Sind Klassiker langweilig?

Es gibt 101 Antworten in diesem Thema, welches 19.915 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Mrs Brandon.


  • Ich denke es kommt auch immer drauf an was man eben sonst so liest und ob die Themen die die meisten Klassiker Abdecken einen interessieren.


    Hmm. Ja, aber da gibt es doch so eine Bandbreite, dass ich mal behaupte, da werden alle Themen abgedeckt. Ausser man will partout eine Geschichte a la "tapfere, erfolgreiche, alleinerziehende Single-Frau in New York setzt sich durch".


    Lg Helmut

  • Hallo,


    daß Klassiker schwierig zu lesen und langweilig sind, ist ein Klischee, welches längst nicht stimmt.


    Damals, als sie geschrieben worden sind, waren sie schließlich auch nicht für Literaturkritiker und hochwertige Salons gedacht, sondern für jeden, der sie lesen wollte und es sich leisten konnte, sie zu kaufen. Man darf nicht vergessen, daß beispielsweise die Romane der Bronte-Schwestern, heute als Klassiker angesehen, im viktorianischen England den Ruf hatten, niveaulose Literatur für Frauen zu sein.


    Es ist lediglich so, daß die im Laufe der Geschichte nicht der Vergessenheit anheimfallende Bücher anspruchsvoller sind, wie der Durchschnitt. Die Art, wie sie ihre Themen behandeln, die Kunstfertigkeit der Sprache, die Fähigkeit, Probleme umfangreich zu beschreiben ist so herausragend gewesen, daß sie heute als "Klassiker" behandelt werden, während Tausende "seichter" Autoren einfach vergessen wurden.


    Dadurch aber ist es für den duchschnittlichen Leser, der sich auf leichte und seichte Romane konzentiert, schwerer verdaulich als die aktuelle Beststellerliste.


    Da tauchen schon mal Worte auf, die man heutzutage einfach nicht mehr kennt (daher der Abschnitt Wortmuseum auf meinem Blog) sowie sind die Abhandlungen so viel tiefgehender, wie in den aktuellen Beststellern, daß sie nicht einfach im Vorbeigehen gelesen werden können (und auch nicht wollen).


    Mit einem Klassiker muß man sich etwas mehr auseinandersetzen. Sie sind nicht spannend im Sinne moderner Thriller oder Krimis, es gibt da keine Elfen und Mädchen, welche die Welt retten. Sie handeln von Wirklichkeit. Sie sind mit der Absicht geschrieben worden, damals aktuelle Themen und Fragen zu behandeln, soziale Unterschiede zu thematisieren, Reisen zu beschreiben oder sich der Persönlichkeit zu widmen. Wer hingegen sein Regal mit spannenden, literarisch nicht anspruchsvollen, aber schnell und bequem zu lesenden Büchern der Moderne füllt, kann sich durchaus damit überfordert fühlen, was meistens als Langeweile gedeutet wird.


    Daneben schreiben Sie häufig von einer Welt, die uns einfach fremd ist. Damals, als das Reisen lang, gefährlich und beschwerlich war, als es keine soziale Sicherung gab und Kriege Alltag waren. Da fehlt uns manchmal schlicht und ergreifend jedes Verständnis dafür.


    Beschäfigt man sich aber etwas mit ihnen, liest mehrere davon, öffnet sich der damaligen Mentalität, sind sie nicht unbedingt schwieriger oder langweiliger, wie die moderne Literatur. Ich lese mit Begeisterung Dostojewski, Dickens, Balzac, Goethe und kann nicht sagen, daß sie mir besondere Schwierigkeiten machen. Ob ein modernes Buch aus der Spiegel-Bestsellerliste oder ein hundertjähriger Klassiker, wirklichen Unterschied gibt es nicht.


    Gruß


    Daniel


  • Ob ein modernes Buch aus der Spiegel-Bestsellerliste oder ein hundertjähriger Klassiker, wirklichen Unterschied gibt es nicht.


