Lisa See - Der Seidenfächer

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    1823 wird Lilie in einem kleinen chinesischen Bauerndorf als drittes Kind ihrer Familie geboren, in einer Zeit, in der sich die chinesische Bevölkerung stark von ihren alten Traditionen leiten lässt und Mädchen nichts wert sind.


    Als es Zeit wird, der Siebenjährigen nach althergebrachtem Brauch die Füße zu binden, damit sie so winzig werden, wie es dem Schönheitsideal der Zeit entspricht, entdeckt die Heiratsvermittlerin, die das "Potential" des Mädchens beurteilen soll, Anzeichen dafür, dass Lilie für eine gute Partie bestimmt ist und nicht, wie üblich, mit mehreren "Schwurschwestern" einen Freundschaftsbund schließen soll, der bis zur Ehe dauert, sondern eine lebenslange Verbindung mit einem anderen Mädchen eingehen soll.


    So begegnen sich Lilie und Schneerose, das Mädchen aus dem reichen Dorf Tongkou, zum ersten Mal und schließen augenblicklich Freundschaft. Gemeinsam erdulden sie die grässliche Tortur des Füßebindens, die Lilies jüngere Schwester nicht überlebt, verbringen viel Zeit miteinander in bei Lilies Familie, erlernen die geheime Nushu-Schrift, die nur Frauen lernen, und schreiben sich, wenn sie nicht zusammen sein können, geheime Botschaften auf einen Seidenfächer, den sie hin und her schicken.


    Der Tradition entsprechend werden die Mädchen im Teenageralter verheiratet. Während Lilie wie vorhergesehen einen Sohn aus höchst angesehener Familie ehelicht, muss sich Schneerose mit einem Metzger begnügen, dem niedersten aller Berufe.


    Und Lilie erfährt, dass Schneerose ihr nie die ganze Wahrheit über sich und ihre Familie erzählt hat. Schwer enttäuscht wendet sie sich von der Freundin ab ...


    Ein wunderschön erzähltes Bild dieser längst vergangenen Zeit mit ihren überkommenen Traditionen, denen man blind folgte. Lilie ist keine Protagonistin, wie es sie in historischen Romanen und gerade in Zeiten großer Unterdrückung der Frau häufig gibt, keine, die sich beherzt über die Sitten und Gebräuche ihrer Gegenwart hinwegsetzt, sondern sie ordnet sich den Traditionen unter, ist ganz ein Kind ihrer Zeit und genau deshalb so authentisch.


    Im zweiten Teil verliert der Roman leider ein wenig an Schwung. Während die Kindheit, insbesondere die Zeit des Füßebindens und der keimenden Freundschaft zwischen den beiden Mädchen, mit vielen Details geschildert ist, wird später vielleicht etwas zu stark gerafft und gesprungen, doch zum Ende hin holt das Buch wieder auf.


    Auf jeden Fall lesenswert.


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Hallo,


    bin im letzten Fünftel des Romans und kann Valentines Bewertung nur bestätigen: Gerade dadurch, dass sich die Heldin Lilie ganz den Konventionen unterordnet, entsteht ein authentisches Bild, denn diese ganzen rebellierenden Heldinnen in den historischen Romanen entsprechen ja in der Regel nicht dem, was das typische Frauenleben ihrer Generation und Region ausmacht.
    In keinem anderen Buch sind mir bisher auch nur annähernd die Zwänge klar geworden, die den chinesischen Frauen damals auferlegt wurden. In vielem ist die Stellung der Frau auch in unserem Kulturkreis massiv eingeschränkt worden, aber diese körperliche Demütigung des Füße einbindens (das von Seiten der Chinesinnen sicher nicht so gesehen wurde) ist mir in ihrer Drastik erst hier klar geworden. Es drängt sich mir auf, dass man nicht um eines Schönheitsideals willen die Füße der chinesischen Mädchen brach und verstümmelte, sondern genau, wie man Geflügel die Schwungfedern stutzt, um sie nämlich einzusperren und jede Selbstbestimmung zu verwehren.
    Genauso wurde den Mädchen von klein auf eingeimpft, dass sie zu nichts anderem wert waren, als Jungen zu gebären. Eins der größten Unglücke war daher, wenn ein Mädchen zur Welt kam.
    Dieses Buch ist gerade deshalb, weil die Heldin keine Rebellin ist, besonders aufwühlend.


    Daneben erfährt man noch viel über den Lebensalltag im ländlichen China des 19. Jahrhunderts und auch über den großen Taiping-Aufstand, nach Gernet: Die chinesische Welt, die größte soziale Revolution in China bis zu Mao.


    Absolut lesenswert!


