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Aleksander Melli: Das Inselexperiment
Originaltitel: Barneregjeringen
704 Seiten, 14,95€
Inhalt
Im Frühjahr 2006 ist in Norwegen die "Kinderregierung" in aller Munde: Für eine geplante Realityshow des Fernsehsender TV7 sollen 20 Kinder zwischen 8 und 13 Jahren dabei gefilmt werden, wie sie 50 Tage auf einer Insel im Oslofjord über gesellschaftliche, politische und soziale Themen diskutieren und eigene Lösungsansätze finden.
Max, 12, wird zusammen mit seinem besten Freund Egil nach einem Vorsprechtermin ausgewählt, eines dieser Kinder zu sein. Als Nachrichten-Fan ist er politisch bestens informiert, hält sich jeden Tag mit der Lektüre zahlreicher norwegischer und englischsprachiger Print- und Onlinemedien auf dem Laufenden. Er hofft, auf der Insel auf Gleichgesinnte zu treffen und möchte sich vor allem gegen den Klimawandel engagieren.
Das Zusammenleben der Kinder auf der Insel wird zunächst durch die Anwesenheit von Erwachsenen und vor allem durch das von ihnen ersonnene "Grüngesetz" strukturiert. Bei Gesetzesbruch gibt es Punktverlust, auch ein Verlassen der Insel und damit der Sendung ist möglich.
Bereits nach einer Woche sollen die ersten Wahlen durchgeführt werden, so dass die Kinder Parteien bilden und Parteiprogramme erarbeiten müssen, um damit beim "Volk" (1000 Kinder, die per Internet alles verfolgen) punkten zu können. Die Kinder finden sich je nach politischer Gesinnung zusammen, wobei die einzelnen Programme mehr oder weniger ernsthaft sind. Doch die daraus entstehenden Konflikte sind noch harmlos zur Situation nach der Wahl, die das ganze Leben auf der Insel verändert.
Der erste Satz:
Es war ein glaubwürdiger Tag im November.
Meine Meinung
Die Idee scheint nicht unbedingt neu, aber es ist zu lange her, dass ich "Der Herr der Fliegen" gelesen habe, ich kann da keine Vergleiche mehr ziehen.
Das ist bestimmt ein Buch, das polarisiert, und auch ich bin etwas zwiegespalten.
Es kommen nicht gerade wenig Personen vor in diesem Buch, aber ich muss sagen: so richtig sympathisch war mir außer Max (und auch noch ein bisschen Egil) niemand. Ich finde auch, dass die Kinder, trotz einer Vorstellungsrunde zu Beginn, merkwürdig blass bleiben. Häufiger musste ich Namen und Vorstellung nachschlagen.
Und ich frage mich schon, ob es realistisch ist, dass 8-13 jährige Kinder über einen solchen Wortschatz und ein solches politisches Wissen verfügen wie diese hier (auch wenn sie speziell dafür gecastet wurden).
Dies gilt auch für Max, obwohl sich sein Wissen natürlich durch seine obszessive Zeitungslektüre erklärt. Max ist mir sehr ans Herz gewachsen, er ist ein engagierter Junge, der sehr unter dem leidet, was seiner Meinung nach schief läuft. Die Welt mit seinen Augen zu sehen, fand ich erschreckend, und nicht zuletzt ist das Buch natürlich ein Appell an jeden Leser. Zum Beispiel etwas gegen den Klimawandel zu tun. Zum Beispiel mal darüber nachzudenken, woher das eigene Essen herkommt und unter welchen Bedingungen es hergestellt wurde. Manchmal bin ich mir geradezu unverantwortlich/gedankenlos vorgekommen. Anhand der Figur des Max wird uns gezeigt, welche Auswirkungen unser Umgang mit dem Planeten auf ein Kind haben kann.
Das Buch war für mich mit Sicherheit kein Pageturner. Das lag auch daran, dass ich die Handlungsweisen vieler Figuren häufig nicht nachvollziehen konnte (aber gut, so ist das in der Literatur) und vor allem auch daran, dass die Handlung nach der Wahl eine Wende nimmt, die ich nicht erwartet hatte und nicht verstand. Für mich hat Melli seinen Stoff da eigentlich etwas verschenkt und ein etwas anderes Buch geschrieben, als es uns in der Beschreibung angekündigt wird.
Trotz dieser Kritikpunkte fand ich das Buch auf der anderen Seite extrem fesselnd.
Das lag zum Beispiel an der (an manchen Stellen) poetischen, bildhaften Sprache, wie man sie sonst nur in Gedichten findet. Solche Sätze finden sich besonders oft gerade an den Kapitelanfängen, an denen häufig eine Beschreibung des Tages steht (siehe erster Satz oben), was sich also als roter Faden durch das Buch zieht. Ich fand diese Sätze etwas rätselhaft, Worte, die aus ihrem normalen Kontext gerissen werden, Leerstellen, die man als Leser schließen muss.
Neben dieser Nähe zur Lyrik durch die Sprache finden sich in der Form auch dramatische Elemente wieder. Da wird das Geschehen dann in kursiv gedruckten Regieanweisungen vermittelt und anschließend das Geschehen und die Äußerungen der Figuren direkt (also Name und Doppelpunkt), ohne einmischenden Erzähler wiedergegeben. Eben wie im Theaterstück oder wie es uns im Fernsehen vorgesetzt wird, passend zum Hintergrund des Buches.
Diese Stellen haben mir gut gefallen, man wird regelrecht in das Geschehen hineingezogen und -gesogen.
Der Ich-Erzähler - denn diesen gibt es- tritt dagegen an anderen Stellen wieder umso mehr in Erscheinung. Dort macht er dem Leser ganz besonders klar, welche Rolle er spielt, nämlich dass er derjenige ist, der die Geschichte erzählt und dem Leser präsentiert. Und auch zum Beispiel mal "vorspult", wie er es nennt. Man könnte ja fast schon von einem Brechtschen Verfremdungseffekt sprechen, allerdings schafft der Ich-Erzähler dadurch Nähe zum Leser, dass er ihn konsequent mit "du" anspricht, wo man eigentlich von "man" sprechen würde, und den Leser so in die Handlung einbezieht.
Diesen Gegensatz zwischen direkt vermittelten "dramatischen" Szenen und den Passagen mit stark in Erscheinung tretendem Ich-Erzähler fand ich jedenfalls besonders interessant.
Der Schluss hat mich etwas ratlos zurückgelassen und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe. Auch nicht unbedingt das angenehmste Gefühl.
Das Buch lebt für mich von dem Spiel mit der Form und von der liebenswerten Figur Max und so wird es mir, auch wenn ich die anderen Figuren oft kalt und hart fand und die Handlung teilweise abstoßend, eher positiv in Erinnerung bleiben, so denke ich jedenfalls jetzt. Beschäftigt und nachdenklich gemacht hat es mich auf jeden Fall.
Meine Wertung