    Das stimmt. Zumindest wenn man sich die Mühe macht, sich in ältere Bücher einzulesen, sich mit der Sprache vertraut macht.
    Allerdings ist es hierbei wie mit modernen Büchern: einige gefallen einem vom Schreibstil her, andere nicht.


    Aktuell hatte ich dieses Phänomen spannenderweise mit Büchern von Goethe: Faust I und II fand ich von der Sprache her ganz zauberhaft, auch wenn einige Absätze doppelt gelesen werden mussten. Bei "Die Leiden des jungen Werther" hatte ich damit Probleme, ich konnte mich teilweise nicht auf die Sprache konzentrieren.

  • Ob ein modernes Buch aus der Spiegel-Bestsellerliste oder ein hundertjähriger Klassiker, wirklichen Unterschied gibt es nicht.


    Das sehe ich auch so. Ich lese zwar nicht so viele Klassiker wie moderne Literatur, aber ich sehe auch keinen Unterschied. Für mich geht es darum, dass mir ein Buch gefällt. Ein hochgelobtes Buch von einer Bestsellerliste kann mich genauso langweilen wie mich ein Klassiker begeistern kann. Das hat für mich nichts mit dem Alter des Buchs zu tun.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.


  • Ob ein modernes Buch aus der Spiegel-Bestsellerliste oder ein hundertjähriger Klassiker, wirklichen Unterschied gibt es nicht.


    Doch. Auf der Spiegel-Bestsellerliste ist ganz viel Mist drauf. Ein Klassiker ist ein Buch, welches sich unter Tausenden bereits durchgesetzt hat. Wenn man genauer hinsieht, ist eigentlich kaum ein Buch unter den ersten 10 Plätzen, welches noch in einem Jahr gelesen werden wird.


    Gruß, Thomas

  • Doch. Auf der Spiegel-Bestsellerliste ist ganz viel Mist drauf. Ein Klassiker ist ein Buch, welches sich unter Tausenden bereits durchgesetzt hat. Wenn man genauer hinsieht, ist eigentlich kaum ein Buch unter den ersten 10 Plätzen, welches noch in einem Jahr gelesen werden wird.


    Gruß, Thomas


    Sehe ich auch so. Literatur ist ja auch ein Stück weit repräsentativ für die Zeit, was bleibt dann für die letzten 20 Jahre? Ist unsere Gesellschaft nur mit Mord und Totschlag beschäftigt? Ist das das einzige Thema, das uns noch bewegt (und auch immer blutrünstiger sein muss, um uns zu bewegen?). Mir fehlen die großen Themen und Epen und ich vermute auch nicht, dass es viele Veröffentlichungen der letzten 20 Jahre schaffen werden, in die Annalen der großen Literatur einzuziehen.


  • Mir fehlen die großen Themen und Epen und ich vermute auch nicht, dass es viele Veröffentlichungen der letzten 20 Jahre schaffen werden, in die Annalen der großen Literatur einzuziehen.


    Naja, das ist nicht unbedingt ein Phänomen der Literatur, sondern generell unserer Zeit. In der Musik ist es ähnlich. Das Geträllere die Charts rauf und runter wird man zu 99% in 10 Jahren auch nicht mehr hören. Man wird aber immer noch oder wieder John Lennon hören oder Abba. Ein Musiker, den ich kenne, meinte neulich: Musiker, die man vor drei Jahren schon gehört hat, hat man auch vor 20 gehört. Ich wollte erst widersprechen, dann wußte ich aber nicht, was ich sagen sollte, weil ich es eigentlich genauso sah. Es ist ja alles auf schnellschnell gebürstet. Schnelle Kasse. Nur nichts Ungewohntes ausprobieren. Auf keinen Fall experimentieren. Und das sieht man den Produkten eben auch an.