    HG
    finsbury

  • Einen besonderen Aspekt fand ich dabei die Tatsache, daß es diese besondere Sprache der Frauen "Nushu" gab, von deren Existenz die Männer nichts wussten und was den Frauen die Möglichkeit gab, während sie immobil mit gebundenen Füßen in den Behausungen festsaßen, inform von Stickereien oder Handarbeiten mit der Mustersymbolik zu kommunizieren...
    Sehr aufschlußreich finde ich auch ihren historischen Roman mit eigenem familiären Hintergrund über die Entstehung von Chinatown... heißt "Am goldenen Berg" und ist auch lesenswert.


    Bücherfresserchen

  • Meine Meinung:


    Lilie kommt im Jahr 1823 als Tochter einer armen und unbedeutenden Bauernfamilie aus dem Dorf Puwei im Landkreis Yongming zur Welt. Schon in ihrer frühesten Kindheit muss sie erfahren, dass Mädchen in China als wertlose Äste einer Familie angesehen werden, als Kinder, die nur für die Heirat in eine andere Familie aufgezogen werden. Deshalb bringt Lilies Mutter ihren Töchtern viel weniger Liebe und Fürsorge entgegen als ihren wertvollen Söhnen. Die Anzahl der Söhne bestimmt das Ansehen einer Frau, und so ist es die Hauptaufgabe jeder Frau, möglichst viele Söhne zur Welt zu bringen.


    Lilies Schicksal ändert sich jedoch, als eine Heiratsvermittlerin feststellt, dass ihre Füße ihr eine außergewöhnlich gute Heirat ermöglichen könnten. Wegen ihres besonders hohen Fußgewölbes könnten ihre Füße die vollkommensten Lilienfüße des Landkreises werden. Dies wird Lilie für Ehemänner besonders begehrenswert machen, denn kleine Lilienfüße gelten als Schönheitsideal. Sie und ihre Familie bekommen so die Möglichkeit eines beträchtlichen sozialen Aufstiegs.


    Und noch eine Änderung ergibt sich für Lilie: sie bekommt in Aussicht gestellt, einen laotong-Bund einzugehen. Dies ist ein lebenslanger Bund zwischen zwei Mädchen aus unterschiedlichen Dörfern. So lernt sie Schneerose kennen, eine Tochter aus reichem Hause aus dem Dorf Tongkou, die fortan die wichtigste Person in Lilies Leben sein soll. Es entwickelt sich eine außergewöhnlich tiefe und innige Mädchenfreundschaft, beide lernen auf verschiedenste Arten voneinander und schwören einander trotz ihrer Standesunterschiede eine lebenslange Freundschaft. Doch Schneerose hat ein Geheimnis, das ihren engen Bund auf eine harte Probe stellt…


    „Der Seidenfächer“ ist ein äußerst berührender Roman über eine Kultur, in der das Leben einer Frau sehr hart ist und voller Entbehrungen und Schmerzen verläuft. Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die ein langes und erfülltes Leben lebt, die jedoch auch unter der Unterdrückung und den Zwängen ihres Geschlechts zu leiden hat. Ihr Leben lang sehnt sie sich nach Liebe und inniger Vertrautheit, doch befindet sie sich stets in einem Gewissenskonflikt: sie muss sich entscheiden zwischen einer solchen wahren und tief empfundenen Liebe und der Gehorsamspflicht und Tugend einer Frau, die ihr Schutz und Sicherheit bieten.


    Die Ich-Erzählerin Lilie legt in diesem Roman eine Art Lebensbeichte ab und bittet darin die ihr nahe stehenden Menschen um Vergebung für ihre Fehler. Ihre Erzählung beginnt sie in ihrer frühesten Kindheit, in der sie leidvoll begreifen muss, dass Mädchen von ihrer Familie oft lieblos behandelt werden, da sie im Gegensatz zu Söhnen als wertlos gelten. Doch Lilie fügt sich diesem Schicksal, erträgt beinahe klaglos das grausame Ritual des Füßebindens und bemüht sich nach Kräften, eine gute Tochter zu sein. Auch später in ihrer Ehe verhält sie sich gehorsam und schicksalsergeben, was ihr in ihrem neuen, reichen Heimatdorf viel Respekt unter den Frauen einbringt. Sie bringt Söhne zur Welt, gilt als gute Ehefrau und kümmert sich aufopferungsvoll und pflichtbewusst um ihre Familie. Auf der Strecke bleibt dabei die einzige Person in Lilies Leben, für die sie wirklich tiefe Gefühle hegt…


    Die Autorin beschreibt eindringlich und anschaulich die Traditionen und Rituale in den Dörfern Chinas im 19. Jahrhundert und verdeutlicht die geringe Stellung der Frau zu dieser Zeit.
    Zudem erfährt der Leser auch von der Existenz einer Sprache, die nur den Frauen bekannt war und die vor den Männern weitgehend geheim gehalten wurde: Nushu. Diese Sprache ermöglichte den Frauen, sich mit ihren Familien auszutauschen und ihren Müttern und Schwestern ihr Leid zu klagen, das sie in ihrer neuen Familie ertragen müssen, ohne dass die Männer mitlesen. Nushu blieb bis in die heutige Zeit erhalten, wie man in dem aufschlussreichen Nachwort der Autorin erfährt.


    Dieses Nachwort weist auch auf eine sorgfältige Recherche hin, denn die Autorin hat für ihr Buch sogar eine Reise in die ländliche und unwirtliche Gegend Chinas, in der die Geschichte spielt, auf sich genommen. Der Roman vermag es somit nicht nur, den Leser aufzurütteln, sondern auch Einblicke in eine fremde Kultur zu vermitteln.


    Gut gefallen haben mir auch die Übersetzungen von überlieferten Nushu-Liedern und Geschichten, die sich die Chinesinnen damals untereinander vorzusingen oder zu erzählen pflegten und die ihnen Halt und ein Gefühl der Gemeinschaft gaben.


    Wenn eine ganze Lebensgeschichte auf weniger als 400 Seiten gepackt wird, liegt es in der Natur der Sache, dass sich einige größere Zeitsprünge und Verknappungen nicht vermeiden lassen. Hier hätten der Geschichte einige zusätzliche Seiten gut getan. Doch dies ist auch schon mein einziger Kritikpunkt.


    Fazit: Ein schönes und mitreißendes, häufig anrührendes Buch über eine tapfere Frau, die sich um ihrer Sicherheit Willen den Konventionen ihrer Zeit fügt. Es bietet einen tiefen Einblick in eine vergangene Kultur und ich möchte es jedem, der sich auf die chinesische Kultur des 19. Jahrhunderts einlassen möchte, ans Herz legen.


    4ratten und :marypipeshalbeprivatmaus:

    :lesen: Joe Navarro - Menschen lesen

  • Für mich war dieses Buch eine sehr intensive Erfahrung, obwohl ich es auf Englisch las. Lilys und Snow Flowers (wie die beiden bei mir hießen) Geschichte hätte wirklich ausführlicher sein dürfen, da stimme ich Erendis zu. Aber auch so waren die Einblicke in die chinesische Vergangenheit und ihre besonderen Traditionen sehr aufschlussreich. Vor allem der Brauch des Fußbindens war spannend geschildert. Abgesehen von den Schmerzen hat es viel weit reichendere Folgen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Die Mädchen und jungen Frauen konnten kaum noch laufen und waren gezwungen, die meiste Zeit von der Außenwelt abgeschieden in ihrem Zimmer zu sitzen, sich mit Handarbeiten zu beschäftigen und als einzige Abwechslung Besuch von ein paar Freundinnen zu bekommen. Interessant war, dass die Prozedur von Lily sowohl aus ihrer Sicht als Kind und als Mutter geschildert wurde. Dabei wird deutlich, wie sich die Einstellung dazu im Lauf der Jahre ändert und sich das traditionelle Denken durchsetzt. Andererseits hatten die Mütter natürlich gar keine Möglichkeiten, sich gegen die alte Tradition zur Wehr zu setzen.


    Die Wahl des Bräutigams, auf die das Mädchen keinen Einfluss hat, und der Ablauf von der Hochzeit bis hin zur ersten Schwangerschaft ist für die meisten Frauen der westlichen Welt unvorstellbar. Chinesische Frauen hatten damals keinen Stellenwert und wurden entsprechend behandelt. Selbst als wohlhabende Tochter, die einen "Ersten Sohn" geheiratet hatte, waren sie ständig der Willkür der ersten Frau im Haushalt ausgeliefert. Die eigene Familie war dann keine Anlaufpunkt mehr, um so wichtiger war es, eine Bezugsperson zu haben, die ihnen ein Leben lang nahestehen konnte, wie es bei Lily und Snow Flower war. Sie durchleben einen Reifeprozess, der durch starke innere und äußere Einflüsse geprägt ist.


    Für diese sehr sachlich und doch gefühlvoll erzählte Geschichte gibt es von mir


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

  • Hab das Buch erst vor kurzem auf englisch gelesen und war ebenfalls sehr begeistert :smile:
    Eine spannende Zeit und eine berührende Geschichte, die im Gedächtnis bleibt.

    Ein Buch ist ein Freund, der deine Fähigkeiten aufdeckt; <br />es ist ein Licht in der Finsternis und ein Vergnügen in der Einsamkeit;<br />es gibt, und es nimmt nicht.<br />&lt;b&gt;Mosche Ibn Esra &lt;/b&gt;<br /><br />:leserin: &lt;b&gt;Der An


  • Oh, schön, dass Euch das Buch auch gut gefallen hat :smile:


    :schuld:
    Dieser Thread war mir zwar nicht bekannt, aber kürzlich wurde im "Was lest ihr gerade?" über das Buch geschrieben, und da wurde ich aufmerksam. Normalerweise hätte ich es selbst so schnell nicht ausgewählt, aber die kurzen Kommentage haben mich überzeugt, dass ich es mir mal ansehen sollte. Und es hat sich als Glücksgriff erwiesen! :smile: