Flavia ist an Bord eines Ozeandampfers und todunglücklich - sie befindet sich auf dem Weg nach Toronto, wo sie Miss Bodycotes Female Academy besuchen soll, die Internatsschule, auf der schon ihre Mutter war. Für Flavia fühlt es sich an wie eine Verbannung, und schon auf dem Schiff fehlt ihr alles: Buckshaw, ihr alter Vertrauter Dogger, die mütterliche Mrs. Mullet, ihr heißgeliebtes Fahrrad Gladys, ihr immer trauriger Vater und natürlich ihr herrliches Chemielabor. Sogar beim Gedanken an ihre ätzenden Schwestern wird ihr ganz wehmütig.
Aber Flavia hat keine andere Wahl und muss sich diesem neuen Lebensabschnitt stellen. Sehr vertrauenerweckend sieht der alte Kasten, in dem die Schule untergebracht ist, bei der Ankunft am späten Abend nicht aus, ein ehemaliges Nonnenkloster mit düsterer Ausstrahlung. Dass noch in derselben Nacht eine Leiche, in einen Union Jack eingewickelt, in Flavias Zimmer aus dem Kamin plumpst, trägt natürlich nicht gerade dazu bei, diesen Eindruck zu revidieren, allerdings geht Flavia nach dem ersten Schrecken das Herz auf: ein neuerlicher ungeklärter Todesfall, womöglich gar ein Mord?
Doch auch ohne die verkohlte Leiche gäbe es genügend Merkwürdiges und Gewöhnungsbedürftiges bei Miss Bodycote's. Im Lehrerkollegium finden sich einige schillernde bis seltsame Gestalten, darunter eine Frau, die beinahe wegen angeblichen Mordes an ihrem Ehemann gehängt worden wäre. Die Mitschülerinnen sind auch ein schwer zu durchschauendes Häuflein, was nicht alleine daran liegt, dass Flavia die Gesellschaft von so vielen (ungefähr) Gleichaltrigen nicht gewohnt ist. Und das Geheimnis, das Mrs. Fawlthorne, die Schulleiterin, Flavia eines Tages enthüllt, ist auch nicht gerade etwas, was man von einem braven Mädcheninternat erwarten würde.
Es gibt also für Flavia viele Eindrücke und Neuerungen zu verarbeiten. In diesem Band stürmt sehr viel auf die resolute kleine Hobbychemikerin ein, so dass selbst sie, die für ihr Alter immer noch ein bisschen zu schlau und abgeklärt wirkt, gelegentlich überfordert ist. Viele neue Menschen, ein ganz fremdes Land, in dem sie mit ihrem englischen Akzent die putzige kleine Exotin ist, Autoritätspersonen, die sich ganz anders verhalten als erwartet, schreckliches Heimweh, der lange Schatten, den ihre Mutter auch an ihrer ehemaligen Schule selbstverständlich wirft und dann auch noch ein Mordfall und Gerüchte um das rätselhafte Verschwinden von Schülerinnen.
Mit Köpfchen und einem kleinen Arsenal an Tricks und Rollen, in die sie bei Bedarf schlüpft, versucht Flavia, Ordnung in dieses Chaos zu bringen und ist damit auch ohne ihr Labor und ihre alten Wegbegleiter auf ihre Art recht erfolgreich. Das Problem ist nur, dass sie bei Miss Bodycote's nicht wie zu Hause weiß, wem sie vertrauen kann und wem nicht.
Dieser Band scheint allgemein nicht so beliebt zu sein wie die anderen. Mir ging es nur teilweise so. Wie Flavia sich in einem Umfeld zurechtfinden muss, das in jeglicher Hinsicht komplettes Neuland für sie ist, schildert Bradley einfühlsam und natürlich nicht ohne seinen wunderbaren Humor, und der Mordfall ist spannend und etwas skurril (letzteres gilt auch für einen Großteil des Personals).
Nervig ist aber, dass Alan Bradley meint, noch einen Aspekt draufsetzen zu müssen, der sich schon im letzten Band abgezeichnet hat und überflüssig wirkte. Spaß, Spannung und Unterhaltung wäre aber schon ohne diesen künstlich aufgepfropften Geheimnis-Kram mehr als ausreichend geboten, zumal sich daraus auch einige Szenen ergeben, die doch hart an der Grenze zum Unglaubwürdigen entlangschrammen.
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