    In den Spiegel Top 10 ist selten ein Buch, das mich ruft. Vielleicht wird man in 100 Jahren im Rückblick unsere Zeit nicht als die charakterisieren, in der die Leute blöder und oberflächlicher waren, sondern als die, in der die Tricksereien und Manipulationen am ausgeklügeltsten gewesen sind.


    VG Helmut

  • Das Geträllere die Charts rauf und runter wird man zu 99% in 10 Jahren auch nicht mehr hören.


    Das haben meine Eltern über die Beatles auch gesagt. Und ich über Abba ...


    Nein, ich bin nicht bereit, in diesen Ready-Made-Kulturpessimismus einzustimmen. "Werther" galt als Schund, war aber - für damalige Verhältnisse - ein Bestseller. Seine späteren Werke konnte Goethe kaum verkaufen. Schiller hat als (wie wir heute sagen würden) Indie-Autor mit seinen "Räubern" fast Privat-Konkurs gemacht. Raabe lebte von Werken, die man heute kaum noch kennt - sein Alterswerk galt als unverkäuflich.


    Experimente? Sind gut für den jungen, aufstrebenden Künstler. Dalí, Tinguely, Picasso - sie haben alle irgendwann nur noch sich selber abgekupfert. Und damit Kasse gemacht.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Aktuelle Literatur, ebenso wie Musik, wird stets aus durchschnittlich und leer wahrgenommen, wenn sie an kulturellen Maßstäben gemessen werden soll.


    Erst im Spiegel der Vergangenheit wird das eine oder andere hervorgeholt und in einem völlig anderen Nimbus betrachtet. Das verhilft so manchem Buch oder Musikstück zu einem erneuten Durchbruch. Daraus werden dann irgendwann die Klassiker, denn, dessen muß man sich bewußt sein: auch die 08/15 Bestseller sind ein Spiegelbild unserer Zeit und unserer Mentalität und können irgendwann ebenfalls zu Klassikern werden. Unsere moderne Zeit ist übrigens keinesfalls schlechter, verkommener oder oberflächlicher, wie die bereits vergangene. Es kommt uns nur vielleicht so, weil wir den modernen Durchschnitt mit den herausragendsten Werken der Vergangenheit betrachten. Aber auch die alten Griechen und Römer haben eine Menge Unsinn und Oberflächliches geschrieben, es ist nur eben vergessen worden.


    Ich gebe sandhofer Recht: auch Werther galt einst als Schundliteratur. Auch vor 100 Jahren gab es kritische Schriften über den Verfall der Kultur und die Zerstörung der LIteratur, nur die großen griechischen und römischen Dichter waren als Klassiker angesehen. Aber denen wiederum ging es vor 2000 Jahren auch nicht anders.


    Meines Erachtens ist es wichtig, zu betonen, daß es eigentlich so etwas wie Klassiker gar nicht gibt. Es sind einfach ein paar Bücher aus zweitausend Jahren Geschichte, die, entgegen dem Schicksal, welche die meisten Schriftsteller mit ihren Büchern erlitten haben, nicht vergessen wurden sondern immer noch gern gelesen werden. Auch ein "Faust" oder "Schuld und Sühne" reihen sich in denselben Strom, der vom Homer bis zu Rowlings und Bohlen fließt. Sie sind für den heutigen Menschen ebenso schwer (anstrengend?) zu lesen, wie es für unsere Enkeln ein "Harry Potter" werden wird.


    Mann kann Klassiker genauso gut lesen, genauso von ihnen mitgerissen werden und sie genauso lieben, wie moderne LIteratur. Man muß es nur wollen und bereit sein, die kleinen Hürden der Sprache und der Mentalität zu überspringen. Ebenso aber kann ein hundertjähriges Buch auch ein langweiliges Werk sein, wie ein moderner Beststeller.


  • Meines Erachtens ist es wichtig, zu betonen, daß es eigentlich so etwas wie Klassiker gar nicht gibt. Es sind einfach ein paar Bücher aus zweitausend Jahren Geschichte, die, entgegen dem Schicksal, welche die meisten Schriftsteller mit ihren Büchern erlitten haben, nicht vergessen wurden sondern immer noch gern gelesen werden.


    Diese Aussage finde ich einerseits unlogisch und andererseits würde ich ihr nicht zustimmen. Es gibt Klassiker, die Moden überleben und zu jeder Zeit gelesen werden, weil sie eben diese große, moden- und zeitenüberdauernden Themen in besonderer Weise darzustellen vermögen.


    Zitat

    Auch ein "Faust" oder "Schuld und Sühne" reihen sich in denselben Strom, der vom Homer bis zu Rowlings und Bohlen fließt.


    Die einzige Gemeinsamkeit, die ich dabei erkennen kann, ist dass es gedruckt wurde.

  • Danke, sandhofer. Das gleiche wollte ich auch schon schreiben. Weitere Beispiele:


    Ulysses


    Zitat

    Einzelne Episoden aus Ulysses werden ab 1918 in einer amerikanischen und ab 1919 in einer britischen Zeitschrift publiziert. Wegen seiner damals so empfundenen Obszönität wird das Werk sowohl in Großbritannien als auch in den U.S.A. verboten.


    In Irland ist das Werk wohl noch heute verboten.


    Don Quijote


    Zitat

    Zu den beliebtesten Lektüren des späten Mittelalters zählten die Ritterromane, besonders der Roman Amadis von Gallien. Steigende Nachfrage der Leserschaft führte zu einer Flut neuer Fortsetzungen, in denen immer fantastischere, unglaubwürdigere Abenteuer geschildert wurden, die – nach Meinung der Gebildeten jener Zeit – die Gehirne der Leser vernebelten.


    Hier setzt der Verfasser an. Sein Don Quijote soll nicht nur die Ritterromane parodieren, sondern auch vor Augen führen, wie deren übermäßige Lektüre den Verstand raubt.


    R. L. Stevenson


    Zitat

    Zu Lebzeiten war Stevenson sehr bekannt, doch als die Literatur der klassischen Moderne nach dem Ersten Weltkrieg aufkam, wurde er in Großbritannien als Autor zweiter Klasse angesehen, begrenzt auf das Genre der Kinder- und Horrorliteratur. Autoren wie Virginia und Leonard Woolf lehnten seine Werke ab, und er wurde aus dem Kanon der Literatur gestrichen.


    Auch früher gab es jede Menge Schund und wenige Perlen. So ist es heute auch noch. Manche Werke und Autoren geraten in Vergessenheit (Rudyard Kipling), an manche erinnert man sich wieder.

    Rechtsextremismus ist wieder salonfähig gemacht worden, durch CDU/CSU und FDP.


  • auch die 08/15 Bestseller sind ein Spiegelbild unserer Zeit und unserer Mentalität und können irgendwann ebenfalls zu Klassikern werden.


    Ja, das wird passieren, aber von den 150 unterschiedlichen Titeln, die sich auf der Spiegelbestsellerliste im Laufe eines Jahres so ansammeln, in 10 Jahren wären das 1500 Titel, werden sich eben nur 3 als Klassiker durchsetzen. Das können auch Titel sein, die heute belächelt werden. Aber der Rest ist halt vergessen.


    Gruß, Thomas


  • Sie sind für den heutigen Menschen ebenso schwer (anstrengend?) zu lesen, wie es für unsere Enkeln ein "Harry Potter" werden wird.


    Über die heutigen Bestseller kann man eben noch keine Aussage machen, wie sie sich entwickeln und empfunden werden. Als lächerlicher Schund oder als Klassiker. Wer das vorhersehen kann, hat seinen Beruf verfehlt (es sei denn er ist schon als Hellseher tätig).


