Helga Schubert - Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten

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    Helga Schubert ist für diesen Text 2020 mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet worden. Da war sie 80 Jahre alt und somit die älteste Teilnehmerin an diesem Wettbewerb überhaupt. Laut Wikipedia sei ihr Text


    "eine Hommage an Ingeborg Bachmanns Erzählung Das dreißigste Jahr', die mit einer Reflexion über das Aufstehen beginnt und die den Protagonisten am Ende zum Aufstehen auffordert – Ich sage dir: Steh auf und geh! Es ist dir kein Knochen gebrochen –, sagte Schubert in ihrer Dankesrede, die sie live in einer Videoübertragung von zu Hause aus hielt. Ursprünglich hätte sie den Text, anspielend auf ihr eigenes Alter und Ingeborg Bachmanns Text, Das achtzigste Jahr nennen wollen, habe die Idee dann aber verworfen".


    Dies war nicht die erste Einladung zu dem Wettbewerb. Die Schriftstellerin, 1940 in Berlin geboren, erhielt schon mal eine auf Vorschlag von Günter Kunert, das war 1980. Sie sollte ihren Ausreiseantrag zurückziehen, was sie nicht tat. So verbot man ihr die Ausreise aus der DDR nach Österreich. Begründung? Es gebe keine "deutsch Literatur". Mit dem Unternehmen "Bachmannpreis" wolle man nur das Phänomen der deutschen Literatur vorantreiben. Außerdem sah die Stasi Marcel Reich-Ranicki, der Juryvorsitzender war, als "berüchtigten Antikommunisten" an.


    Neunundzwanzig Erzählungen enthält dieses Buch - Erzählungen aus einem reichen Leben, einem deutschen Jahrhundertleben. Helga Schubert erzählt ganz unaufgeregt aus der Kinderzeit, in der ihr der Vater fehlt, der im Krieg gefallen ist, und sie die Sommer bei der Großmutter verlebt. Aus ihrem Leben in der DDR, wo sie sich erst mit Macht an den Gedanken zu gewöhnen versucht, dass dieses Leben, in einem eingemauerten Land, wirklich ihres ist. Mit 47, das war 1987, durfte sie nach Amerika. Da dachte sie, völlig verausgabt, dass sie diese wunderbare Welt nie sehen würde.


    "Es hat seine eigene Komik, dass ein E-Book-Verlag alle meine Bücher, auch die ohne Druckgenehmigung innerhalb

    der DDR-Zeit und die nach 1990 erschienenen, unter dem Label DDR-Autoren herausgibt." - (S. 60)


    Die Wendezeit, als die Mauer fiel - für mich damals eine unwirkliche Zeit, da ich mich immer wieder fragte: Passiert das gerade wirklich? Eine glückliche Zeit für die Autorin, die mehr als 14 Jahre von einem Spitzel des MfS (Deckname Adler), der ein früherer SS-Mann war, beobachtet wurde.


    Helga Schubert lässt uns teilhaben an ihren Gedanken zum Thema Heimat, an Erinnerungen an ihre Mutter, die sie nie lieben konnte und die einen größeren Raum einnehmen. Was soll man aber auch von einer Mutter halten, die ihrer Tochter erklärt, sie hätte sie nicht abgetrieben, sie während des Zweiten Weltkriegs auf die Flucht mitgenommen und sie beim Einmarsch der Russen nicht erschossen, wie es der Großvater verlangte. Und damit soll es nun gewesen sein? Mehr Ansprüche braucht sie an sie nicht stellen?

    Ich kann solche Mutter-Tochter-Probleme gut nachvollziehen. Die hat man nicht nur als Kind und streift sie als Erwachsene ab. So etwas kann einen ewig begleiten. Entweder man schafft es, für sich einen Schlusspunkt zu setzen und sein Leben weiterzuleben, oder man geht dran zugrunde. Ich freue mich, dass Helga Schubert ihren Weg gefunden hat.


    Und sie denkt übers Alter nach:


    "Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht sehr hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch immer in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz." - (S. 170)


    Glücklich, wer das von sich sagen kann.


    Glück wünsche ich auch diesem Buch, das hoffentlich sehr viele Leser*innen findet.


    4ratten

  • Freue mich riesig, da ich gerade erfahren habe, dass der dtv-Verlag ab August nach "Vom Aufstehen" zwei weitere Bücher von Helga Schubert neu rausbringt: "Judasfrauen" und "Die Welt da drinnen".

  • Es geht Schlag auf Schlag, ich freue mich für die Autorin:


    Helga Schubert - einige ihrer Erzählungsbände erschienen in der wundervollen Reihe "Edition Neue Texte" - ist mit ihrem Buch "Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten" nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021 in der Kategorie "Belletristik".

  • Anne Ich habe es auch heute Abend in einem Kulturmagazin vernommen, dass H.S. nominiert wurde.

    Das Zitat in Deiner Rezension hat mich auch sehr beeindruckt - und der Gedanke ist mir gar nicht fremd, da jeder wirklich einen Schatz in sich trägt.

    Das 3/3 des Romans hat mir am besten gefallen; die ersten beiden Drittel waren etwas schwierig, da ich eine völlig andere Sozialisation hatte und das Thema der DDR nicht wirklich meins ist (ich habe da persönliche Erfahrungen gemacht, die nicht allesamt positiv waren). Die Teilung Deutschlands spielt in Helga Schuberts Leben schon eine große Rolle, wobei das Buch nicht sehr politisch ist.

    Ab und an hatte ich aber das Gefühl, dass sie doch in mancherlei Hinsicht recht privilegiert war in dieser Zeit (je nach Wohlfeilgedanken des Systems), z.B. konnte sie reisen: Erschrocken war ich, als ich las, dass das Fernweh bei ihr erlosch, als sie keine Reiseerlaubnis mehr benötigte.

    So einige Widersprüche habe ich im Roman gefunden bzw. in ihren Sätzen gesehen. Aber ich verneige mich vor der schonungslosen Offenheit des Textes; sich selbst und den LeserInnen gegenüber!


    Meine Rezension (ich habe heute erst ausgelesen) kommt in den nächsten Tagen; ich lasse es erst mal "sacken" ;)

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Ich hoffe, es wird am WE was mit der Rezi. Ich habe heute nochmal zum 3. und letzten Leseabschnitt meine Eindrücke in der LR geäußert und vieles war dann nochmal ganz nah (habe vor 2-3 Tagen ausgelesen). Mit Abstand hat mir der letzte Teil (ab Dämmerung, glaube ich) am absolut besten gefallen: Mit diesen Geschichten konnte ich mich am meisten identifizieren, was zuvor kaum der Fall war. Sprachlich ist es ein absoluter Genuss - sie beschreibt sich selbst als "Die Formbeachterin"; das beherrscht sie par excellence! :winken:

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Eine Lebensgeschichte, die in Literatur verwandelt wird


    Helga Schubert lässt uns in ihrem autobiografischen Roman "Vom Aufstehen" durch ihr Leben in Episoden wandern; der UT lautet "Ein Leben in Geschichten". Das Buch ist (HC, gebunden) 2021 im dtv-Verlag erschienen.


    Die Autorin nennt sich selbst eine "Formbeachterin" - und das ist sie m.E. par excellence. Ich habe selten einen solch' geradlinigen, schnörkellosen, interessanten und etwas spröde zuweilen, andererseits mit einer unglaublichen Tiefe behafteten Schreibstil gelesen, in den man sich einfinden muss, der jedoch dennoch einfach zu lesen ist.


    Die "Episoden" ihres Lebens beginnen federleicht und die Szene in Großmutters Garten in der Hängematte, in der Helga Schubert als Kind in den Sommerferien las, fand ich wunderschön erzählt:


    "So konnte ich alle Kälte überleben. Bis heute." (Zitat S. 10)


    Und an einer großen Kälte mütterlicherseits mangelte es im Leben der Autorin nicht: Die Texte der einzelnen Lebensstationen erreichten mich mal mehr, mal weniger, da meine eigene Sozialisation so wenig mit der von Helga Schubert gemein hat: Sie war ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind und ein Kind des geteilten Deutschland. In der DDR aufgewachsen, wurde sie Schriftstellerin und musste sich dem System anpassen (ihre politischen Äußerungen sind spärlich; finden aber dennoch kritische Worte im Roman). Relativ priviligiert, durfte sie zuweilen ins Ausland reisen, stand jedoch unter Stasi-Beobachtung und musste zuvor eine Erlaubnis einholen. Auffallend war für mich die Aussage, dass sie nach der Wende die Reiselust verlassen hat, da sie "nicht mehr um Erlaubnis fragen musste".


    Sie lässt den Leser teilhaben an ihren Betrachtungen und Gedanken zum Winter, zur Familie, zum Älterwerden bzw. alt sein (sie ist heute 80 Jahre alt). Für die Geschichte "Vom Aufstehen" erhielt sie 2020 den Ingeborg-Bachmann-Preis und ist vollkommen zurecht nominiert für den Buchpreis der LBM.


    Fassungslos folgt man dem immer wieder aufflackernden Unvermögen ihrer Mutter, ihr Kind, also die Autorin zu lieben und diese erfahrene Ablehnung und Kälte verfolgt Helga Schubert bis zum Tod der Mutter, letztendlich ist eine Aussöhnung möglich. Die Mutter wird in Streiflichtern beschrieben und was ich las, passte überhaupt nicht zu deren Gefühlskälte, die sich allerdings bei der Enkelin wiederum eher in liebevollem Umgang zeigte. Helga Schubert arbeitete als Psychologin und ich fand die Art und Weise, wie sie mit dem Stapel Briefe ihrer Mutter umging, unglaublich gut beschrieben und die Achtsamkeit dokumentierend:


    "sie (die Autorin) stapelt die Briefe der Mutter unter orientalischen Tüchern wie in kostbaren farbigen Meereswellen - ihre Schatzkammer - in der sie nicht ertrinken muss, in der auch alles versinken kann" - so der Text, der mich sehr beeindruckte.


    Die letzten Geschichten im Buch, in denen Helga Schubert u.a. das Älter werden bzw. alt sein beschreibt, konnten mich persönlich am ehesten erreichen, da auch ich nicht mehr ganz jung bin. Hier wurde auch deutlich, dass sie ihren Lebenspartner betreut, der nicht mehr reisen kann und man erlebt sie als liebevollen Menschen. Was mich jedoch am meisten beeindrucken konnte, ist ihre Willenskraft und ihre Unbeugsamkeit; sowohl im eigenen Leben als auch im schriftstellerischen Wirken. In den elementaren Beobachtungen ihrer Texte, die sehr authentisch und schonungslos offen auf mich wirken, gibt sie dem Leser Raum zum Nachspüren und Nachdenken. Durch die sprachliche Dichte und "Formbeachtung" ein außergewöhnlicher Lebensroman, dem auch ein außergewöhnliches Leben zugrunde liegt. Ich wünsche Frau Schubert viel Glück bei der Preisvergabe der Leipziger Buchmesse, auch wenn mich der Roman nicht in allem erreichen konnte.


    3ratten:marypipeshalbeprivatmaus:

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

    Einmal editiert, zuletzt von Sagota ()

  • Danke, liebe Sagota , für Deine Buchvorstellung. Ich hatte sie im Laufe des Tages nur mal auf die Schnelle überflogen. Jetzt in Ruhe gelesen, könnte ich mich noch einmal ins Buch hineindenken.


    Ich fand ja ihre Mutter beim Lesen richtig grässlich. Allein diese drei Punkte, die sie ihr aufgezählt hat, wofür sie ihr auch noch dankbar sein sollte.

    Bei Licht besehen ist das aber vielleicht auch eine Generationensache. Es war damals eine andere Zeit, wissen wir, wie sie gelebt hat? Und dann der Krieg.

    Wenn ich da so an das Verhältnis zu meiner Mutter denke - und sie ist 43 geboren.

    Andererseits denke ich mir: Gut, sie konnte ihre Tochter nicht lieben, das ist eine Sache - aber muss sie einem kleinen Kind so was an den Kopf werfen!?!


    Irgendwann lese ich es auf jeden Fall noch einmal.

  • Liebe Anne - die Mutter fand ich auch gräßlich (im Verhalten ihrer Tochter gegenüber). Irgendwo stand auch, dass sie ebenfalls ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte, der Großmutter von Helga:

    Als es um die Sommerferien ging und die Hängematte, zu Beginn: Da habe ich gelesen, dass die Mutter keinerlei Kontakt zur Oma pflegte, aber Helga dennoch jeden Sommer bei ihr verbringen durfte....

    Ein Mysterium, diese Frau - und wirklich sehr hart und gefühllos, wie sie Helga Schubert verletzte. Später wird aber auch erzählt, dass sie (die Mutter) fand, dass Geld dazu da ist, um es auszugeben (und die alte Dame lebte nicht schlecht, war kulturell sehr interessiert, hatte 10 000 Bücher in ihrer Villa etc. pp, Reisen...

    Die Rechnungen hat wohl Helga Schubert oft beglichen (.....)

    Meine Mutter hatte auch Probleme, mit Geld gut umzugehen - sie warf es zwar nicht aus dem Fenster, aber jeder Staubsauger-Vertreter machte ein Geschäft, besonders wenn der Sauger "Vorwerk" hieß ;)

    Das führte oft zu Streitigkeiten zu Hause - und ich konnte meinen Vater gut verstehen, der dann zuweilen tobte.

    Meine Mutter hatte (Jg. 1930) auch ein Verlustgefühl aus Kriegszeiten mitgenommen, den sie wohl durch ein solches Kaufverhalten auszugleichen versuchte. Aber sie war sehr liebevoll - und ich konnte mich anfangs schlecht in die wirklich hochproblematische Tochter-Mutter-Beziehung im Buch hineinversetzen; später gelang es mir besser. Großen Respekt habe ich vor der Willenskraft der Autorin, die daran eben nicht zerbrochen ist und ihren eigenen Weg gegangen ist.

    Der Schatten der Familie hat sich vielleicht fortgesetzt? (Darüber wurde nichts bekannt, es gab sicher auch Gründe für das schlechte Verhältnis zwischen Mutter und Großmutter).

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Ich habe das Buch gerade auch ausgelesen und es hat mir wirklich gut gefallen. Ich glaube, Helga Schubert hat insgesamt mehr Geschichten geschrieben als Romane (?) - da war es wohl konsequent, diese Form zu wählen. Das Pointierte liegt ihr absolut.


    Sie erscheint in ihren Texten als eine sehr gradlinige Person, die gelernt hat, jeder Art von Pathos zu misstrauen - dennoch ist sie sehr gefühlvoll; bevor es aber zu viel wird, blitzt zuweilen ein hintergründiger Spott auf (was mir gut gefällt.. ;)).

    Mir sind, etwa in der Mitte des Buches, vor allem die beiden Kapitel Meine neuen Schuhe und Meine Heimat positiv aufgefallen, die sich mit der Zeit der "Wende" befassen und erfrischend anders sind als viele Stimmen, die ich dazu kenne.


    Ja, die Mutter - im Hauptkapitel zu diesem Thema distanziert sie sich sogar derart vom Geschehen, dass sie über sich selbst in der 3. Person schreibt : Hier schimmert sehr viel Bitterkeit durch. (Vorsichtige Vermutung: Ein Opfer von Narzissmus?)

    Helga Schubert besitzt aber wohl die Größe, auch damit fertig zu werden, ohne ihre Probleme damit zu leugnen.

  • Schön, dass Du Dich auch noch geäußert hast, Alice .


    Helga Schubert besitzt aber wohl die Größe, auch damit fertig zu werden, ohne ihre Probleme damit zu leugnen.

    Ich denke mir, dass sie für sich mit allem recht gut abgeschlossen hat. Das ein oder andere Interview habe ich mit ihr schon gesehen, und da sah ich immer eine in sich ruhende Frau, die ohne Groll zurückschaut.

  • Ist zwar schon ein Weilchen her, dass ich das Buch gelesen habe, aber rückblickend hatte ich bzw. habe ich den Eindruck, dass Literatur auch ein Ventil sein kann. Ein Ventil für erlebte Verletzungen und die offene Art der Autorin, dies zu schildern, fand ich schon bemerkenswert.

    Übrigens muss ich (im Nachhinein) auch darüber fast schmunzeln, dass die Enkelin ein gutes Verhältnis zur Großmutter hatte. Ihr gegenüber war die Mutter von Helga Schubert wohl sehr liebevoll, nachsichtig, verwöhnend - wie Großeltern das oft sind. Die Tatsache, dass ein Mutter-Tochter-Verhältnis in großer Schieflage sein kann - das Verhältnis gegenüber Enkelkindern jedoch sehr gut, gibt es wohl auch öfter. Erinnert mich an die Famileinsituation meiner verstorbenen Schwester: Hochproblematische Beziehung zeitweise mit der Tochter, mit der Enkelin hingegen "ein Herz und eine Seele" ^^

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Ich habe das Verhältnis zur Ur(glaubidoch?)enkelin nicht so positiv und "sympathisch" aufgenommen wie Du, Sagota - allerdings sicherlich auch beeinflusst durch die (nur leicht hintergründigen..) Formulierungen der Tochter:

    Für mich hat sich die (vermutet narzisstische..) Mutter in diesem Verhältnis zur so viel Jüngeren lediglich selber spiegeln wollen - da sie zu einem Verhältnis auf Augenhöhe nicht in der Lage war, war der große Altersunterschied zusätzlich passend.

    Ein wirkliches Verstehen und Fördern war da eventuell gar nicht im Spiel.. (Sag ruhig, dass ich ihr Unrecht tue.. ;))


    Auffällig finde ich, dass die "literarische Qualität" der Texte, bei denen es nicht um die Mutter geht, (in meiner Kurzzeit-Erinnerung..) durchweg höher erscheint - daher geht Deine Vermutung mit dem "Ventil" eventuell in die richtige Richtung. Vielleicht ist ihr sogar selbst aufgefallen, dass sie da sehr.. emotional abgelenkt war (schließlich ist die Frau ein Profi.. ;) ) und hat daher dann Kunstgriffe wie das Verwenden der 3. Person angewendet?!


    Positiv gesehen, gehört dieser Aspekt des Lebens der Autorin zu einem vollständigen Bild einfach dazu - darum ist es richtig, ihn nicht auszuklammern; er hat sie stark mit geprägt, glücklicherweise aber eher hellsichtig und selbständiger gemacht als allgemein verbittert.

  • Deinem letzten Abschnitt würde ich mich absolut anschließen - für mich ist sie lange mit Wunden, die diese Mutter ihr schlug, durch ihr Leben gelaufen. Sie sprach irgendwo auch von "später Versöhnung" bzw. Aussöhnung, glaube ich - interessantes Wort übrigens im Kontext zu Mutter-Tochter-Beziehungen. Da müsste es ja dann eher "Vertochtern - oder Austochterung (o.s.ä. ;) heißen .... Wie auch immer, selbst diese letzte Annäherung hatte ihre Grenzen: "Ich danke dir dafür, dass du mich geboren hast". Für mehr als das hatte Helga Schubert auch nicht zu danken - leider!

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Gestern Nacht oder war es doch schon heute in der Früh habe ich die letzen Seiten des Buches gelesen.


    Vieles was oben geschrieben wurde kann ich bestätigen. Die dichte Sprache. Kurze prägnante Sätze.

    Als reine Biographie würde ich das Buch nicht bezeichnen, dafür gibt es viel zu viele Lücken. Es fehlt auch die Auseinandersetzung mit den Menschen in ihrem Leben.

    Mir kam es eher vor als eine "Episodenbiographie", falls es diese Gattung noch nicht gibt, dann hat Helga Schubert sie begründet.


    Die Abneigung ihrer Mutter bis in die letzten Atemzüge wird schon herausgearbeitet, die Distanz, die bis zur Aufgabe des Ichs führt. Eine notwendig Distanz, damit das Ich nicht zerbröckelt.


    Mich hätte auch interessiert, wie der Blick der Urenkelin auf die Urgroßmutter ist, wie das Verhältnis innerhalb der restlichen Familie zueinander ist. Was das Aufwachsen in diesem Umfeld mit der Familiendynamik macht.


    Die Repressionen eines, aus privilegierter demoktatischer Sicht, irren Systems, wie sie sich arrangiert und dennoch dagegenstemmt sind gut beschrieben. Die Willkür der zentralen Mächtigen. Die Gläubigen, die gar nicht wirklich glauben.


    Das vierte Gebot fand sie so wichtig, aber durch einen Erinnerungsfehler weil sie Liebe und Ehre verwechselt hat kann sie ihr Bild zu ihrer Mutter ändern. Sie fühlt sich nicht mehr schlecht, weil sie nicht lieben kann, weil es in der Bibel anders steht?

    Ich fand es interessant, dass sie sich so an ein Dogma klammert, obwohl sie ja das politische Dogma ihres ehemaligen Staates völlig abgelehnt hat.


    Ich habe das Buch gerne gelesen, sitze nun da und würde mir aber noch mehr wünschen. Mehr Selbstreflexion, evt. auch mehr Auseinandersetzung oder inhaltliche Diskussion mit anderen Literaten. Sie hat Jandl und Mayröcker erwähnt, das waren sicher spannende Diskussionen. Sie wollte es nicht mitteilen, nur Gusto darauf machen auf weitere Episoden ihres Lebens.

  • Normalerweise lasse ich mir für so eine Sammlung von Geschichten Zeit, dieses Mal konnte ich fast nicht aufhören. Jede einzelne von hat mehr offenbart als es manche Biografie für mich getan hat.


    Es gab einige wiederkehrende Themen, aber das, was mich beim Lesen am meisten beschäftigt hat, war das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter. Ich hatte den Eindruck, als ob Helga Schubert von ihrer Mutter immer wieder zurückgestoßen wurde, obwohl die vielleicht lieber ein anderes Verhältnis zu ihrer Tochter gehabt hätte. Aber die eigenen Erlebnisse und auch die Persönlichkeit haben das nicht zugelassen.


    Immer wieder erzählt Helga Schubert auch davon, wie es für sie als Schriftstellerin in der DDR gewesen ist. Ihr Horizont wurde beschränkt, ihre Gedanken waren umso freier. Trotzdem habe ich wenig Kritik in ihren Zeilen gelesen, eher ein "so war es eben damals". Aber dass sie damals keine negativen Gefühle über ihre Lage zugelassen hat, kann ich mir nicht vorstellen.


    Ich habe mir zu jeder Geschichte einen Satz notiert und diese Notizen vor meiner Rezension nochmal durchgelesen. Das hat die Lektüre noch einmal lebendig werden lassen. Aber ich kann mir auch durchaus vorstellen, das Buch mehr als einmal zu lesen.

    4ratten :marypipeshalbeprivatmaus:

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.