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Ich muss der bereits vorliegenden Rezension in sehr vielen Punkten widersprechen, angefangen von der Einordnung dieses Romans als Unterhaltungsliteratur. Für mich hätte er vielmehr in de Kategorie "Gegenwartsliteratur und Zeitgenössisches aus aller Welt" gehört, denn über reine Unterhaltung geht dieser Roman weit hinaus.
Die Handlung des Romans ist lose an die Familiengeschichte des Autors angelehnt, den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet dabei ein Foto seiner selbst als Baby, auf dem ihn seine Urgroßmutter Mehar auf dem Arm hält, die er nie bewusst kennengelernt, sondern von der er nur gehört hat.
In der Gegenwart ist der Ich-Erzähler ein Erwachsener, der zeitweise wieder zu seinen Eltern zieht, um diesen nach einer Knie-OP des Vaters beizustehen, insbesondere um den Laden, den die Eltern sich aufgebaut haben, weiterzuführen. Davon ausgehend reflektiert er seine eigene Geschichte als Kind einer indischstämmigen Einwandererfamilie in England, aber auch die Geschichte seines Vaters, der es oft nicht leicht hatte, dort Fuß zu fasssen.
Den Kontakt zu seiner Familie in Indien konnte der Ich-Erzähler als 18jähriger eher unfreiwillig pflegen, weil er auf Wunsch seiner Eltern in deren Heimat geschickt wurde, um einen Drogenentzug zu machen und sein Leben wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Dies ist die zweite Erzählebene, in der die alte Farm ins Auge des Lesers fällt, die der Erzähler nach und nach renoviert und auf der seine Urgroßmutter eine Gefangene der gesellschaftlichen Regeln ihrer Zeit und letztlich auch der eigenen Familie war.
Dies ist die dritte Erzählebene, auf der die Haupthandlung stattfindet und die für mich auch am spannendsten zu lesen war, weil ich gerne wissen wollte, was Mehar in dieser Familie passiert ist, in die sie 1929 als 15jährige verheiratet wird. Die drei Söhne der Familie werden zeitgleich mit drei Frauen verheiratet, allerdings leben die Paare nicht zusammen, sondern sehen sich nur im Dunklen in einem Zimmer, um das von der Matriarchin Mai vorgegebene Ziel zu erfüllen und einen Sohn zu zeugen. Da diese bei den Eltern im Rahmen der Brautwerbung offen gelassen hat, welche der Frauen den ältesten Sohn heiraten und damit das größte Ansehen erhalten darf, soll dieses Geheimnis vorerst auch weiter gewahrt werden, die Bräute können also jeweils nur ahnen, welcher der drei Brüder jeweils der eigene Mann ist. Mehar meint bald, "ihren" Mann erkannt zu haben, und damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf.
Das titelgebende "Porzellanzimmer" ist der Raum, in dem Mai das Porzellan von ihrer eigenen Hochzeit zur Schau stellt und in dem ihre Schwiegertöchter gemeinsam wohnen. Als dieses Porzellan zerbrochen wird und Mai selbst über die Scherben gehen muss ist dies ein starkes Symbol dafür, dass es kein Happy End geben wird - für keine/n der Beteiligten.
ZitatEine Woche später, vor einem so makellosen Himmel, dass ihr die Augen wehtun, wird Mehar im Porzellanzimmer sein und zusehen, wie Jeet die schwarz lackierten Lamellen entfernt und durch Eisenstangen ersetzt. Er wird ihr dafür keinen Grund nennen und Mehar wird nicht fragen. Sie wird schweigend zusehen, wie er die Fensterbank mit Kalkmörtel ausgießt, die Stangen abmisst und zurechtsägt, und dann wird sie die Stangen zählen, die nacheinander in den Mörtel gehämmert werden und sie einsperren. (S. 235 f.)
Hier wird die ganze Tragik von Mehars Leben deutlich - dass sie als Frau in der Gesellschaftsordnung Indiens (besonders 1929) nicht frei sein darf, sondern von ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter fremdbestimmt wird, so sehr sie auch um ihr Recht auf Selbstbestimmung kämpft.
Trotzdem ist der Roman nicht so traurig, wie das nun erscheinen mag, und das liegt an den verschiedenen Zeitebenen, die sich durch die Erzählweise (Mehars Geschichte wird in der Gegenwart erzählt, die anderen Zeitebenen in der Vergangenheit) gut unterscheiden lassen. Hier wird nämlich im Erleben des 18jährigen Erzählers deutlich, dass sich durchaus etwas geändert hat, sodass Hoffnung entsteht:
ZitatTanbir ergriff das Wort. "Es ist anders für Frauen, oder? Sie können nicht entscheiden, wohin sie gehen. Sie wachsen in einem Gefängnis auf, und dann heiraten sie in eins hinein." Auch er blickte zu meinem Zimmer mit den Eisenstäben. "Ich meine - herrje. Wenigstens haben wir das da hinter uns gelassen."
"Nicht alle Gefängnisse haben Gitter", sagte Radhika und trat ihre Zigarette mit der Sandale aus. "Und nicht jede Liebe ist ein Gefängnis." (S. 201)
Und so steht am Ende die Erinnerung an eine Liebe mit tragischem Ausgang, aber auch die daraus erwachsene Familie, die durch die Verlagerung ihres Lebens ans andere Ende der Welt ebenfalls mit Identitätsfragen, allerdings ganz anderer Art, konfrontiert wird. Ein lesenswerter Roman, der trotz des historischen Ansatzes viele aktuelle Themen berührt und nicht zuletzt dank der sprachlichen Gestaltung toll zu lesen ist - die Naturbeschreibungen des Ich-Erzählers in der Einsamkeit seines jugendlichen Exils sind einfach wunderschön.