Sind Klassiker langweilig?

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  • Ich muss sagen, ich kann mit dem Versteifen darauf, dass Bücher zu Klassikern werden, weil sie „zeitlos“ seien oder „allgemein menschliche Themen“ behandeln, rein gar nichts anfangen. Die meisten Menschen interessieren sich nicht für Klassiker. Sie halten sie also offenkundig nicht für einen zeitlosen Ausdruck des allgemein Menschlichen. Und wenn man ehrlich ist, dann wird man zugeben, dass die Auswahl der Bücher, die als Klassiker bezeichnet wird, in der Regel von bestimmten Interessen geleitet ist. In der deutschen Literaturgeschichtsschreibung steht z.B. häufig das Interesse im Hintergrund, den langen Zeitraum zwischen der mittelhochdeutschen Literatur und der Epoche der Klassik und Romantik irgendwie zu überbrücken, um überhaupt von einer durchgängigen Literaturgeschichte sprechen zu können. Im Zuge dieses Unternehmens wurden auch Werke zu Klassikern erklärt, von denen außerhalb germanistischer Seminare kaum ein Mensch je gehört, geschweige denn sie gelesen hat. Sebastian Brants Narrenschiff gilt als Klassiker, aber steht das in irgendeinem Verhältnis dazu, ob dieses Werk tatsächlich gelesen wird? Nein. Kaum jemand liest irgendein Werk der neuzeitlichen deutschen Literatur, das aus der Zeit vor Lessing stammt (Grimmelshausen und die Lutherbibel dürften die spärlichen Ausnahmen darstellen). Hier im Thread ist schon bemerkt worden, dass heute nur noch wenige Leute etwas mit Klopstock anfangen können. Dennoch verzeichnet ihn jede Literaturgeschichte brav als Klassiker. Klingers Sturm und Drang hat einer ganzen Literaturepoche ihren Namen gegeben, und wenn das nicht klassikerverdächtig ist, was dann? Aber Klinger wird nicht gelesen. Weitere Beispiele lassen sich unschwer finden.


    Ich finde Literatur vor allem dann interessant, wenn sie mir etwas über das Gewordensein der Welt, in der ich lebe, mitteilen kann. Die deutsche Romantik ist nach wie vor interessant, weil sie als erste das moderne Entfremdungsgefühl des Individuums in den Mittelpunkt der literarischen Reflektion gerückt hat. Aus diesem Grund ist Novalis für mich ein bemerkenswerter Schriftsteller – nicht, weil man ihn „zeitlos“ immer lesen kann (im Gegenteil, jeder über eine halbe Seite hinausgehende Prosatext, den er verfasst hat, ist im Grunde unleserlich), sondern weil seine ästhetischen Überlegungen, obwohl für seine Zeit angestellt, mir auch über meine Zeit Aufschluss geben. Dickens ist interessant, weil er wie kaum ein anderer Autor des 19. Jahrhunderts vermittelt, was Urbanität und das Überleben im Konkurrenzkampf der sozialen Gruppen bedeutet (ja, früher nannte man das Klassenkampf). Hoffmann ist interessant, weil er dem Unheimlichen, das am Grund der modernen Psyche lauert, fast ein Jahrhundert vor Erfindung der Psychoanalyse Ausdruck verlieh. Die Bedeutung dieser Werke liegt für mich darin, dass sie die historischen Prozesse, in denen wir heute leben, in Literatur verwandelt haben, oder weil ihre Literatur sich in historische Wirklichkeit verwandelt hat. Sie sind nicht zeitlos, sondern sie sagen etwas über ihre Zeit, das auch mit meiner Zeit zu tun hat. Sie sind nicht allgemein menschlich, sondern sie sagen mir etwas über die Bedingungen meines Menschseins, seine historische Genese.


    Natürlich gibt es auch andere legitime Interessen, die für Literatur begeistern können. Shakespeare z.B. ist einfach sehr unterhaltsam, andere schreiben außergewöhnlich spannend. Aber das wäre auch so, wenn niemand sie zu Klassikern erklärt hätte. Ich habe kein Problem damit, einfach zuzugeben, dass Literatur mich anspricht, weil ich sie in Bezug auf das Individuum und die Gesellschaft aufschlussreich oder weil ich sie spannend, klangvoll, tröstend oder sonstwie unterhaltsam finde. Ob jemand behauptet, Literatur würde zum Klassiker, wenn sie einen jederzeit aufschließbaren Schatz an „allgemein Menschlichem“ oder enthielt oder „zeitlos“ seien, spielt für mich nur in einer Hinsicht eine Rolle: Es handelt sich um literaturpolitische Interventionen, die normieren, welcher Lesestoff mir zur Verfügung steht (also in Bibliotheken geführt oder regelmäßig neu aufgelegt wird). Den strategischen, literaturpolitischen Charakter solcher Aussagen sieht man hier im Thread sehr deutlich daran, wie die „zeitlosen“ Klassiker gegen „die Achtundsechziger“ ins Feld geführt werden. Das die Zeiten Überdauernde und das allgemein Menschliche in der Literatur scheint bei näherer Betrachtung nichts zu sein, was für alle Menschen einsichtig ist, sondern im Gegenteil höchst umstritten. In meinen Augen ist das nur oberflächlich betrachtet ein Paradox.


  • denn das, was viele Schriftstellen uns heute sagen zu meilen müssen, das wurde schon gesagt und geschrieben und das oft viel intensiver, traumverliebter und endgültiger.


    Ich bin froh, dass AutorInnen nicht so denken, ansonsten würde es diesen Berufsstand heute nämlich nicht mehr geben - und mir würde wirklich etwas fehlen! :zwinker: