter Fähigkeit zur Selbstreflexion dazu bewegen, ähnlich in sich hineinzuhorchen. Aber die Breite, in der dies im Buch ausgewalzt wird, und das große Selbstmitleid, in dem der Erzähler sich wälzt, verbunden mit einer latenten Überheblichkeit gegenüber anderen Menschen - das hat mich echt fertig gemacht und irgendwann nur noch genervt.


    Klar, als unverstandener Teenager, der - wie jeder andere Teenager - selbstverständlich anders als alle anderen Teenager ist, war ich ähnlich misanthropisch drauf, so dass mir nicht ganz wesensfremd war, was ich da bei Pessoa gelesen habe. Aber möglicherweise bin ich auch einfach älter und gelassener geworden und sehe vieles nicht mehr so verbissen.


    Ich habe schließlich für mich festgestellt, dass ich das Buch nicht hintereinander weg lesen konnte wie einen Roman, sondern lediglich häppchenweise. Das kam auch dem fragmentarischen Aufbau des Buches entgegen. Es ist einfach keine linear erzählte Geschichte. Und wenn ich es recht in Erinnerung habe, ist es auch nicht hintereinanderweg von Pessoa geschrieben worden, sondern im Laufe mehrerer Jahre (Jahrzehnte?) entstanden.



    Mission accomplished, was also bleibt?



    Zugegebenermaßen habe ich anfangs sehr gekämpft, aber ich habe durchgehalten


    Bravo. Ich habe etwa nach der Hälfte aufgegeben. :breitgrins:

  • Zitat

    Klar, als unverstandener Teenager, der - wie jeder andere Teenager - selbstverständlich anders als alle anderen Teenager ist, war ich ähnlich misanthropisch drauf, so dass mir nicht ganz wesensfremd war, was ich da bei Pessoa gelesen habe. Aber möglicherweise bin ich auch einfach älter und gelassener geworden und sehe vieles nicht mehr so verbissen.


    So etwas ähnliches lag mir auch auf der Tastatur, ich habe es mir aber verkniffen. Dank an MacOss, dass er mir hier den Minenhund gespielt hat. :zwinker:

  • In einem Beitrag der Sendung Büchermarkt des Deutschlandfunks vom vergangenen Montag (->klick) wird über eine aktuelle Edition einiger erst kürzlich erschlossener Aufzeichnungen Pessoas berichtet, die er seinerzeit in einer riesigen Truhe aufbewahrt hat und die in diesem Jahr im Ammann-Verlag unter dem Titel Genie und Wahnsinn herausgegeben wurden.


    Dem Beitrag nach war Pessoa schon als junger Mann davon überzeugt, als Künstler ein krankes, einsames Wesen an der Schwelle zwischen Genie und Wahnsinn zu sein (natürlich :zwinker:). Und ich fühle mich irgendwie in meinem Vorurteil bestätigt, das ich schon beim Lesen des Buchs der Unruhe hatte: nämlich dass Pessoa offenbar über diese pubertäre Phase nicht hinausgekommen ist... :rollen:


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    Fernando Pessoa - Genie und Wahnsinn: Schriften zu einer intellektuellen Biographie

  • Das "Buch der Unruhe" von Pessoa ist eines meiner Lieblingsbücher, trotzdem fällt es mir schwer, etwas einigermassen Informatives darüber zu schreiben, zumal es darin im Prinzip keine Handlung gibt. Ich musste während der Lektüre immer wieder Pausen einlegen, kaum ein anderes Buch hat mich bisher, sprachlich und inhaltlich, so sehr beeindruckt, dass ich davon geradezu erschlagen war und mich immer wieder von einer kleinen Zahl gelesener Seiten erholen musste. Es ist ein unglaublich intensives Werk, das ich irgendwann noch einmal geniessen möchte, obwohl ich mich gleichzeitig vor dem Versuch fürchte, denn ich habe leider auch Kierkegaard gelesen und musste erfahren: es gibt keine Wiederholung. Dennoch...


    Wer auch ein wenig in Pessoas "Spiel" mit den Heteronymen einsteigen will, dem seien nachdrücklich die sehr schönen englischen Übertragungen der Lyrik von Richard Zenith empfohlen. Eines der schönsten Gedichte, falls man probelesen will, ich glaube, nicht einem der Heteronyme zugeordnet, also in Pessoas eigenem Namen geschrieben, ist meiner Meinung nach Un soir à Lima, eine bewegende Kindheitserinnerung des vielleicht bedeutendsten Melancholikers des zwanzigsten Jahrhunderts.

    Tell all of my friends, I don&#039;t have too many: just some rain-coated lovers&#039; puny brothers. Dallow, Spicer, Pinkie, Cubitt - rush to danger, wind up nowhere.<br />Patric Doonan - raised to wait. I&#039;m tired again, I&#039;ve tried again...<br />and now my heart is full. Now my heart is full and I just can&#039;t explain, so I won&#039;t even try to.<br />(Morrissey)

  • Ich habe das Buch seinerzeit nach etwa 50 Seiten abgebrochen, aber ich wollte eigentlich schon lange mal wieder ein bisschen reinlesen...

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    Zitat

    Ich betrachte das Leben als eine Herberge, in der ich verweilen muss, bis die Postkutsche des Abgrunds eintrifft. Ich weiß nicht, wohin sie mich bringen wird, denn ich weiß nichts.


    Meine Meinung

    Das ist einer der Sätze, die mich direkt angesprochen haben. Bernardo Soares benutzt eine sehr bildhafte Sprache, in der er viel sagt, aber nur wenig erzählt. Er wirkt nicht glücklich, wie er da vor sich hinschreibt. Bernardo will nichts mehr sein, als er ist und hat kein Interesse, etwas anderes zu sehen als das bereits Bekannte.


    Seine Gedanken, die sich in diesem sehr kleinen Umfeld bewegen, sind sehr tiefgründig. Aus einer eigentlich unbedeutenden Begebenheit wird oft eine Überlegung über das gesamte Sein. Anfangs haben mich diese Gedankengänge fasziniert, später hatte ich aber den Eindruck , als ob sich Bernardo immer mehr im Kreis drehen würde. An den Anfang ist er allerdings nicht wieder zurück gekommen.


    Es war keine einfache Lektüre, aber trotzdem hat das Buch mich durch die wunderbare Sprache fasziniert.

    3ratten


    Leibe Grüße

    Kirsten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Ich hatte zwar nach einem Thread gesucht, aber die Suche hat nichts ausgespukt. Wahrscheinlich habe ich mich verschrieben.:rolleyes: Kann ein lieber Moderator die Threads bitte zusammenfügen?:*

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