    Gruß, Thomas


  • Über die heutigen Bestseller kann man eben noch keine Aussage machen, wie sie sich entwickeln und empfunden werden. Als lächerlicher Schund oder als Klassiker. Wer das vorhersehen kann, hat seinen Beruf verfehlt (es sei denn er ist schon als Hellseher tätig).


    Gruß, Thomas


    Ich stimme dir grundsätzlich zu, aber wenn man sich die großen Werke der Weltliteratur ansieht, dann fällt doch auf, dass die meisten eine Geschichte zu erzählen haben, oft sehr komplex oder über mehrere Generationen, aktuelle gesellschaftliche und/oder poitische Themen aufgreifend.


    Wenn ich die deutsche Beststellerlisten ansehe, dann dominieren dort seit Jahren Krimis, da würde es mich eher wundern, wenn aus diesem Genre sich Werke in die Kategorie der Klassiker einreihen würde.


  • dann dominieren dort seit Jahren Krimis, da würde es mich eher wundern, wenn aus diesem Genre sich Werke in die Kategorie der Klassiker einreihen würde.


    Wenn in 300 Jahren der Privatbesitz von Pistolen abgeschafft wurde, dann finden es Leser vielleicht sehr interessant, darüber zu lesen, wie man sich gegenseitig umgebracht hat und "liest" darin mehr aus unserer Psyche heraus als zum Beispiel bei Thomas Bernhard.


    Gruß, Thomas


    P.S. Aber evtl. kann ein Literaturwissenschaftler das etwas fundierter begründen, warum ich mit dieser Hypothese dann hoffentlich doch nicht recht haben werde.

    Einmal editiert, zuletzt von Klassikfreund ()

  • Klassiker sind Texte, die auch nach 50, nach 250 oder 2'500 Jahren ihre Leser noch zu neuen Interpretationen, zu neuen Gefühlen oder Gedanken verhelfen. Das hat mit Komplexität wenig zu tun. Karl Mays Schundromane, z.B. das "Waldröschen" erfüllt alle Kriterien, die aufgezählt wurden: "komplex oder über mehrere Generationen, aktuelle gesellschaftliche und/oder poitische Themen aufgreifend". Dennoch wird niemand diesen Text im Ernst "klassisch" nennen wollen.


    Insofern können Klassiker auch veralten. Wer liest, ja kennt, heute noch Klopstock? Ich traue mir zu, nur anhand der Tatsache, ob einer noch dessen Gedicht "Der Zürcher See" auswendig hersagen kann oder nicht, zu sagen, wann die Person zur Schule gegangen ist.


    Insofern können Klassiker auch wieder entdeckt werden. Jean Paul war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschwunden, ebenso Hölderlin. Beide wurden m.W. von Stefan George wieder entdeckt. (Der seinerseits ein schriftstellerische Institution war, aber heute seinen Klassikerstatus zu verlieren beginnt.)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Diese Aussage finde ich einerseits unlogisch und andererseits würde ich ihr nicht zustimmen. Es gibt Klassiker, die Moden überleben und zu jeder Zeit gelesen werden, weil sie eben diese große, moden- und zeitenüberdauernden Themen in besonderer Weise darzustellen vermögen.


    Wenn wir, ganz vorurteilslos, "Krieg und Frieden" und "Bleak House", zwei meiner Lieblingsbücher, betrachten, was ist denn so besonderes daran? Was behandeln sie an großen, moden- und zeitenüberdauernden Themen denn? "Bleak House", um nur bei einem Buch zu bleiben, beschreibt den Werdegang einer jungen Frau und den Untergang des alten Adels. Inwiefern ist dies groß oder modeübergreifend? Adel gibt es ja heutzutage prinzipiell gar nicht mehr. Eigentlich dürfte man Dickens nicht mehr lesen, denn Klassenkämpfe gibt es heutzutage, zumindest in westlichem Europa nicht mehr. Schauen wir uns "Werther" an: ein hypersensibler Mensch begeht Selbsmord. Was ist daran so besonderes? Das Thema taucht alljährlich in hunderten Büchern vor.

    Klassiker sind nichts anderes wie Bücher, die nicht vergessen wurden. Ob berechtigt oder nicht, hängt stets vom Einzelfall ab. Viele sind sicherlich sehr gut, kunstvoll geschrieben und mit tiefen Einsichten. Aber viele wurden ebenso vergessen im Laufe der Zeit. Wer liest zum Beispiel heutzutage noch Chateaubriand, damals einen der größten Autoren? Das gleiche wird auch mit unserer LIteratur eines Tages passieren: das meiste wird (zurecht) vergessen, ein paar bleiben übrig. Aber ob wirklich die besten?



    Die einzige Gemeinsamkeit, die ich dabei erkennen kann, ist dass es gedruckt wurde.


    Das ist leider die vielerorts anzutreffende Sicht: alles moderne, vor allem das, was gut verkäuflich ist, muß Schund sein. Nur die alten zählen. Aber das stimmt nicht. Ich empfehle Dir dringend die Lesung einiger Biografien und Briefe aus der Zeit um Jahrhundertwende. Da wurde Dickens, Brontes Schwestern, Schiller, teilweise sogar Goethe, auf dieselbe Stufe gestellt, wie wir, modernen Menschen, heute Rowling und Bohlen stellen würden.


    Daß wir heute in Ehrfurcht auf die Großen schauen, hat eigentlich nur damit zu tun, daß ihre Werke Jahrhunderte, oder sogar Jahrtausende, überlebt und dadurch geadelt sind. Wer sichert uns, daß unsere Nachfahren in dreihundert Jahren nicht ebenso auf diese, heutzutage von allen Kustbefliessenen so verabscheuten, Werke schauen werden?


  • P.S. Aber evtl. kann ein Literaturwissenschaftler das etwas fundierter begründen, warum ich mit dieser Hypothese dann hoffentlich doch nicht recht haben werde.


    Das sich die Literaturwissenschaftler nicht einig sind, welcher der unzähligen Interpretationsansätze der vorherrschende sein sollte, wird sich immer jemand finden, der jede aussage belegt oder negiert.


    Ich habe selbst während des Studiums feministische Theorien auf Shakespeare anwenden müssen und fand das arg grenzwertig. Mit ein wenig goodwill geht da leider sehr viel.


  • Klassiker sind Texte, die auch nach 50, nach 250 oder 2'500 Jahren ihre Leser noch zu neuen Interpretationen, zu neuen Gefühlen oder Gedanken verhelfen. Das hat mit Komplexität wenig zu tun. Karl Mays Schundromane, z.B. das "Waldröschen" erfüllt alle Kriterien, die aufgezählt wurden: "komplex oder über mehrere Generationen, aktuelle gesellschaftliche und/oder poitische Themen aufgreifend". Dennoch wird niemand diesen Text im Ernst "klassisch" nennen wollen.


    Meine "Definition" war auch nicht erschöpfend gedacht, sondern exemplarisch. Es fehlten auch Aspekte des Sprachgebrauchs beispielsweise, weshalb auch Shades of Grey sicherlich den Ansprüchen eines Klassikers alleine deshalb schon nicht genügen wird.

  • Ja, das wird passieren, aber von den 150 unterschiedlichen Titeln, die sich auf der Spiegelbestsellerliste im Laufe eines Jahres so ansammeln, in 10 Jahren wären das 1500 Titel, werden sich eben nur 3 als Klassiker durchsetzen. Das können auch Titel sein, die heute belächelt werden. Aber der Rest ist halt vergessen.


    Gruß, Thomas


    Das ist genau das, was auch in der Vergangenheit stets passierte. Am Ende sind nicht immer die Bücher geblieben, die damalige Zeitgenossen für die besten gehalten haben. Ganz im Gegenteil.